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Friedrichs Bildungsblog

„Positive Zukunftsaussichten sind für junge Menschen besonders wichtig“

Interview mit Matthias Siebert, Vorsitzender des Landesverbandes Schulpsychologie, Berlin

Bild: Matthias Siebert

Friedrichs Bildungsblog: Der russische Angriff auf die Ukraine beschäftigt die Menschen auch in Deutschland. Der Krieg in Europa rückt näher. Trauer, Betroffenheit und Sorge sind überall zu spüren. Wie sehr ist das Thema jetzt auch bei Kindern und Jugendlichen präsent?

 

Matthias Siebert: Niemand konnte sich dem ersten Schock entziehen, auch Kinder und Jugendliche nicht. Wie schon in der Corona-Pandemie sorgen viele unterschiedliche Informationskanäle für eine Flut an Bildern und Videos, die beängstigen. Wir sehen auch, wie Menschen unterstützen, Spenden sammeln und Familien gemeinsam an Demonstrationen teilnehmen. In den meisten Familien wird das Thema sehr präsent sein. Im besten Fall schauen Eltern und Kinder gemeinsam altersgerechte Kindernachrichten. Jugendliche diskutieren in ihrer Peergroup, erleben das Gefühl von Hilflosigkeit, Wut und Trauer, zeigen sich solidarisch mit den Menschen in der Ukraine.

 

Sollte das Thema nun auch in unseren Schulen zur Sprache kommen, sollten die Inhalte des Lehrplans für den Moment in den Hintergrund rücken? Weltpolitik statt Rechtschreibung - ist das die momentane Aufgabe der Schule? Oder sollten Lehrerinnen und Lehrer erst einmal abwarten, bis Schülerinnen und Schüler das Thema selbst ansprechen?

 

Das Thema ist spätestens seit dem 24.02. in den Schulen präsent. In den zwei Jahren Pandemie mussten viele Schulen mit dem Lehrplan flexibel umgehen. Individuelle Lernrückstände und psychosoziale Auswirkungen mussten berücksichtigt werden. Bezogen auf die Ukraine-Krise wird in der Schulgemeinschaft der Grad der Betroffenheit, sowie die Bedürfnisse sich damit auseinanderzusetzen, ebenfalls sehr unterschiedlich sein. Meine Erfahrungen in der Krisenintervention zeigen, dass regulärer Unterricht von vielen Schülerinnen und Schülern eingefordert wird, um auf andere Gedanken kommen zu können. Dennoch braucht es die Anerkennung der schwierigen Lage und bei Bedarf den Raum für entlastende Gespräche. Ich empfehle den schulinternen Krisenteams, einen Kreis der Betroffenheit zu erstellen. Diese visuelle Methode setzt all jene aus der Schulgemeinschaft in den Mittelpunkt, die unmittelbar von der Krisensituation betroffen sind. In der Nähe des Kreiszentrums werden alle, die einen persönlichen Bezug zur Ukraine haben, erfasst. In den Fokus müssen auch die Personen mit Fluchterfahrungen und anderen jüngsten belastenden Erfahrungen gesetzt werden. Wie in der aktuellen Corona-Krise sind auch hier mehr oder weniger alle betroffen. Dies sollte im Kreis der Betroffenheit veranschaulicht werden. Mit dem Schaubild können weitere Maßnahmen, zum Beispiel gezielte Gesprächsangebote, geplant und veranlasst werden.

 

Wie können Lehrerinnen und Lehrer über Krieg sprechen? Worüber sollten sie jetzt mit ihren Schülerinnen und Schülern sprechen?

