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Das von der Bundesregierung geplante Startchancenprogramm soll 4.000 Schulen in benachteiligten Lagen unterstützen. Das Ziel: mehr Chancengerechtigkeit. Eine Kommission aus Expertinnen und -experten hat für die Friedrich-Ebert-Stiftung Empfehlungen für die Ausgestaltung erarbeitet. Im Interview beschreibt die Vorsitzende Prof. Hanna Dumont, wie die Förderung aufgestellt sein sollte.
Mit dem Startchancen-Programm will die Bundesregierung Kindern und Jugendlichen unabhängig von ihrer sozialen Lage bessere Bildungschancen ermöglichen. Ursprünglich war die Rede vom Start im kommenden Jahr. Jetzt soll die Förderung frühestens im Schuljahr 2024/25 losgehen. Drohen Ukraine-Krieg und Energiekrise bildungspolitische Ziele von der Agenda zu verdrängen? Nein. Mein Eindruck ist, dass die Politik das Thema Bildungsgerechtigkeit sehr ernst nimmt, gerade nach den jüngsten alarmierenden Befunden des IQB-Bildungstrends. Ich glaube, dass hinter den Kulissen viel passiert. Bund, Länder und Kommunen sind über ein sehr komplexes Thema miteinander im Gespräch. Ich halte deshalb nichts von einem Schnellschuss. Das Startchancenprogramm muss richtig vorbereitet werden, damit es gut wirken kann. Eine Anregung für die konkrete Ausgestaltung haben wir jetzt mit unseren Empfehlungen vorgelegt.
Im Koalitionsvertrag liest sich das Programm mit seinen geplanten milliardenschweren Investitionen wie ein großer Wurf. Allerdings bemüht sich Deutschland seit Jahrzehnten mit nur mäßigem Erfolg um mehr Chancengerechtigkeit. Seit der Pandemie mit den Schulschließungen scheint die Schere zwischen Bildungsgewinnern und -verlierern noch weiter aufzugehen. Wie erklären Sie sich das? Gerade im Vergleich zu anderen Ländern fehlt uns nach wie vor eine Art Frühwarnsystem. Wir brauchen auf der Ebene der einzelnen Schulen und der Lehrkräfte ein allgemeines Verständnis dafür, wann Schülerinnen und Schüler die Basiskompetenzen, etwa beim Lesen, Schreiben und Rechnen, nicht erreichen. Und spätestens dann müsste sofort der Apparat zum Gegensteuern anspringen – mit einer Förderung, die bei jedem einzelnen Kind ankommt.
Es gibt aber doch schon lange Landes-Vergleichsarbeiten wie Vera, das nationale IQB-Monitoring auf Basis der Bildungsstandards der Kultusministerkonferenz, die internationalen Pisa-Vergleichsstudien. Reichen alle diese Werkzeuge und empirischen Befunde noch nicht aus? Die IQB-Bildungstrends und die PISA-Studie machen keine Individualdiagnostik, d.h. sie erlauben keine Aussagen über einzelne Schülerinnen und Schüler. Mit VERA ist dies möglich, aber hier können wiederum keine Aussagen über Lernverläufe gemacht werden. Dafür benötigt man eine gute Lernverlaufsdiagnostik, so dass die Schulen und Lehrkräfte sofort sehen, wann und wo es brennt. Es muss in den einzelnen Schulen und in den Köpfen der Lehrerinnen und Lehrer noch mehr verankert werden, was Kinder in verschiedenen Klassenstufen können müssen. Allerdings gibt es solch eine Lernverlaufsdiagnostik – im Gegensatz zu vielen anderen Ländern – nicht flächendeckend in Deutschland. Manche Bundesländer haben damit begonnen, aber das ist längst nicht überall der Fall. Und wenn dann noch äußere Faktoren wie Integration von Flüchtlingskindern in kurzer Zeit oder Schulschließungen in der Pandemie dazu kommen, dann fallen viele Kinder durchs Raster. Deshalb brauchen Schulen in benachteiligten Lagen viel mehr Unterstützung.
