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Vor und zu Beginn der Corona-Pandemie und den damit verbundenen Schulschließungen konnte man den Eindruck gewinnen, das Wohl der Bildungsnation Deutschland hinge an „gerechten“ und „vergleichbaren“ Abiturnoten. Keine Woche, in der nicht darüber diskutiert wurde, ob das Abitur zu leicht oder zu schwer gewesen sei und ob das Bayern-Abitur doch sehr viel wertvoller sei als das aus Bremen.
Bild: Ilka Hoffmann von Burkhard Jungkamp; Copyright: Fotograf: Kay Herschelmann
Ilka Hoffmann, GEW, Mitglied des Geschäftsführenden Vorstands, OB Schule
Elitebildung im Fokus
Vor und zu Beginn der Corona-Pandemie und den damit verbundenen Schulschließungen konnte man den Eindruck gewinnen, das Wohl der Bildungsnation Deutschland hinge an „gerechten“ und „vergleichbaren“ Abiturnoten. Keine Woche, in der nicht darüber diskutiert wurde, ob das Abitur zu leicht oder zu schwer gewesen sei und ob das Bayern-Abitur doch sehr viel wertvoller sei als das aus Bremen. Anstatt zu Beginn der Pandemie alle Kinder und Jugendlichen im Blick zu haben, wurde viel logistischer Aufwand von den Schulen eingefordert, Prüfungen auch während des Lockdowns zu organisieren.
Dass die nationalen und internationalen Bildungsstudien immer wieder eine stabile Gruppe von bildungsbenachteiligten Kindern und Jugendlichen konstatieren, kümmert offensichtlich wenig. Daran, dass in der deutschen Schulpolitik offensichtlich ein großer Fokus auf der „Elitenbildung“ liegt, hat sich seit 100 Jahren nichts geändert. So sind in der Reichsschulkonferenz 1920 letztendlich alle Bestrebungen ein demokratisches und gerechtes Schulsystem zu schaffen an den Interessen des gut situierten Bildungsbürger_innentums und seinem Bedürfnis nach Exklusivität gescheitert.
Auch die Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention 2009 hat nicht in ganz Deutschland zu einem strukturellen Umbau des Systems und einer breiten Unterstützung inklusiver Pädagogik beigetragen. Das Problem, dass die große Mehrheit der Schüler_innen mit sonderpädagogischem Förderbedarf im Lernen aus benachteiligten Familien kommen, gibt kaum Anlass zum Nachdenken. An dem Konstrukt der „Lernbehinderung“ wird trotzdem festgehalten. Hinzu kommt: Studien ergeben regelmäßig, dass die Förderschule nicht fördert, sondern einen negativen Effekt auf die Kompetenzentwicklung hat (vgl. Kocaj et al. 2014).
Fakt ist: Bildungsbenachteiligung ist in Deutschland zu großen Teilen systemimmanent. Unser Schulsystem führt zu institutionellen Diskriminierungen. Es verstärkt und verfestigt soziale Spaltungen. Einzelne Förderprogramme können diese Effekte allenfalls abmildern. Auch der aktuelle nationale Bildungsbericht bestätigt diesen Befund.
Der nationale Bildungsbericht 2020: Bereich „allgemeinbildende“ Schulen
Eine Analyse des deutschen Schulsystems ist besonders schwierig, da wir es mit 16 verschiedenen Systemen zu tun haben. Das System des Föderalismus macht Bildung zur „Ländersache“. Es lässt sich laut Bildungsbericht zwar eine Tendenz zur Zweigliedrigkeit des Sekundaschulsystems feststellen, aber die Schulformen neben dem Gymnasium unterschieden sich zwischen den Bundesländern erheblich. Wesentliche Unterschiede ergeben sich aus einer Trennung in verschiedene Bildungsgänge und den Grad der äußeren Fachleistungsdifferenzierung. Um hier genaue Einblicke in die Wirkungen von Strukturen auf die Chancengleichheit zu gewinnen, müssten die quantitativen Daten mit qualitativen, die die Unterrichtsgestaltung, die Feedbackkultur und die Schulkultur betreffen, ergänzt werden.
Quantitative Analysen können blinde Flecken aufweisen. Im nationalen Bildungsbericht 2020 betrifft dies vor allem den Bereich „Sonderpädagogischer Förderbedarf“. Während es innerhalb der fortschrittlichen Sonderpädagogik seit Jahrzehnten zum Standard gehört, das Konstrukt der „Lernbehinderung“ (heute Förderbedarf Lernen) vor allem unter soziologischen Gesichtspunkten zu dekonstruieren, wird im Bildungsbericht von dem Vorhandensein einer feststellbaren „Entwicklungsstörung“ ausgegangen. Es ist oft eher ein Zufall und eine Frage der Diagnostik, ob sozial benachteiligte Kinder als „sonderpädagogisch förderbedürftig“ diagnostiziert werden. Die Diagnose betrifft dabei deutlich überproportional männliche Kinder, Kinder mit Migrationshintergrund und vor allem Kinder mit niedrigem Sozialstatus. Dieser Aspekt findet im Bildungsbericht kaum Beachtung.
