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„Sehr geehrter Herr Hurrelmann,…“

Eine Antwort zweier Schülerinnen auf Klaus Hurrelmanns „Eine neue Generation von Schule“

Bild: Kaja Trenk und Laura Furth von privat

Sehr geehrter Herr Hurrelmann, 


wir haben vor Kurzem Ihren Blogbeitrag zum Thema "Eine neue Generation von Schule" vom 17.10.2019 gelesen und würden gerne ein paar Gedanken loswerden, da wir uns in unserem Pädagogik-LK ebenfalls mit den Themen "Funktionen von Schule" und „Bildung nach Klafki“ beschäftigt haben und uns dieser Blogbeitrag sehr angesprochen hat. 

Im Allgemeinen finden wir Ihren Ansatz sehr sinnvoll, Schule nicht nur als Vorbereitung auf kognitiver Ebene zu sehen, sondern auch die Voraussetzungen, um Leistung erbringen zu können, mit einzubinden. Die Frage, was der eine oder andere Unterrichtsinhalt mit dem tatsächlichen Leben zu tun haben wird, ist eine der meistgestellten Fragen in der Schule. Unserer Erfahrung nach führt das auch häufig zu einer kurzzeitigen Verweigerung, da wir häufig das Gefühl haben, Sachen bzw. Inhalte zu lernen, die uns im wirklichen Leben nicht helfen werden. Wie Sie schon richtig gesagt haben, fehlt uns die unterrichtliche Anbindung zu relevanten Lebensbereichen, die in dem aktuellen Lehrplan nicht eingebaut sind, wie z.B. der „richtige“ Umgang mit Stress. 

Zusätzlich fordern Sie, dass Schulen in Zukunft den Schüler_innen die Möglichkeit geben sollten, den Unterricht selbst mitzugestalten. Dabei sollen Lehrer_innen Grenzen setzen und darauf achten, dass ein gewisser Rahmen eingehalten wird, während die Schülerschaft nach individuellen Bedürfnissen arbeiten kann, was uns ziemlich an Montessoris Ansatz erinnert. Wir denken, eben die Grenzsetzung ist entscheidend, da Schüler_innen nicht immer antizipieren können, was angebracht ist, oder ob andere gestört werden. Dadurch könnten sie viel selbstständiger arbeiten und die Aufmerksamkeitsspanne wäre wahrscheinlich viel höher, da ein Wechsel zwischen kreativer Arbeit, hochkonzentrierter Arbeit und Gruppenarbeit nach individuellen Bedürfnissen möglich wäre. Da hier natürlich alle auf einem anderen Wissensstand wären, ist ein individueller Förderplan wichtig. Zusätzlich bringt das Einbinden von Medien auch viel, vor allem mit der Aussicht, dass viele der zukünftigen Berufe mit Medien zu tun haben werden und wir damit aufgewachsen sind. 

Ein anderer Aspekt ist, dass Sie die Schule auffordern, liebevoll und sensibel auf die Bedürfnisse der Kinder und Eltern einzugehen. Sie stellen fest, dass viele Familien die Bedürfnisse der Kinder nicht mehr ausreichend decken können, wobei die Schule dies ausgleichen soll. (Kann sie das denn?)

Wo es problematisch wird

All diese Forderungen zusammengepackt ergibt eine Form von Schule, die wir sehr gerne gehabt hätten und uns auch für die Zukunft wünschen würden. Trotzdem möchten wir nun auf einige Punkte eingehen, die wir problematisch finden.


Das erste Problem ist, dass das Einbauen von Unterrichtsinhalten, die nichts mit der kognitiven Bildung zu tun haben, ziemlich schwierig ist, da wir in allen erdenklichen Bereichen ziemlichen Zeitdruck haben und kein Platz für neue Inhalte ist. Oft hören wir, z.B. von unseren Großeltern, dass wir Sachen nicht mehr lernen, die früher bei ihnen selbstverständlich waren, wobei wir als Schülerinnen und Schüler das Gefühl haben, durch alle Inhalte zu „rennen“. Für die Klassen nach uns ist zum Glück wieder G9 eingeführt, trotzdem denken wir oder befürchten wir, dass auch in diesem Lehrplan nicht ausreichend Platz für andere Lerninhalte sein wird.

Ein anderes Problem ist, dass die Bildungsinstanz Schule - Ihren Forderungen nach - mehr als eine Bildungsinstanz wäre, sie würde auch verstärkt miterziehen. Dies würde den Kindern einerseits viel mehr Halt geben und Defizite ausgleichen, andererseits aber auch bei vielen Eltern bestimmt auf Widerstand treffen, da sie das Gefühl haben könnten, dass die Schule sich zu sehr in die Erziehung einmischt. 

Ein weiteres großes Problemfeld ist der Lehrer_innenberuf an sich, denn zum einen gibt es viel zu wenig Lehrer_innen (vor allem in der Grundschule und Sonderschule), sodass ein individuelles Fördern bei so vielen Schüler_innen auf einmal quasi unmöglich wäre. Zum anderen ist die Ausbildung unserer Wahrnehmung nach kaum pädagogisch ausgelegt, sodass viele Lehrer_innen zwar enorm viel Wissen haben, aber dafür pädagogisch nicht wirklich auf die Kinder eingehen können. 


