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Die frühkindliche Bildung rückt wieder in den Fokus. Nicht wegen des eklatanten Personalmangels in den Kindertageseinrichtungen, sondern weil die Leistungen von Grundschülern und Grundschülerinnen weiter sinken. Kitas können viel bewegen, aber sie sind nicht der Reparaturbetrieb für politisches und schulisches Versagen.
Im Rampenlicht stehen die knapp 60.000 Kindertageseinrichtungen in Deutschland selten. Denn im Bildungssystem spielen Schulen meist die Haupt- und Kitas eine Nebenrolle, obwohl sie einen gesetzlich verankerten Erziehungs- und Bildungsauftrag haben. Aber immer, wenn der Hauptakteur schwächelt, wird der Ersatzspieler auf die Bühne geschoben. Das war nach dem ersten „Pisa-Schock“ im Jahr 2000 der Fall, als schlechte Schulleistungen die Diskussion über frühkindliche Bildung befeuerten. Und es geschieht heute wieder nach den Ergebnissen des letzten Bildungstrends vom Institut zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB).
Das Zeugnis, das Bildungsforscherinnen und -forscher den deutschen Schulen ausstellen, ist erschütternd: Vielen Viertklässlerinnen und Viertklässlern fehlt das Grundwissen in Mathematik, sie lernen nicht richtig schreiben und können auch einfache Texte nur schwer verstehen. Die Ständige Wissenschaftliche Kommission (SWK) der Kultusministerkonferenz kommt in ihrem jüngsten Gutachten zu dem schonungslosen Ergebnis, dass die Grundschulen und somit der Staat dem Bildungsauftrag nicht mehr für alle gerecht wird. Statt mehr Bildungsgerechtigkeit zeichnet sich ab, dass die ohnehin Benachteiligten – unter anderem bedingt durch Pandemie und Schulschließungen – noch weiter abgehängt werden.
Das ist eine Kapitulationserklärung, zumal es nicht nur um einen Verlust sprachlicher, mathematischer, also kognitiver Kompetenzen geht, sondern auch um die psychosoziale Entwicklung von Kindern. Die Schule als Ort der Sozialisation, als Wegbereiter für demokratische Fähigkeiten und als Garant für mehr Bildungsgerechtigkeit scheint zunehmend zu scheitern. Die Wucht dieser Erkenntnis federt die SWK mit Empfehlungen ab, die einen Ausweg aus dem Dilemma weisen sollen. Neben der „Konzentration auf basale Kompetenzen“ in der Grundschule und der Mahnung, mehr auf evidenzbasierte Konzepte zu setzten (also Unterrichts- und Fördermethoden zu verwenden, die laut Forschung auch tatsächlich wirken), rücken die Kitas in den Fokus. Spot auf die frühkindliche Bildung als Rettungsanker für die Schulmisere.
Diskussion über Kita-Pflicht
Die CDU-Kultusministerin von Schleswig-Holstein und KMK-Vorsitzende im vergangenen Jahr, Karin Prien, setzt auf „Vorläuferkompetenzen vor der Grundschule“, um sprachliche und mathematische Fähigkeiten der Kinder zu stärken. Für Drei- bis Vierjährige soll es eine flächendeckende Diagnostik geben, damit Kinder mit Förderbedarf früher erkannt werden. Der oft holprige Übergang von der Kita in die Schule soll geschmeidiger werden. Auch die Idee einer Kita-Pflicht tauchte einmal wieder aus der Versenkung auf, um nach kurzer und heftiger Debatte wie das Ungeheuer von Loch Ness erneut zu verschwinden. Die Prognose sei gewagt, dass das Thema beim nächsten schulischen Leistungsvergleich ein Comeback erlebt.
Die Analysen und Vorschläge aus Wissenschaft und Politik nach dem Bildungstrend-Desaster sind nicht falsch. Im Gegenteil. Es liegt auf der Hand und ist durch die Forschung hinreichend belegt, dass frühkindlich Bildung und Erziehung den Grundstein für eine erfolgreiche Lernbiografie junger Menschen legen kann. Neben dem Elternhaus hat die Kita daran den größten Anteil. Hamburg etwa zeigt, dass konsequente Sprachstandserhebungen und verpflichtende Sprachförderung für Vorschulkinder sich positiv auswirken. Zumindest führen verschiedene Bildungsexperten das einigermaßen gute Abschneiden der Hamburger Grundschüler beim IQB-Bildungstrend unter anderem darauf zurück.