Anhand des Datenmaterials wird aufgezeigt, dass unser Schulsystem soziale Disparitäten verschärft. So verliefen die meisten Schulwechsel vom Gymnasium auf eine andere weiterführende Schule (46% der Schulwechsel). Lernende aus der oberen Mittelschicht und aus Akademiker_innenfamilien waren davon deutlich weniger betroffen. 10% der Wechsel verliefen demgegenüber umgekehrt von einer Sekundarschule auf das Gymnasium. Hier hat die Zahl der Schüler_innen mit niedrigem Sozialstatus zugenommen. Aber dies vermag die Disparitäten nicht auszugleichen (vgl. Bildungsbericht 2020, S. 112 f). Die soziale Herkunft spielt laut Bildungsbericht weiterhin sowohl beim Übergang nach der Grundschulzeit als auch im weiteren Bildungsverlauf eine erhebliche Rolle (ebd. S.115). Auch die Kompetenzentwicklung der Lernenden weist eine hohe Heterogenität auf. Junge Menschen, deren Herkunftssprache nicht Deutsch ist und solche aus armen Familien sind deutlich benachteiligt (vgl. ebd. S.137).
Die Digitalisierung hilft indes nicht Disparitäten auszugleichen. Dies hängt zum einen mit der höchst unterschiedlichen digitalen Ausstattung der Schulen und Familien zusammen. Zum anderen aber gibt es einen engen Zusammenhang zwischen digitalen Kompetenzen und Literalität. Das bedeutet: Ohne gute analoge Kompetenzen im Lesen, Schreiben und Rechnen nützen auch digitale Tools wenig. Im Gegenteil: Sie entfalten einen eher negativen Effekt, da sie ein hohes Ablenkungs- und Suchtpotential entfalten können (vgl. S. 283).
In der Corona-Krise wurde die unterschiedliche Ausstattung in Schule und Familien mit digitalen Endgeräten zum großen Problem. Es ist demnach zwar ein erster Schritt, zusätzliches Geld für die Ausstattung aller Lernenden mit digitalen Endgeräten zur Verfügung zu stellen. Dies reicht aber nicht aus soziale Disparitäten im Schulsystem zu verringern.
Benachteiligungen im Bildungssystem verringern – Was ist zu tun?
Die Corona-Pandemie hat die sozialen Spaltungen der bundesdeutschen Gesellschaft besonders deutlich gemacht. Auch Kinder und Jugendliche haben sie sehr unterschiedlich erlebt. Es ist ein großer Unterschied, einen Lockdown in einer engen Wohnung im Plattenbau oder im Eigenheim mit Gartengrundstück zu verbringen. Auch die Möglichkeiten der Familien, die Kinder und Jugendlichen beim Lernen zu Hause zu unterstützen sind höchst unterschiedlich. Sozial- und Bildungspolitik greifen also sehr eng ineinander.
Bildungspolitisch wird auf den Befund sozialer Benachteiligung meist mit „Programmen“ reagiert. Sei es das „Bildungs- und Teilhabepaket“, spezielle Förderprogramme oder Geld für digitale Endgeräte. Strukturelle Reformen werden nur aus demografischer Perspektive auf den Weg gebracht. Wo die Vielzahl an Schulformen angesichts zu weniger Kinder und Jugendlicher nicht aufrechterhalten werden kann, werden plötzlich die Vorteile der Gesamtschulen erkannt. Die Verknüpfung von Bildungsgängen entfaltet dann oft dennoch positive Effekte auf die Durchlässigkeit des Systems.
Langfristig kann der Bildungsbenachteiligung nur durch tiefgreifende Strukturreformen in Richtung eines personell gut ausgestatteten inklusiven Bildungssystems entgegengewirkt werden. Dass ein Großteil der Entscheidungsträger_innen das Gymnasium durchlaufen haben, an dem es wenige Mitschüler_innen mit Behinderungen, mit Fluchterfahrung oder aus armen Verhältnissen gab, beeinflusst ihre Denk- und Handlungsweisen. Minderheiten und Lebensverhältnisse, die von den eigenen häuslichen Erfahrungen abweichen, sind kaum im Blick.