Genau das soll das Startchancen-Programm mit seinen drei Säulen leisten. 4.000 allgemein- und berufsbildende Schulen werden laut Plan mit besserer Infrastruktur, einem so genannten Chancenbudget, und mehr Sozialarbeit ausgestattet. Wo soll die Förderung aus Sicht der Kommission vor allem ansetzen? Das Programm sollte natürlich die Basiskompetenzen benachteiligter Schülerinnen und Schüler im Lesen, Schreiben und Rechnen nach den Bildungsstandards der KMK stärken. Aber für schulisches Lernen sind nicht nur kognitive Ergebnisse relevant. Es geht auch darum, die Motivation zu fördern und junge Menschen für das Leben in einer demokratischen Gesellschaft zu befähigen. Deshalb schlagen wir vor, Mindeststandards für eine gesellschaftliche Teilhabe zu definieren und sie zur Grundlage des Startchancen-Programms zu machen. Es sollte klar gemacht werden, wie die 4.000 ausgewählten Schulen das erreichen – und damit zum Modell für ganz Deutschland werden können.
Nach welchen Kriterien sollten die Schulen ausgewählt werden? Damit auch wirklich die Schulen mit den größten Problemen unterstützt werden, muss es einen einheitlichen und zuverlässigen Indikator geben – und das könnte aus unserer Sicht der Anteil von Schülerinnen und Schülern sein, deren Familien Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch II erhalten. In Ländern mit Sozialindizes könnte die Auswahl auch darüber laufen. Was nicht wieder passieren darf: Geld mit der Gießkanne verteilen.
Üblich ist aber die Verteilung von Bundesmitteln an die Länder nach dem Königsteiner Schlüssel. Ja, aber dieses Verfahren würde den Zielen des Startchancen-Programms entgegenstehen. Es hätte zur Folge, dass die finanzstärkeren Länder mit höherem Steueraufkommen mehr Förderung bekämen als andere. Wir wissen aber, dass etwa die Stadtstaaten viele Schulen in benachteiligten Lagen haben. Auch große Flächenländer wie Nordrhein-Westfalen mit dem Ballungsraum Ruhrgebiet brauchen besondere Unterstützung. Eine Verteilung nach dem Königsteiner Schlüssel würde das Startchancen-Programm ad absurdum führen.
Die erste Säule des Programms verspricht Investitionen in die Infrastruktur. Demnach sollen Schulen „modern, klimagerecht und barrierefrei werden“. Wird das den jahrzehntelangen Sanierungsstau an den Schulen auflösen? Nein. Wenn man mit dem Programm die vorhandenen Defizite ausgleichen möchte, dann müsste hier sehr viel mehr Geld fließen als geplant. Der Investitionsbedarf wird bundesweit auf mehr als 45 Milliarden Euro geschätzt. Deshalb schlagen wir Bund, Ländern und Kommunen vor, zusätzlich ein Sonderprogramm „Schulbau“ aufzulegen. Nur so könnte über das Startchancen-Programm hinaus etwas bewirkt werden.
Zweite Programm-Säule ist das „Chancenbudget“, das den ausgewählten Schulen laut Koalitionsvertrag vom Bund frei zur Verfügung gestellt werden soll, um Schule, Unterricht und Lernangebote weiterzuentwickeln. Wie bewerten Sie das? Die empirische Bildungsforschung zeigt ganz klar: Es bringt nichts, einfach nur mehr Geld auszuschütten. Aus unserer Überzeugung muss die finanzielle Unterstützung deshalb mit klaren Zielen und wirksamen Maßnahmen verknüpft sein, die auf der Ebene der Schul- und Unterrichtsstruktur nachweislich etwas verändern. Die Idee ist, dass das Chancenbudget Prozesse der Schul- und Unterrichtsentwicklung anregt, die dann auch in der Breite, also nicht nur an einer einzelnen Schule wirken können.