Trotzdem reiben sich viele Erzieherinnen und Erzieher in den deutschen Kindertageseinrichtungen gerade teils verwundert, teils verärgert die Augen über die Wunschliste an die frühkindliche Bildung, die Wunder vollbringen soll. Denn sie kollidiert mit den aktuellen Arbeits- und Rahmenbedingungen, die katastrophal sind. Stand nicht gerade erst das Bundesprogramm „Sprach-Kitas“ vor dem Aus? Jetzt geht es zwar in die Verlängerung, aber ob die Länder, wie geplant, die wichtige Förderung für Kitas mit einem hohen Anteil von Kindern mit Sprachdefiziten dauerhaft übernehmen, ist ungewiss. Dabei ist der alltagsintegrierte Ansatz dieser Förderung laut Studien besonders wirksam. Voraussetzung: es gibt frühpädagogischen Fachkräfte, die dafür geschult sind.
Kita-System vor dem Kollaps
Und hier beginnt Teil zwei des Problems: Nach konservativen Schätzungen fehlen in den kommenden Jahren bis zu 180.000 pädagogische Fachkräfte in den Kitas, vor allem in Westdeutschland. Es gibt berechtigte Warnungen vor einem Kollaps des Systems. Schon jetzt sind in vielen Einrichtungen die Betreuungszeiten eingeschränkt, häufig ist nur noch ein Notbetrieb möglich. Obwohl das so genannte Gute-Kita-Gesetz eigentlich mehr Qualität bringen soll, auch höhere Personalquoten und damit bessere Betreuungsschlüssel, werden Gruppen zusammengelegt, auch bei den Kleinsten. Die Arbeitsbedingungen haben sich nach Angaben von Expertinnen und Experten derart verschlechtert, dass langjährige Fachkräfte ausfallen oder kündigen. Auch frisch ausgebildetes, junges Personal kehrt laut der Bildungsgewerkschaft GEW der Kita den Rücken und schaut sich nach Jobs mit weniger Stress und besserer Bezahlung um. In der „Zeit“ brachte der Psychologe und Kindheitsforscher Klaus Fröhlich-Gildhoff die Misere kürzlich auf den Punkt: „Es ist eine Massenabfertigung, was derzeit droht. Die Kita als eine Bildungseinrichtung, als ein Ort, an dem man auf Bedürfnisse von Kindern eingeht – von diesen Ansprüchen verabschieden wir uns gerade.“
Wenn aber nicht einmal Mindeststandards bei der Betreuung eingehalten werden können, wie sollen Kindertageseinrichtungen dann Bildung vermitteln? Wenn Kommunen wegen Personalmangels schon jetzt den Rechtsanspruch auf einen Kita-Platz nicht mehr erfüllen können, was bringt dann eine Debatte über eine Kita-Pflicht? Wie sollen Erzieherinnen und Erzieher dafür sorgen, dass Kinder gut vorbereitet in die Schule starten, wenn für Bildungsarbeit und Förderung im Alltag gar keine Zeit bleibt? Wie sollen Kitas den Grundstein für mehr Bildungsgerechtigkeit legen, wenn Personallücken mit schlecht qualifizierten Quereinsteigerinnen geschlossen werden?
Es ist gut, dass die Kita durch die Misere in den Schulen wieder mehr Aufmerksamkeit bekommt. Aber Reformen bei der frühkindlichen Bildung dürfen nicht nur in diesem Kontext diskutiert werden. Die Kitas taugen nicht als Reparaturbetrieb für vermasselte Schulleistungsvergleiche. Sie sind eigenständige Bildungseinrichtungen, denen das Wasser gerade bis zum Hals steht. Sie brauchen eine Fachkräfteoffensive, die wirkt. Sie brauchen multiprofessionelle Teams, mehr Ressourcen, finanzielle Anreize für qualifizierte Nachwuchskräfte und mehr Möglichkeiten gerade für gut ausgebildetes Personal, sich im Job weiterzuentwickeln. Und sie brauchen noch mehr Forschung, um die Wirkung frühkindlicher Förderung besser abzusichern. Erst wenn diese Rahmenbedingungen stimmen, können Schulen sich auf Kinder freuen, die auf das Leben und das Lernen gut vorbereitet sind.
Katja Irle ist Bildungs- und Wissenschaftsjournalistin, Moderatorin und Autorin. Außerdem arbeitet sie als Nachrichtenredakteurin und -sprecherin für die Hörfunkwellen des Hessischen Rundfunks.
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