Ein gegliedertes Schulsystem führt also zu einer Verarmung sozialer Erfahrung. Dies gilt natürlich auch für das andere Extrem, die Förderschule Lernen, wo Kinder aus prekären Lebensverhältnissen und gebrochenen Lernbiographien unter sich bleiben. Der in der Politik vielbeschworene „soziale Zusammenhalt“ bekommt schon in der Schulzeit tiefe Risse.
Ein so tiefgreifendes gesellschaftliches und strukturelles Problem lässt sich nicht allein durch digitale Endgeräte beheben. Kinder und Jugendliche in prekären Lebenssituationen brauchen in erster Linie Unterstützung durch konkrete Personen. Der extreme Lehrkräftemangel führt hier leider zu einer erheblichen Einbuße pädagogischer Qualität. Hier Abhilfe zu schaffen ist indes ein längerfristiges Ziel. Deshalb muss in der akuten Krisensituation nach kreativen Lösungen gesucht werden
Die Schulen haben gute Erfahrungen mit dem Lernen in kleineren Gruppen gemacht. Eine gute Kombination aus Präsenz- und Fernlernphasen macht dies möglich. Die Klassen werden geteilt und kommen in einzelnen Untergruppen wechselseitig zur Schule. Die Präsenzlernphasen sollten intensiv für die Vor- und Nachbereitung der selbstständigen Lernphasen genutzt werden. Das Lernmaterial für Zuhause muss nicht unbedingt nur digital sein. Es sollte so differenziert werden, dass es von den Lernenden ohne Hilfe der Eltern bearbeitet werden kann. Notwendig sind Lerngespräche mit den Lernenden: Was wurde bearbeitet? – Was war besonders gut? - Gab es Schwierigkeiten? Eine solche intensive Lernbegleitung ist nur möglich, wenn der „Stoff“ sowie die Fülle der Leistungsüberprüfungen (Klassenarbeiten, Tests) reduziert werden.
Um den Mangel an Lehrkräften und sozialpädagogischen Fachkräften zu reduzieren, können auch Studierende eingesetzt werden, die einzelne Kinder und Jugendliche beim Lernen unterstützen und ihnen als Gesprächspartner_innen zur Verfügung stehen. Für Lehramtsstudierende kann eine solche Lernbegleitung als Teil der schulpraktischen Ausbildung anerkannt werden. Modelle gibt es schon: An der Ruhr-Universität Bochum läuft das Projekt „Mentoring@home“, in dem Studierende einzelne Schüler_innen unterstützen und beraten. Diese Lernbegleitung wird im Rahmen eines Kurses geleistet und als Leistungsnachweis anerkannt. Die Universität Münster hat gemeinsam mit der Stadt das Projekt „Anschluss individuell schaffen- AIS“ gestartet. Lehramtsstudierende unterrichten Kleinstgruppen von vier Schüler_innen und werden dafür auch entlohnt.
Allerdings wurde der Schwerpunkt der Kultusministerkonferenz bisher auf das „Bildungsbusiness as usual“ gelegt. Die Gefahr besteht, dass es bei der Wieder-Öffnung des schulischen Regelbetriebs zu einem On-Off-Modus der Schulen kommt, zumal die Hygienevorschläge wie die Bildung fester Kohorten auf dem Schulweg, durchgehendes Maskentragen und Abstand (in der Vollbesetzung im Klassenraum!) wenig alltagstauglich erschienen, und der Hygienestandard der Schulgebäude mancherorts nicht wesentlich erhöht wurde. Dialog und Kreativität wären jetzt gefragt - nicht das krampfhafte Festhalten an Strukturen und Routinen, die schon immer benachteiligend gewirkt haben.
Literatur:
Autorengruppe Bildungsberichtserstattung: Bildung in Deutschland 2020: https://www.bildungsbericht.de/static_pdfs/bildungsbericht-2020.pdf
Kojaj, A./Kuhl, P./Kroth, A.J./Pant, H. A./ Stanat, P.: Wo lernen Kinder mit Förderbedarf besser? Ein Vergleich schulischer Kompetenzen zwischen Regel- und Förderschulen in der Primarstufe. In: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie. Heft 66, 2014 (S.165-191)
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Über diesen Bildungsblog
Friedrichs Bildungsblog ist der bildungspolitische Blog der Friedrich-Ebert-Stiftung. Friedrich Ebert ist nicht nur Namensgeber der Stiftung.
Sein Lebensweg vom Sattler und Sohn eines Schneiders zum ersten demokratisch gewählten Präsidenten Deutschlands steht für Aufstieg durch Bildung.
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Katja Irle, Redaktionelle Betreuung des Blogs, Bildungs- und Wissenschaftsjournalistin
Lena Bülow, Team Bildungs- und Hochschulpolitik der Friedrich-Ebert-Stiftung
Florian Dähne, Leiter Bildungs- und Hochschulpolitik der Friedrich-Ebert-Stiftung
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