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Friedrichs Bildungsblog

Schöner Lernen dank Corona

Die Einschläge kommen näher. Hier ist eine Klasse in Quarantäne, dort arbeitet der Kollege halbtags, weil das Kind eine Woche Zwangsferien hat. Wie lange noch bleiben die Schulen geöffnet? Das fragen sich derzeit Schüler:innen, Lehrer:innen und Eltern.

Bild: Anna Lehmann von Elke Seeger

 

Von Anna Lehmann

 

Die Einschläge kommen näher. Hier ist eine Klasse in Quarantäne, dort arbeitet der Kollege halbtags, weil das Kind eine Woche Zwangsferien hat. Wie lange noch bleiben die Schulen geöffnet? Das fragen sich derzeit Schüler:innen, Lehrer:innen und Eltern. Manche voller Erwartung, man möge die Klassen endlich halbieren, um die Ansteckungsgefahr zu minimieren. Manche mit banger Besorgnis, wie das funktionieren soll mit Job und Homeoffice, wenn die Kinder den Großteil des Tages zu Hause abhängen und Eltern als Ersatzlehrer:innen einspringen sollen.

Die Gesellschaft ist gespalten und diskutiert, ob es nicht jetzt an der Zeit wäre, auf ein Wechselmodell umzustellen. In der Theorie geht das so: Die Klassen werden aufgeteilt und die Schüler, die nicht in der Schule sind, lernen digital. Hybrider Unterricht heißt es im Fachsprech. In Klartext fragt man sich allerdings schon, wie Lehrer:innen es schaffen sollen, die eine Hälfte der Klasse online zu unterrichten, während sie gleichzeitig vor der anderen Hälfte stehen und den Satz des Pythagoras erklären. Die Realität ist wohl: Geteilte Klassen heißt halbierter Unterricht und halbierte Stoffvermittlung. So rechnen jedenfalls die Kultusminister:innen und sind fest entschlossen, sich gegen die flächendeckende Einführung des Wechselmodells zu stemmen.

Und sie haben recht. Wie sollen Lehrpläne eingehalten, Klausuren geschrieben, Zensuren vergeben und Abschlüsse gemacht werden, wenn Schüler:innen nur die Hälfte der Zeit in der Schule verbringen? Wie werden Chancengleichheit und Vergleichbarkeit gewährleistet? In dieser Logik kann ein Wechselmodell nicht funktionieren.

Und von wenigen guten Beispielen abgesehen, hat das Homeschooling schon beim ersten Lockdown im Frühjahr nicht wirklich gut geklappt. Das zeigt etwa eine Untersuchung des Bildungsökonomen Ludger Wößmann vom Ifo-Institut, der 1.000 Eltern zu ihren Erfahrungen während des Homeschoolings befragte. Ergebnis: Die Zeit, in der sich die Kinder mit schulischen Dingen befassten, halbierte sich. Sie verbrachten dafür mehr Zeit vor dem Fernseher und mit der Spielkonsole, wobei leistungsschwächere Schüler:innen sich diesen Disziplinen noch intensiver widmeten als Mitschüler:innen. Nur vier Prozent der Schüler:innen hatten täglich Kontakt zu ihren Lehrer:innen. Wieso sollte sich daran grundlegend etwas ändern, nur weil mehr Kinder jetzt Laptops haben?

Doch auch ein „Weiter so“ wird kaum gehen. Die Infektionszahlen unter Schüler:innen und Lehrer:innen steigen. Zehntausende Schüler:innen und Lehrer:innen sind in Quarantäne. Der Regelunterricht ist dort, wo er gegeben wird, ein Krampf. Der Druck steigt. Das wissen auch die Kultusminister:innen, die gerade an einer Strategie für Hotspots arbeiten. Hotspots? Ein Blick auf die Deutschlandkarte des Robert-Koch-Instituts zeigt: Fast ganz Deutschland ist rot, fast alle Regionen sind nach RKI-Definition Hotspots.

Verzichtet auf Lehrpläne, Sitzenbleiben und Zensuren

Deshalb ist es Zeit, mit der Logik der Kultusminister:innen zu brechen. Schluss mit der Schule nach Plan! Politiker:innen, lasst den Lehrplan Lehrplan sein. Schulen, verzichtet aufs Sitzenbleiben. Lehrer:innen, verzichtet auf Zensuren. Konzentriert euch darauf, die über 8 Millionen Schüler:innen individuell zu fördern.

Und das bedeutet, eben kein starres Wechselmodell einzuführen, sondern einen Präsenz- und Onlineunterricht nach Bedarf. Nennen wir es „Schule nach Bedarf“. Schüler:innen, die zu Hause gut lernen können, bleiben zu Hause. Kinder, die ihren Platz und die Arbeitsatmosphäre im Klassenraum brauchen, kommen zur Schule. Das wird wohl für die Mehrheit der Grundschüler:innen gelten.

Die Lehrpläne werden in diesem Modell radikal entschlackt. Das hat übrigens auch eine von der Friedrich-Ebert-Stiftung beauftragte Kommission mit namhaften Bildungsforscher:innen, Lehrer:innen, Eltern und Schüler:innen empfohlen. Bereits im Mai regten diese an, dass die „Kultusministerkonferenz rechtzeitig vor Beginn des neuen Schuljahrs konkrete Kürzungsvorschläge benennen sollte, etwa den Kosinussatz in Mathe“. Das haben die Kultusminister:innen nicht getan, genauso wenig, wie sie auf die Warnung der Kommission hörten, dass man bei den Planungen des neuen Schuljahrs nicht von „einer Wiederkehr des gewohnten schulischen Regelbetriebs ausgehen“ solle. Na gut. Dann eben jetzt und in aller Radikalität.