Sie schlagen Zielvereinbarungen zwischen Schulen und Schulaufsicht mit datenbasierten Überprüfungen vor. Konkret: die Basiskompetenzen der Schülerinnen und Schüler sollen regelmäßig gemessen werden. Wie offen sind die Schulen für diese Kontrollen und den Mehraufwand? Das ist, ehrlich gesagt, ein wunder Punkt. Denn die Schulen befürchten natürlich, dass sie diese Zusatzaufgaben allein stemmen müssen. Deshalb muss es Unterstützungsstrukturen auf allen Ebenen geben. Möglich wäre eine interne Evaluation, bei der die Schulen Unterstützung bekommen – etwa von der Schulaufsicht, Landesinstituten oder Qualitätsagenturen.
Das Startchancen-Programm soll als dritte Säule Schulsozialarbeit finanzieren, allerdings wegen des im Grundgesetz verankerten Kooperationsverbots nur in engen Grenzen. Was schlagen Sie hier vor? Gerade in den benachteiligten Schulen geht es nicht nur um die Frage, warum ein Kind nicht lesen oder schreiben kann. Da gibt es häufig auch psychosoziale Herausforderungen und familiäre Belastungen. Dafür brauchen wir dringend mehr Schulsozialarbeit – und zwar langfristig. Deshalb sollten Bund, Länder und Kommunen sich verpflichten, gleich nach dem Start des Programms eine verfassungsrechtliche Grundlage zu schaffen, mit der die Finanzierung verstetigt werden kann.
Das alles setzt eine reibungslose Zusammenarbeit der Akteure in Bund, Ländern und Kommunen voraus. Wie groß ist Ihr Optimismus, dass diesmal alle an einem Strang ziehen? Das alarmierende Ergebnis des IQB-Bildungstrends war ein Weckruf. Manche sprechen sogar von einem zweiten Pisa-Schock. Deshalb habe ich die Hoffnung, dass die Verantwortlichen zusammenarbeiten und sich nicht gegenseitig blockieren. Was am Ende konkret herauskommt, kann ich natürlich nicht vorhersehen. Aber das Potenzial für eine gute Gesamtstrategie gegen Bildungsbenachteiligung ist da.
Wären die geförderten Schulen trotz großen Personalmangels überhaupt in der Lage, die angestoßenen Reformen umzusetzen? Der Lehrkräftemangel ist das wohl größte Risiko für das Startchancen-Programm. Aber vor diesem Totschlagargument sollte man nicht kapitulieren. Stattdessen bietet das Programm die Chance, besonders belastete Lehrkräfte zu unterstützen, damit diese langfristig dem Schulsystem erhalten bleiben.
Hanna Dumont ist Professorin für Pädagogische Psychologie an der Universität Potsdam mit dem Schwerpunkt schulische Lehr-Lern-Prozesse. Sie hatten den Vorsitz der Kommission mit Expertinnen und Experten, die für die Friedrich-Ebert-Stiftung Empfehlungen zum Startchancen-Programm erarbeitet hat
Das Startchancen-Programm ist ein zentrales bildungspolitisches Vorhaben des aktuellen Koalitionsvertrags. Es verspricht gezielte und spürbare Unterstützung für 4.000 Schulen mit einem hohen Anteil sozial benachteiligter Schülerinnen und Schüler und soll einen wesentlichen Beitrag leisten zur Schaffung von mehr Bildungsgerechtigkeit und Teilhabechancen. Eine Kommission mit Expertinnen und Experten aus Bildungswissenschaften, Verwaltung und Bildungspraxis hat für die Friedrich-Ebert-Stiftung Empfehlungen für die politische Ausgestaltung der verschiedenen Säulen des Programms formuliert.
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