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Ein Jahr Zeitenwende: drei Lehren für die deutsche Politik

Die Zeitenwende hat begonnen, ist aber noch lange nicht abgeschlossen. Dr. Alexandra Dienes fragt, ob die öffentliche Unterstützung auch in Zukunft hält und welche Aspekte dabei zentral sind.

 

Deutsche Flugabwehrpanzer in Kiew, die Ukraine als EU-Beitrittskandidat, gesprengte Gaspipelines zwischen Deutschland und Russland und die deutsche Öffentlichkeit diskutiert die Vor- und Nachteile von Kampfjets in jeder zweiten Talkshow. Ein Jahr nach der historischen Zeitenwende-Rede von Bundeskanzler Olaf Scholz, sind viele Anzeichen dieser Zäsur bereits erkennbar. Entscheidend bleibt, dass es für die aktuelle Situation keine Blaupause gibt und die weitere Entwicklung der Zeitenwende offen ist. Weder ein Eskalationsszenario noch die Möglichkeit eines lange andauernden Abnutzungskrieges lassen sich ausschließen.

 

Die bemerkenswerte ukrainische Kampfbereitschaft hat im Laufe des Jahres nicht nachgelassen, nicht zuletzt dank der massiven Militärhilfe aus dem Westen. Dieser hat eine beachtliche Einigkeit bewiesen, die kürzlich bei einem Gipfelmarathon beschworen wurde. Dennoch scheint ein Ende des Krieges nicht in Sicht und die Hoffnung auf eine diplomatische Lösung ist in weite Ferne gerückt. Putins jüngste Rede zur Lage der Nation legt nahe, dass sich Russland endgültig vom Westen und einer regelbasierten Ordnung zu verabschieden scheint. Trotz hoher Verluste gibt es seinen Angriffskrieg nicht auf.

 

Die russische Invasion leitete einen tiefgreifenden Wandel in Deutschland ein, der bis heute andauert. Er umfasst eine Kehrtwende in der Russlandpolitik und der Energiepolitik, die größte Aufstockung des Verteidigungshaushalts seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges und den politischen Tabubruch Waffen in ein Kriegsgebiet zu liefern, angefangen bei 5.000 Helmen bis hin zu Leopard-Kampfpanzern im Januar 2023. Innerhalb eines Jahres hat sich Deutschland von einem viel kritisierten Nachzügler zu einem der wichtigsten militärischen Unterstützer der Ukraine gewandelt – bleibt aber weiterhin der Kritik nach dem Motto „too little – too late“ ausgesetzt.

 

Die öffentliche Unterstützung für die Zeitenwende könnte brüchig werden

 

Die deutsche Öffentlichkeit unterstützt die Zeitenwende. Die Neubewertung der Sicherheitslage und konkret des Verhältnisses zu Russland (aber auch zu China) ist tiefgreifend. Hinzu kommt eine starke Bereitschaft, die wirtschaftliche Abhängigkeit von diesen Staaten zu reduzieren. Erstmals seit Jahrzehnten befürwortet eine Mehrheit der Deutschen eine Erhöhung der Verteidigungsausgaben. Gleichzeitig zeigt sich aber in der öffentlichen Meinung wie in der Debatte eine starke Kontinuität der Kultur der Zurückhaltung. Die Fokussierung auf Frieden, die grundsätzliche Skepsis gegenüber militärischen Instrumenten und die Hoffnung auf eine Verhandlungslösung sind Zeichen dafür.

 

Dies zeigt, dass die gegenwärtige öffentliche Unterstützung für die Zeitenwende brüchig werden könnte. Drei Aspekte sind dabei von Bedeutung:

 

Erstens, die politisch-militärische Ebene: Der Krieg in der Ukraine ist nicht nur ein Drama für das betroffene Land, sondern bleibt auch eine potenzielle Bedrohung für die Sicherheit Deutschlands. Das erzeugt Ängste und Sorgen in der Bevölkerung. Viele Menschen glauben, dass der Krieg noch lange andauern wird und setzen auf eine diplomatische Lösung. Gleichzeitig spaltet die Frage nach weiteren Waffenlieferungen an die Ukraine die Gesellschaft - nur eine hauchdünne Mehrheit ist dafür. Skepsis herrscht auch im Hinblick auf einen Betritt der Ukraine zu EU und NATO. Möglicherweise fürchten die Menschen eine Eskalation des Konflikts oder zweifeln an der Eignung der Ukraine als Mitgliedsland.

Eine klare rote Linie ist die Entsendung deutscher Truppen in die Ukraine - drei Viertel der Befragten lehnen einen solchen Schritt ab.