Nicht nur Lehrpläne werden gelüftet, auch Klausuren, Tests und Prüfungen werden in der „Schule nach Bedarf“ gekürzt oder entfallen gänzlich. Genauso wie das Sitzenbleiben. Auch das hat bereits die genannte Expert:innenkommission vorgeschlagen.

Was sie nicht vorgeschlagen hat, was aber eine logische Konsequenz ihrer Empfehlungen wäre: endlich die Zensuren wegzulassen. Diese Form der Leistungsbewertung ist ein so grobes Instrument zur Komplexitätsreduktion, dass es in keinem anderen gesellschaftlichen Bereich angewandt wird. Niemand würde es wagen, ein Bild von Pollock mit einer Vier zu bewerten, eines von Rembrandt mit einer Zwei plus. Auch in profaneren Berufen bespricht man normalerweise im Team, was gut und was schlecht lief, und verteilt keine Zensuren. „Frau P. hat als Straßenbahnfahrerin fürs Bremsen und Beschleunigen heute eine Eins bekommen.“ Häh? Genau! Aber Schüler:innen müssen sich das jeden Tag gefallen lassen.

Also weg mit den Zensuren, weg mit dem Sitzenbleiben, weg mit dem Lernen im Gleichschritt in Coronazeiten und danach. In der „Schule nach Bedarf“ stehen Lehrer:innen nicht 45 Minuten lang vor 30 Schüler:innen, sondern holen Kleingruppen online oder in der Schule zusammen, um neuen Stoff zu erklären. Denn jedes Kind hat sein eigenes Arbeitstempo, und das kann eben auch bedeuten, dass die Matheaufgabe eine Woche lang dauert. Oder dass Mathe zwei Wochen mal ganz ausfällt, weil eine Schüler:in sich lieber Englisch oder Deutsch widmet. Die Lehrer:innen geben jeweils individuelles Feedback.

Um den Überblick zu behalten, führen alle Schüler:innen Buch und tragen jede Woche in Absprache mit den Lehrer:innen und Eltern ein, was sie sich vornehmen. Am Ende jedes Tages und jeder Woche bilanzieren sie, was sie geschafft haben und was noch zu tun bleibt.

Auf diese Weise wird jeder Lernfortschritt festgehalten und die Kinder, ihre Eltern und Lehrer:innen haben jederzeit vor Augen, wo es noch Lücken gibt. Wenn die Kinder mit einer Lerneinheit durch sind, können sie sich testen lassen – entweder mündlich oder schriftlich, entweder bei Mitschüler:innen oder bei der Lehrer:in. Es gibt nur zwei Bewertungsmöglichkeiten: „Bestanden“ oder „Weiterlernen“.

 

Schulen, die Lernen individualisiert haben, kommen besser klar

Wer glaubt, das könne niemals funktionieren, sollte Schulen wie die Max-Brauer-Schule in Hamburg besuchen. Dort lernen die über 1.000 Schüler:innen von Klasse 1 bis 13 seit Jahren nach diesem Konzept. Und zwar sehr gut.

Es ist übrigens bemerkenswert, dass Schulen, die das Lernen individualisiert haben, besser mit der derzeitigen Situation klarzukommen scheinen als traditionelle Schulen. „Unsere Kinder wissen, wie man selbstständig arbeitet“, heißt es da. Oder: „Lasst uns doch Wechselunterricht anbieten, wir sind gut darauf vorbereitet.“

Man könnte einwenden: Aber die Mehrheit der Schulen arbeitet eben anders. Und man muss nicht nur wegen Corona, alles Bewährte über Bord schmeißen – wenn es denn gut funktioniert hätte. Das hat es aber nicht.

Der aktuelle Bildungsbericht zeigt, dass der Anteil der Schüler:innen ohne Abschluss seit 2013 kontinuierlich gestiegen ist, auf gegenwärtig 6,8 Prozent. Das sind konkret rund 54.000 junge Menschen, die die Schule nach ihrer Pflichtschulzeit ohne den niedrigstmöglichen Schulabschluss verließen. Das ist nicht gut.

Die sozialen Unterschiede zwischen den Schüler:innen sind laut Bildungsbericht weiterhin erheblich. Die Institution Schule schafft es einfach nicht, Schüler:innen mit gleichem IQ, aber schlechteren Startchancen so zu fördern, dass sie ihre Nachteile gegenüber privilegierteren Mitschüler:innen wettmachen können. Im Gegenteil, beim Übergang von der Grundschule auf die weiterführende Schule werden die Nachteile noch verstärkt. An der Faustformel „Akademikerkinder gehen aufs Gymnasium, Arbeiterkinder auf irgendeine Oberschule“ hat sich nichts geändert.

Mit dem Umstieg auf Homeschooling werden sich solche Ungleichheiten verstärken. Wenn alles so bleibt, wie es ist. Also Schluss mit der Schule, wie wir sie gewohnt sind. Reißt sie ein und baut sie neu wieder auf. Den Kindern zuliebe.

 

Anna Lehmann ist Ressortleiterin Inland der taz.Der Beitrag erschien zuerst in der "taz am Wochenende" vom 21./22. November 2020



Über diesen Bildungsblog

Friedrichs Bildungsblog ist der bildungspolitische Blog der Friedrich-Ebert-Stiftung. Friedrich Ebert ist nicht nur Namensgeber der Stiftung.

Sein Lebensweg vom Sattler und Sohn eines Schneiders zum ersten demokratisch gewählten Präsidenten Deutschlands steht für Aufstieg durch Bildung.

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Katja Irle, Redaktionelle Betreuung des Blogs, Bildungs- und Wissenschaftsjournalistin 

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