 

Lehrkräfte können eine differenzierte Auseinandersetzung mit dem Krieg bieten, vor allem bei älteren Schülerinnen und Schülern. Wie gesagt, die Informationsflut ist riesig. Hier zeigt sich noch einmal, wie wichtig Medienkompetenz ist. Lehrkräfte können zum friedlichen Debattieren einladen. So kann die Bedeutung von Diplomatie oder Alternativen zum Wettrüsten erörtert werden. Hier bietet sich der Raum für Kommunikation, Kollaboration, kritisches Denken und Kreativität. Gefühle können in einem morgendlichen Gefühlskreis besprochen werden. In einer bewussten Auseinandersetzung mit den unterschiedlichen Gefühlen kann geklärt werden, ob wir Mitgefühl empfinden, mitleiden oder Sorgen haben, dass der Krieg zu uns kommen könnte.

 

Und wie sollte das abhängig vom Alter der Kinder und Jugendlichen, speziell auch in den Grundschulen geschehen?

 

Ich gehe davon aus, dass die pädagogischen Fachkräfte in den Schulen viel Erfahrungen mit einer altersgerechten Kommunikation haben. Es wird bei jüngeren Kindern vor allem dann kompliziert, wenn es in der Familie viele Ängste vor einer Kriegsbeteiligung Deutschlands gibt und diese ungefiltert bei den Kindern ankommen. Diese Ängste werden auch in die Schulen hineingetragen. Die Schule kann hier ein Gegengewicht herstellen. Sie kann aufzeigen, dass wir alle mit der Situation unterschiedlich umgehen, mitfühlen nicht bedeutet, mitleiden zu müssen, dass es in Ordnung ist, den Geburtstag einer Mitschülerin zu feiern, dabei fröhlich zu sein und zu lachen.

 

In unseren Schulen gibt es zahlreiche Kinder und Jugendliche mit ukrainischer und russischer Herkunft, die möglicherweise ja besonders betroffen sind. Wie können speziell diese Schülerinnen und Schüler unterstützt werden? Wie kann Konflikten vorgebeugt werden?

 

Leider gibt es bereits erste Angriffe gegenüber Schülerinnen und Schülern mit russischer Herkunft. Immer wieder wurden Konflikte aus anderen Ländern in die Schule hineingetragen. Grundsätzlich muss hier ein eindeutiges Signal zum friedlichen Miteinander eingefordert werden. Kinder und Jugendliche, die einen persönlichen Bezug zu Russland haben, können sich in einem Loyalitätskonflikt befinden, vielleicht vertrauen ihre Eltern der russischen Berichterstattung, vielleicht schämen sie sich für das Vorgehen der Regierung ihres Heimatlandes, in jedem Fall sind sie nicht für den Krieg verantwortlich. Schule muss ein sicherer Ort für alle sein.

 

Nicht nur viele Erwachsene, auch Kinder und Jugendliche wollen den Menschen in der Ukraine helfen. Inwiefern sollten unsere Schulen das Anliegen fördern?

 

Initiativen aus der Schülerschaft sollten maßvoll begleitet und gefördert werden. Häufig ist es eine Bewältigungsstrategie, aus dem Gefühl der Ohnmacht und Hilflosigkeit in Wirksamkeitserfahrungen zu kommen. Es gibt Schulen in Deutschland, die eine ukrainische Partnerschule haben und damit einen persönlichen Bezug nutzen können.

Geflüchtete ukrainische Kinder und Jugendliche werden jetzt in Deutschland zur Schule gehen. Die Hilfsbereitschaft der Schülerinnen und Schüler sollte vor allem hier hingelenkt werden. Wieder mal wird es darum gehen, Menschen willkommen zu heißen und sie in die Schulgemeinschaft zu integrieren.

 

 

Auch für unsere Schulen, auch für die Lehrerinnen und Lehrer ist die politische Lage eine Krisensituation. Wie können sie damit umgehen? Welche Unterstützung benötigen sie selbst in einer solchen Situation?

