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Friedrichs Bildungsblog

Wenn es so einfach wäre … Konsequenzen aus den Pisa-Ergebnissen

Dieser Beitrag ist eine Antwort auf "Schafft das Gymnasium ab!" von Anna Lehmann.

Bild: Wolfgang Harnischfeger

Zum Beitrag von Anna Lehmann

„Das Gymnasium ist schuld und wir brauchen viel mehr Geld für die Bildung“, lautet die Schlussfolgerung Anna Lehmanns in Bezug auf die Ergebnisse der neuesten Pisa-Studie. So war das beim letzten Mal und so wird es beim nächsten Mal sein. Diese Art der Problemvereinfachung gibt es auch auf anderen Feldern. Solche Reduzierungen auf eine Ursache von Problemen, die tatsächlich vorhanden sind, tragen nicht zur Lösungsfindung bei, sie schaffen Widerstände, wo sonst keine wären, und sie spalten die Gesellschaft. Imperative wie „Schafft das Gymnasium ab!“ helfen so viel wie die Lehrerappelle „Jetzt seid doch mal leise!“, sie dienen vielleicht als Gruppenausweis für die richtige Gesinnung. Aber am Ende wirken sie kontraproduktiv, denn wären sie erfolgreich, würden sie einen Boom an Privatschulen auslösen, weil Eltern sich das grundgesetzlich garantierte Schulwahlrecht nicht aus der Hand nehmen lassen.

Anna Lehmann führt den Unterschied von mehr als zwei Lernjahren bei den getesteten Fünfzehnjährigen, speziell in der Fähigkeit, Texte sinnverstehend lesen zu können, auf die Existenz des Gymnasiums zurück. Oder noch anders ausgedrückt: Weil es das Gymnasium gibt, kann ein Drittel der Fünfzehnjährigen an den integrierten Schulen nicht richtig lesen. Das Gymnasium muss demzufolge etwas Unerlaubtes haben, es ist das „Refugium der neuen bürgerlichen Mittelschicht“, es dient dem „Statuserhalt“, nicht der Bildung der eigenen Kinder. Ein unbefangener Beobachter würde hohe Mauern um diese Institution vermuten, mit einem Schlüssel, der bei der Geburt übereignet wird, nicht jedoch ein frei zugängiges Haus, das jedem und jeder offensteht, die einen Grundschuldurchschnitt von realistischerweise 2,3 mitbringt.

Was wollen Eltern wirklich?

Sie wollen eine gute Schule für ihre Kinder, sie wollen allerdings bei der Schulwahl keinen gesellschaftspoltischen Auftrag erfüllen. Und wann ist eine Schule gut? Wenn die Lehrkräfte nicht die Hälfte ihrer Zeit und ihrer Kraft aufwenden müssen, die Unterrichtsfähigkeit der Gruppe überhaupt erst herzustellen, wenn die Schule weitgehende Gewaltfreiheit verspricht, wenn die Lehrkräfte sich ernsthaft um die Kinder kümmern, wenn  die Hoffnung besteht, dass ihre Kinder fit gemacht werden für eine aktive Teilhabe an der Gesellschaft und für einen Beruf. Sie wollen eine Schule, an der ihre Kinder nicht gemobbt werden, weil sie gute Noten haben und Hausaufgaben machen oder weil sie Bücher lesen und Klavierunterricht haben. Die Berliner Schullandschaft zeigt, dass vielen Eltern dabei das Etikett relativ unwichtig ist. Unter den am meisten nachgefragten Schulen befinden sich nahezu ebenso viele Integrierte Schulen, allerdings alle mit Gymnasialer Oberstufe, wie Gymnasien. Die konkrete Schule gibt den Ausschlag, und das kann ebenso gut ein Gymnasium sein wie eine integrierte Schule. Das ist der eine Teil der Antwort. Es gibt aber nicht wenige Familien, die die Schule als lästig empfinden, bis hin zur Verachtung kultureller Bemühungen. Letzteres gilt nicht für eine neue türkische Mittelschicht, jedoch für konservativ geprägte türkische und arabische Eltern, die sich für die Schule nicht zuständig fühlen. Vor allem Jungen aus diesem Milieu fürchten um ihre Identität,  wenn sie sich schulischen Anforderungen beugen, das ist etwas für Frauen.