Das letzte Problemfeld umfasst natürlich auch die Frage des Geldes, denn um mehrere Lehrkräfte auf kleinere Klassen zu verteilen oder um neue Materialien für freien Unterricht anzuschaffen, ist Geld nötig, das (leider) nicht vorhanden ist.

Zusammengefasst wäre Ihre Art von Schule unserer Meinung nach deutlich besser als unsere heutige und würde die Prozentzahl der verunsicherten Kinder wahrscheinlich deutlich senken, jedoch ist es für die Schulen selber unsere Meinung nach (noch) nicht möglich, diesen Forderungen nachzugehen, auch wenn sie es wollten. Trotzdem sind wir nicht ganz pessimistisch.

Wie es funktionieren kann

Unser erster Ansatz wäre, an die Politik zu gehen, denn es müssten verschiedene Gesetze geändert werden, damit die Schulen überhaupt die Möglichkeit haben, Ihre Forderungen umzusetzen. Wir bräuchten mehr Zeit in der Schule, eine andere Ausbildung für Lehrer_innen, eine Gesetzesänderung, sodass Lehrer_innen überhaupt so individuell und persönlich auf die Kinder eingehen können. 

Trotzdem denken wir, dass kleine Punkte schon umgesetzt werden können. An unserer Schule z.B. haben wir 67,5 Minuten-Stunden, da Schüler_innen sich erwiesener Weise in dieser Zeitspanne konzentrieren können. Zusätzlich könnten die Eltern mehr eingebunden werden, es könnten kleinere Klassen gebildet werden und vielleicht ein oder zwei Stunden pro Woche eingebaut werden, in denen Schüler_innen frei an jedem Fach arbeiten können, wo sie gerade Hilfe brauchen, und in denen Lehrer_innen als Ansprechpartner zur Verfügung stehen; quasi als eine Art Nachhilfestunde mit Lehrer_innen als Ansprechpartner, sodass individuelle Problemfelder auf eigene Weise angegangen werden könnten. In unteren Jahrgängen haben wir eine Zeit lang das Fach "Lernen lernen/Soziales Lernen". So etwas könnte man in den oberen Stufen mit entsprechenden Problembereichen einführen, sodass dadurch andere Lebensbereiche und Problemfelder abgedeckt werden können. 

Wo wir noch Fragen an Klaus Hurrelmann haben

Am Ende unserer Überlegungen haben wir auch noch – wenn Sie erlauben - ein paar Fragen an Sie: Wie stellen Sie sich denn vor, wie Ihre Forderungen tatsächlich umgesetzt werden können? Denken Sie auch, dass der erste Schritt über die Politik gehen muss? Wie denken Sie, ist das Bewertungssystem in einer solchen Schulform, in der jeder auch individuell lernt und so andere Wissensstände erreicht werden? Denken Sie, dass die Lehrer_innen mit der heutigen Ausbildung überhaupt in der Lage wären, all diesen Forderungen nachzukommen, ohne selbst Burnout-gefährdet zu sein? 

Mit freundlichen Grüßen

Laura Furth und Kaja Trenk

 

Antwort von Klaus Hurrelmann:

Liebe Laura, liebe Kaya,

vielen Dank für die kritische Stellungnahme zu meinen Positionen hier im FES-Blog. Ich freue mich, dass Sie meinen Vorstellungen im Großen und Ganzen zustimmen. Zu Recht werfen Sie die Frage auf, wie sich solche Forderungen in die Realität umsetzen lassen.

Meiner Erfahrung nach geht das nur durch eine permanente Diskussion mit dem Ziel, dass sich immer mehr Menschen der Position anschließen und auf diese Weise allmählich einen Druck auf die Politik ausgeübt werden kann. Politikerinnen und Politiker können nur handeln, wenn sie sicher sind, dass ihre Entscheidungen von einer Mehrheit der Bevölkerung getragen werden. Das kann dauern.

Und sicherlich, um Ihre letzte Frage aufzugreifen, muss in diesem Zusammenhang dann auch die Lehrerausbildung und die Lehrerweiterbildung systematisch reformiert werden. Wir sind stolz darauf, dass wir eine so professionelle Ausbildung der Lehrkräfte in zwei Fächern haben, aber wir sehen heute, dass darüber hinaus die allgemeine pädagogische Kompetenz viel stärker trainiert werden muss als bisher.

Schließlich zur Bewertung der Leistungen der Schülerinnen und Schüler: Schon heute greifen einige Schulen dazu, neben der Benotung eine kurze differenzierte Einschätzung des Profils der Leistungen vorzunehmen. Das würde ich in Zukunft stärker ausbauen, um den jeweiligen individuellen Leistungsständen besser gerecht werden zu können.

Mit freundlichen Grüßen

Klaus Hurrelmann



Über diesen Bildungsblog

Friedrichs Bildungsblog ist der bildungspolitische Blog der Friedrich-Ebert-Stiftung. Friedrich Ebert ist nicht nur Namensgeber der Stiftung.

Sein Lebensweg vom Sattler und Sohn eines Schneiders zum ersten demokratisch gewählten Präsidenten Deutschlands steht für Aufstieg durch Bildung.

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Katja Irle, Redaktionelle Betreuung des Blogs, Bildungs- und Wissenschaftsjournalistin 

Lena Bülow, Team Bildungs- und Hochschulpolitik der Friedrich-Ebert-Stiftung

Florian Dähne, Leiter Bildungs- und Hochschulpolitik der Friedrich-Ebert-Stiftung

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