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„Die Schere geht weiter auseinander“

Interview mit der Bildungsforscherin Petra Stanat über das schlechte Abschneiden von Grundschülerinnen und Grundschülern in Deutsche und Mathe beim IQB-Bildungstrend – und die Unterschiede zwischen den Bundesländern

 

Friedrichs Bildungsblog: Der IQB-Bildungstrend 2021 zeigt, dass Viertklässlerinnen und Viertklässler in allen untersuchten Bereichen weiter zurückgefallen sind. Beim Lesen erreichen fast 19 Prozent der Kinder nicht mehr den Mindeststandard, im Zuhören sind es gut 18 Prozent, in der Orthografie 30 Prozent und fast 22 Prozent in Mathematik. Haben Sie die Ergebnisse überrascht?

Überrascht vielleicht nicht, aber ernüchtert. Schon zwischen den Jahren 2011 und 2016 zeichneten sich in mehreren Kompetenzbereichen ungünstige Entwicklungen ab, nur im Bereich Lesen waren die Ergebnisse damals stabil. Und dieser Abwärtstrend hat sich zwischen 2016 und 2021 dann noch mal deutlich verschärft. Das ist natürlich besorgniserregend.

 

Die Unterschiede zwischen den Bundesländern sind groß. Nur wenigen Ländern ist es demnach gelungen, gute Ergebnisse zu halten oder schwache Ergebnisse zu steigern. Ausnahmen sind Bayern und Sachsen, wo ein vergleichsweise hohes Kompetenzniveau erreicht wurde – gegen den allgemeinen Trend. Haben Sie eine Erklärung dafür?

Man muss zwischen zwei Arten von Ergebnissen unterscheiden: Zum einen liefert der IQB-Bildungstrend Ergebnisse zur Frage, wie sich das erreichte Kompetenzniveau über die Zeit entwickelt hat. Hier zeigt sich im Vergleich der Jahre 2016 und 2021 für fast alle Länder ein deutlicher Abwärtstrend, auch für Bayern und Sachsen. Und zum anderen berichten wir Ergebnisse zur Frage, welches Kompetenzniveau in den einzelnen Ländern im Jahr 2021 erreicht wurde. In dieser Hinsicht schneiden Bayern und Sachsen in der Tat erneut, wie auch schon in früheren Schulleistungsstudien, besonders gut ab. Worauf dies genau zurückzuführen ist, lässt sich anhand der verfügbaren Daten allerdings nicht beantworten.

 

Überraschend sind die Ergebnisse aus Hamburg, das bei der ersten Erhebung zu den Schlusslichtern zählte. Zwar belegt Hamburg auch jetzt keinen Spitzenplatz, hat sich aber positiv abgesetzt, gerade im Vergleich zu den anderen Stadtstaaten Berlin und Bremen. Was ist da genau passiert?

Auch dies lässt sich anhand der verfügbaren Daten nicht genau beantworten, aber hier habe ich eine Vermutung. Hamburg zeichnet sich nämlich dadurch aus, dass es schon Ende der 1990er Jahre damit begonnen hat, eine datengestützte Schul- und Unterrichtsentwicklung zu etablieren, bei der auf verschiedenen Ebenen des Systems – der Schulbehörde, der Schulaufsicht, der einzelnen Schule – regelmäßig hingeschaut wird, wie sich verschiedene Rahmenbedingungen, Prozesse und Ergebnisse von Schule und Unterricht entwickeln. Das schließt Rückmeldungen über erreichte Lernstände und vor allem auch Lernentwicklungen ein, die Schulleitungen und Lehrkräfte zwischen der zweiten und neunten Jahrgangsstufe fast jährlich erhalten. Ein solches System der Qualitätsentwicklung erlaubt es den Akteur:innen, auf Problemlagen, die sich abzeichnen, gezielter und schneller zu reagieren. Wichtig ist vor allem, dass es in Hamburg verbindliche Strukturen gibt, in denen eine Auseinandersetzung mit den Ergebnissen stattfindet, sowohl innerhalb der Schulen als auch zwischen Schulen und Schulaufsicht, denn vom Testen allein wird natürlich nichts besser. Allerdings zeigt das Beispiel Hamburg auch, dass man einen langen Atem braucht. Obwohl die Effekte dieser Strategie nicht sofort sichtbar wurden, ist das Land drangeblieben, trotz zwischenzeitlicher Farbwechsel in der Bildungspolitik. Das ist bemerkenswert und scheint sich ausgezahlt zu haben.