Man darf auch nicht vergessen, dass das Aussortieren in Berlin mit elfeinhalb geschieht und nicht mit neuneinhalb wie in Westdeutschland, um im alten Westberliner Jargon zu bleiben. Immerhin zwei Jahre später und mit deutlich besserer Prognosemöglichkeit, aber auch aus meiner Sicht noch zu früh. Dass das Abitur nicht mehr an das Gymnasium gebunden ist, mildert die Selektion beträchtlich. Ich selbst wäre für acht Jahre gemeinsame Schule und danach eine Aufteilung in Gymnasialzweig, mittleren Schulabschluss und integrierte beruflicher Bildung, alles vier Jahre lang.

Zwei Aspekte müssen noch bedacht werden: Auch am Gymnasium hat sich die Schülerschaft stark verändert, es ist eine Gesamtschule geworden, in dem Sinne, dass es ist offen ist für ein breites Spektrum  an Interessen und Begabungen, was bei einem Jahrgangsanteil von bis zu 50% schon statistisch nicht anders sein kann. Es gibt also keine Sortierung in zwei Typen nach Gymnasium und ISS. Das zweite betrifft die Einstellung zur Schule. Eine Lerngruppe verträgt äußerstenfalls drei abweichende Mitglieder, bei größerem Anteil bekommen die Verweigerer und Störer die Oberhand und bestimmen das Klima, denn das sind ja meist die Lauten und Respektlosen. Fragen Sie mal die Lehrerinnen und Lehrer: Dreißig Kinder, die lernen wollen, sind ein Klacks gegen die drei, die sich verweigern, und oft sind es mehr als drei. Da hat das Gymnasium tatsächlich Vorteile, weil es homogener zusammengesetzt ist

Aber auch wenn das Gymnasium keine  abgeschottete Eliteanstalt mehr ist, bleibt die Frage, ob eine Schule für alle die Chancengleichheit erhöhen und mehr Kinder zu besseren Leistungen bringen und damit den Anteil von 9% der Schulabgänger ohne Abschluss gegen Null reduzieren würde. Wenn diese Frage mit einem fachlich belegten Ja beantwortet werden könnte, wäre ich sofort dafür, die entsprechenden Regelungen zu schaffen. Die pädagogisch entscheidende Frage lautet also: Kann man Kinder und Jugendliche mit einem Lernstand von bis zu zwei Jahren Unterschied und mit unterschiedlichem Auffassungsvermögen und mit weit auseinanderliegenden Interessen in einer Klasse so unterrichten, dass die Guten wie die Schwachen optimal gefördert werden?

Nehmen wir als Beispiel für die Antwort den Englischunterricht einer zehnten Klasse. Ein Zehntklässler in einem normalen Gymnasium kann ab einer Drei aufwärts im Regelfall nahezu fließend Englisch, auch wegen englischsprachiger Serien und Musiktexte. Diesen Stand erreichen Schülerinnen und Schüler an einer ISS deutlich seltener, vor allem ist die Notenspreizung dort größer. Deshalb stehen sowohl die Jugendlichen als auch die Lehrkräfte vor nicht lösbaren Problemen, wenn im gemeinsamen Unterricht ein normaler Zeitungstext oder ein literarisches Werk gelesen werden soll. Die Gruppe, die nach Pisa ein bis zwei Jahre Lernrückstand hat, wird rausfallen. Welcher Gruppe die Lehrkraft sich auch zuwendet, die andere wird vernachlässigt und in ihren Möglichkeiten behindert, da bleibt das Zauberwort "Binnendifferenzierung" ein Euphemismus. Die dreißig Prozent, die selbst einfache Texte nicht sinnverstehend lesen können, werden nicht besser, wenn man sie zusammen mit denen im oberen Bereich unterrichtet. Der Regelfall wird sein, dass man das Anforderungsniveau herabsetzt. Und wenn das zum Prinzip in allen Fächern wird, ist es besser, die Gruppen zu trennen. Das müsste nicht zwingend in verschiedenen Schularten geschehen, aber der Gedanke, dass sie in einer Lerngruppe voneinander profitieren könnten, ist empirisch nicht haltbar, er ist reine Ideologie. Und er ist nicht menschenfreundlich, er erzeugt Stress und Versagenserlebnisse bei denen, die abgehängt werden, mehr als der Besuch verschiedener Schulen.