 

Die aktuelle politische Lage kommt jetzt auf eine bestehende Krisensituation obendrauf. Abgesehen von der Klimakrise, ist es doch so, dass wir uns seit zwei Jahren Pandemie in einer außergewöhnlich langanhaltenden Krisensituation befinden. Viele pädagogische Fachkräfte und Schulleitungen sind bereits seit langem an der Belastungsgrenze. Viele sind der Krisen müde und befinden sich in einem Modus, nur noch zu funktionieren. Immerhin reden wir mittlerweile vermehrt über die psychosozialen Auswirkungen von Krisen. Begrifflichkeiten wie Resilienz, Stressbewältigung und Coping-Strategien sind alltäglich geworden. Für die eigene Psychohygiene Sorge zu tragen, ist nicht einfach. In der Traumatherapie-Ausbildung kommt der eigenen Psychohygiene eine besondere Bedeutung zu. Hier kann man von den Profis lernen, wie wichtig es ist, sich Raum und Zeit für sich zu nehmen, um Menschen in der Not Halt geben zu können. Intervision im Kollegium und Supervision durch die Schulpsychologie können hier hilfreich sein, ins Gleichgewicht zu kommen. Umso wichtiger ist es jetzt, die Ressourcen in der Schulpsychologie zu stärken. Deutschland ist bei den Versorgungszahlen im internationalen Vergleich eher Schlusslicht. Dieses Jahr feiert der Berufsverband Deutscher Psychologinnen und Psychologen 100 Jahre Schulpsychologie unter dem Motto: Mehr Psychologie in die Schulen.

 

Corona, Krieg, Klimawandel - die Gegenwart erscheint problembehaftet, der Zukunftsoptimismus zu schwinden. Wie können Erfahrungen aus schwierigen Zeiten positiv genutzt werden, etwa um die Resilienz junger Menschen zu fördern?

 

Positive Zukunftsaussichten sind für junge Menschen besonders wichtig. Im Moment erscheint vieles sinnlos. Junge Menschen mussten zum Schutz vulnerabler Gruppen in entscheidenden Entwicklungsphasen auf Abstand gehen. Das erschreckende Ergebnis sind vermehrte psychische Auffälligkeiten, Schuldistanz und Suizidalität bei Kindern und Jugendlichen. Mit dem Krieg in der Ukraine erleben wir neben den Ängsten auch Zusammenhalt, Hilfsbereitschaft und Koexistenz. Jede und jeder kann nur für sich selbst herausfinden, wozu die Erfahrungen aus diesen schwierigen Zeiten gut gewesen sein können. Schulen können diese selbstverantwortlichen Prozesse begleiten und müssen sich immer wieder fragen, wie und worauf sie Kinder und Jugendliche vorbereiten wollen. Welches Wissen, welche Kompetenzen und Fähigkeiten werden die nächsten Jahrzehnte benötigt? Ich begrüße sehr, dass der Aspekt der mentalen Gesundheit in den Schulen zunehmend berücksichtig wird. Vor allem geht es um starke zwischenmenschliche Beziehungen. Diese sind ein wichtiger Schlüssel, um aus der Angst in die Kraft zu kommen und damit resilient zu sein.

 

 

Matthias Siebert ist stellv. Leiter des Schulpsychologischen und Inklusionspädagogischen Beratungs- und Unterstützungszentrums Steglitz-Zehlendorf und Vorsitzender des Landesverbands Schulpsychologie.



Über diesen Bildungsblog

Friedrichs Bildungsblog ist der bildungspolitische Blog der Friedrich-Ebert-Stiftung. Friedrich Ebert ist nicht nur Namensgeber der Stiftung.

Sein Lebensweg vom Sattler und Sohn eines Schneiders zum ersten demokratisch gewählten Präsidenten Deutschlands steht für Aufstieg durch Bildung.

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Katja Irle, Redaktionelle Betreuung des Blogs, Bildungs- und Wissenschaftsjournalistin 

Lena Bülow, Team Bildungs- und Hochschulpolitik der Friedrich-Ebert-Stiftung

Florian Dähne, Leiter Bildungs- und Hochschulpolitik der Friedrich-Ebert-Stiftung

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