 

Können Sie erkennen, warum andere Länder weniger erfolgreich sind? Zum Beispiel Berlin, Brandenburg, Bremen und Nordrhein-Westfalen in allen drei untersuchten Deutsch-Kompetenzbereichen?

Auf diese Frage gibt es keine einfachen Antworten, da sich die Herausforderungen zwischen den Ländern stark unterscheiden und man sehr genau hinschauen muss, um diese genauer zu bestimmen. Berlin zum Beispiel hat im Jahr 2019 eine Qualitätskommission damit beauftragt, das Bildungssystem des Landes von der Kita bis zur Sekundarschule zu durchleuchten. Auf dieser Grundlage sollte die Kommission wissenschaftlich fundierte Empfehlungen erarbeiten, wie die Lernziele besser erreicht und die Disparitäten im Bildungssystem reduziert werden können, mit besonderem Fokus auf der Förderung sprachlicher und mathematischer Kompetenzen. Der Bericht der Kommission, die von Olaf Köller geleitet wurde, ist äußerst aufschlussreich und zeigt, dass man das Gesamtgefüge eines Bildungssystems analysieren muss, um mögliche Ursachen mangelnder Ergebnisqualität zu identifizieren und um zu entscheiden, wo angesetzt werden sollte, um Verbesserungen herbeizuführen.

 

Die Ergebnisse des IQB-Bildungstrends sind gerade mit Blick auf Chancengerechtigkeit für Schülerinnen und Schüler alarmierend. Welche Befunde halten Sie für besonders problematisch?

Problematisch ist vor allem, dass die Kinder aus sozial schwächeren Familien und Kinder mit Zuwanderungshintergrund von den Abwärtstrends besonders stark betroffen sind. Die Schere geht also weiter auseinander. Das ist nicht nur für die Kinder selbst, sondern auch gesamtgesellschaftlich ein großes Problem.

 

Die aktuelle IQB-Untersuchung ist besonders spannend, weil sie den Leistungsstand von Viertklässlerinnen und Viertklässlern nach den Corona-Schulschließungen abbildet. Welchen Anteil hat der Lockdown nach Ihrer Einschätzung am Negativ-Trend?

Auch diese Frage können wir anhand unserer Daten nicht mit Sicherheit beantworten. Aber es spricht schon einiges dafür, dass die pandemiebedingten Einschränkungen des Schulbetriebs eine bedeutsame Rolle gespielt haben. Erstens sind fast alle Bundesländer von den Einbußen betroffen, auch solche Bundesländer, die in den Schulleistungsstudien allgemein sehr gute Ergebnisse erzielen. Zweitens finden wir in allen Kompetenzbereichen einen Abwärtstrend. Und drittens haben auch Studien in anderen Staaten deutliche Hinweise darauf gefunden, dass die Corona-Pandemie die schulische Lernentwicklung beeinträchtigt hat. Besonders eindrücklich zeigen dies Ergebnisse des Bildungsmonitorings in den USA, wo beispielsweise in Mathematik das von Neunjährigen erreichte Kompetenzniveau zwischen 1971 und 2020 kontinuierlich angestiegen, zwischen 2020 und 2022 dann aber abrupt abgefallen ist. Das ist sehr wahrscheinlich ein Effekt der Corona-Maßnahmen, von dem sicher auch Deutschland nicht verschont geblieben ist. Anders als in den USA hatten wir aber in Deutschland schon vor 2020 einen negativen Trend, der sich möglicherweise auch ohne die Pandemie fortgesetzt hätte, wenn auch wahrscheinlich weniger stark.