Wäre mehr Geld die Lösung?

Bevor man diese Frage reflexartig mit Ja beantwortet, sollte man einmal nachsehen, wie die vorhandenen Mittel zur Zeit ausgegeben werden. Sind die Brennpunktschulen in Berlin durch die Hunderttausend Euro, die sie auf eine Initiative des SPD-Abgeordneten Raed Saleh erhielten, nachweisbar besser geworden? Haben sie jetzt weniger Abgänger ohne Abschluss als vorher oder als andere vergleichbare Schulen, können ihre Neuntklässler besser lesen, schreiben, mathematische Probleme lösen? Ich kann die Fragen nicht seriös beantworten, aber wenn die Antwort ja lauten würde, wäre es ein sträfliches Versäumnis, sie nicht lauthals an die Öffentlichkeit zu bringen. Vieles liegt nicht am Geld. Berlins Quersteinsteiger/innen kosten genauso viel wie ausgebildete Lehrkräfte,  sie können aber bei allem guten Willen keine Fachkräfte ersetzen oder erreichen diesen Status erst nach vielen Jahren, in denen sie aber selbständig Kinder unterrichtet haben. Vorausschauende Planung wäre hier die Lösung gewesen. Und die Idee, mehr Lehrkräfte und  Menschen anderer Profession an die Schule zu bringen, ist sicher richtig, aber auf viele Jahre hinaus nicht umsetzbar. Wo sollen denn die Menschen herkommen? Es gibt sie nicht. Und bis entsprechender Nachwuchs ausgebildet ist, vergehen zehn Jahre, immer vorausgesetzt, die Schule wäre als Arbeitsplatz attraktiv für sie.

Was würde den Schulen tatsächlich helfen und wäre auch zeitnah umsetzbar?

Man müsste  eine verbindliche Elternarbeit einführen, um das häusliche Milieu, das immer noch entscheidend ist, günstig zu beeinflussen und auch nicht deutschsprachige Eltern an die Schule zu binden. Man müsste einen Verbund installieren, der aus Lehrkräften besteht, die nicht am Rande der Erschöpfung arbeiten, ferner aus Sozialarbeitern und Sozialarbeiterinnen, psychologischen Hilfskräften, aus medizinisch ausgebildetem Personal an der Schule und Verwaltungskräften, die den Lehrerinnen und Lehrern die Bürokratie weitgehend abnehmen. Man müsste eine schul- und teamnahe Fortbildung institutionalisieren, da steht bisher vieles nur auf dem Papier. Und man müsste das Gymnasium reformieren, indem man die pädagogische Arbeit gleichwertig neben die Wissensvermittlung stellt. Man müsste die Frequenzen von 32 auf 26 Schülerinnen und Schüler pro Lerngruppe senken. Und man müsste die Lehrkräfte insgesamt wertschätzender behandeln, sie haben den Schlüssel für eine zukunftsorientierte Schule in der Hand.

 

Zum Autor

Wolfgang Harnischfeger war 18 Jahre lang Schulleiter des Beethovengymnasiums in Lankwitz.



Über diesen Bildungsblog

Friedrichs Bildungsblog ist der bildungspolitische Blog der Friedrich-Ebert-Stiftung. Friedrich Ebert ist nicht nur Namensgeber der Stiftung.

Sein Lebensweg vom Sattler und Sohn eines Schneiders zum ersten demokratisch gewählten Präsidenten Deutschlands steht für Aufstieg durch Bildung.

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Katja Irle, Redaktionelle Betreuung des Blogs, Bildungs- und Wissenschaftsjournalistin 

Lena Bülow, Team Bildungs- und Hochschulpolitik der Friedrich-Ebert-Stiftung

Florian Dähne, Leiter Bildungs- und Hochschulpolitik der Friedrich-Ebert-Stiftung

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