 

Sind die Corona-Aufholprogramme aus Ihrer Sicht geeignet, um die Rückstände durch die Pandemie auszugleichen?

Zusätzliche Förderung kann hilfreich sein, wenn sie gezielt und fundiert erfolgt. Erstens muss sichergestellt werden, dass wirklich diejenigen Schüler:innen die Förderung erhalten, die sie benötigen. Zweitens sollte sich die Förderung auf Kompetenzen beziehen, die für die weitere Lernentwicklung zentral sind. Und drittens ist wichtig, dass die Förderung kompetent und effektiv erfolgt. In den Ländern kommen im Rahmen des Aufholprogramms ja sehr unterschiedliche Maßnahmen zum Einsatz. Inwieweit diese erfolgsversprechend sind, hängt davon ab, wie sie angelegt und umgesetzt werden.

 

Was muss sich in der Bildungspolitik und an den Schulen grundsätzlich ändern, um den Trend umzukehren?

Alle Akteursgruppen im Bildungssystem müssen gemeinsam dafür Sorge tragen, dass der Anteil der Schüler:innen, die die Mindeststandards erreichen, erhöht wird. Mindeststandards beschreiben ja Kompetenzziele, von denen wir annehmen, dass sie für erfolgreiches Weiterlernen und Teilhabe grundlegend sind, und es ist davon auszugehen, dass Schüler:innen, die diese Kompetenzen nicht erwerben, Gefahr laufen, abgehängt zu werden. Hierfür muss zunächst einmal allen klar sein, welche Kompetenzziele mit den Mindeststandards verbunden sind. Und dann muss sich die Entwicklung von Unterrichts- und Förderkonzepten, die Entwicklung von Lernmaterial und auch die Schul- und Unterrichtsentwicklung stärker als bisher auch an diesen Kompetenzzielen orientieren. Wichtig ist außerdem, dass die Sprachförderung weiter verbessert wird, denn der Abwärtstrend ist für den Bereich Zuhören besonders groß und mündliches Sprachverstehen für das Lernen in allen Fächern zentral. Und Kinder, die zu Hause wenig Anregung erhalten, müssen schon in der Kita gezielter gefördert werden. Dieses Potenzial wird in Deutschland noch viel zu wenig genutzt.

 

Ist eine Trendumkehr angesichts des massiven Lehrkräftemangels jetzt und in den kommenden Jahren überhaupt realistisch?

Der Lehrkräftemangel ist in der Tat ein massives Problem und er macht es natürlich nicht leichter, eine Trendumkehr zu erreichen. Man wird darauf achten müssen, dass die Kernfächer Deutsch und Mathe abgedeckt sind und vor allem auch die Sprachförderung nicht vernachlässigt wird. Wichtig ist ebenfalls, dass die Quer- und Seiteneinsteigenden ebenso wie zusätzliches Personal gut vorbereitet und in den Schulen eingebunden werden. Nie wird Teamarbeit in Schulen so wichtig sein wie in dieser Zeit des Lehrkräftemangels, in Form von gemeinsamer Vorbereitung von Unterricht, dem Austausch von Lehr-Lernmaterial und der Weiterentwicklung von Unterrichtsqualität.

 


 

Prof. Dr. Petra Stanat

ist Direktorin des Instituts zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB) in Berlin. Die Bildungsforscherin und Psychologin befasst sich seit vielen Jahren mit Bildungsqualität und -monitoring.
Einer ihrer Forschungsschwerpunkte ist die Disparität im Bildungserfolg von Kindern


Bildungs- und Hochschulpolitik
Florian Dähne
florian.daehne(at)fes.de

Lena Bülow
lena.buelow(at)fes.de


Abteilung Analyse, Planung und Beratung

Bildungs- und Hochschulpolitik
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