 

Der Wandel von „Frieden schaffen ohne Waffen“ zu „Frieden schaffen mit Waffen“ ist in der Gesellschaft mithin nicht erfolgt. Es gilt zu hinterfragen, ob Frieden langfristig mit mehr Waffen gesichert werden kann. Vor diesem Hintergrund ist es geboten, dass die Bundesregierung die Unterstützung der Ukraine weiterhin sehr genau gegen das Risiko einer möglichen Kriegseskalation abwägt. Dabei sollte die verantwortungsethische Maxime handlungsleitend sein: Der Zweck darf nicht jedes Mittel heiligen. So rechtfertigt die Verteidigung der ukrainischen Souveränität beispielsweise nicht den Einsatz international geächteter Waffen. Deshalb ist die deutsche Absage der ukrainischen Forderung nach Streumunition absolut richtig. 

 

Zweitens, die wirtschaftliche Dimension der Zeitenwende. Sie ist für Deutschland nicht minder folgenreich. Gegenwärtig ist die öffentliche Meinung positiv, wenn es garum geht, die Abhängigkeit von Russland und China zu verringern. Die langfristigen Kosten des Krieges und der wirtschaftlichen Entkopplung sind den Befragten jedoch kaum bewusst. Ohne kompensatorische Investitionen in Produktivitätssteigerungen und Innovationen werden die anhaltend hohen Energiekosten die Wettbewerbsfähigkeit des Industriestandortes Deutschland und damit unzählige Arbeitsplätze gefährden. Die Abfederung der unmittelbaren Kriegsfolgen durch den 200-Milliarden schweren „Doppelwumms“ ist folgerichtig und mag die Bevölkerung entlasten. Sollte der Effekt aber nicht ausreichen, um die langfristigen Kosten und möglicherweise sinkende Lebensstandards auszugleichen, könnte es kritisch werden. Wenn Sozialkürzungen notwendig werden, um neue Waffen für die Bundeswehr zu beschaffen, wird es besonders schwierig sein, die Wähler_innen von nachhaltig hohen Militärbudgets zu überzeugen. Der Spielraum könnte sich weiter verengen, wenn der Finanzminister mit dem Beharren auf die Einhaltung der Schuldenbremse dieses Dilemma schon in den nächsten Jahren zuspitzt.

 

Drittens, die europäische Ebene. Ein Blick auf die öffentliche Meinung in Deutschland, Frankreich, Lettland und Polen zeigt, dass der Krieg zu mehr Gemeinsamkeiten geführt hat. Das betrifft das veränderte Russlandbild, die Bereitschaft, die Ukraine zu unterstützen, auch die rote Linie bei der Truppenentsendung wird ebenso geteilt wie der Wunsch nach dem Aufbau einer gemeinsamen Europäischen Armee. Die Einigkeit in der EU ist also nicht nur das Ergebnis politischer Entscheidungen, sondern eine echte Annäherung der Wahrnehmungen. Jedoch ist das Fundament des Vertrauens zwischen den Staaten fragil. Besonders besorgniserregend ist vor allem das tiefe gegenseitige Misstrauen zwischen Polen und Deutschland. Zudem gibt es weiterhin sehr unterschiedliche Vorstellungen über Wege zur Beendigung des Krieges, zum Umgang mit China aber auch darüber, ob die Ukraine Mitglied der EU werden soll.

 

Die Zeitenwende ist nun Teil der politischen Auseinanderstzung

 

Die Zeitenwende hat begonnen, ist aber keineswegs abgeschlossen. Sie ist nun vielmehr Gegenstand der politischen Auseinandersetzung. Der Ausgang des Krieges ist dabei eine große Unbekannte. Deshalb bedarf es einer ernsthaften politischen Debatte über die weitere Gestaltung der Zeitenwende. Diese darf sich nicht allein auf die Entwicklungen auf dem Schlachtfeld und das nächste zu liefernde Waffensystem konzentrieren, sondern muss die langfristigen Folgen der Zeitenwende in den Blick nehmen. Das bedeutet eine Debatte über europäische Sicherheit, die das zukünftige institutionelle Gefüge des Kontinents ergebnisoffen in den Blick nimmt und dabei auch eine Anknüpfung an die Erfahrungen mit der KSZE im Kalten Krieg vollzieht. Dazu gehört auch die Beschäftigung mit einem resilienteren und nachhaltigeren Wirtschaftsmodell Deutschlands, das die Vor- und Nachteile von Interdependenz abwägt.

 

Bisher hat die Öffentlichkeit den Kurs der Regierung mehrheitlich wohlwollend begleitet. Angesichts der Geschwindigkeit und Gleichzeitigkeit der massiven Herausforderungen ist dies bemerkenswert. Die öffentliche Unterstützung ist umso beeindruckender, als es zu Beginn des Krieges keine angemessene parlamentarische oder gar öffentliche Debatte über die schwerwiegenden politischen Entscheidungen, einschließlich einer Grundgesetzänderung, gab. Dies bedeutet einen Vertrauensvorschuss in die Arbeit der Regierung, der aber vor allem den kurzfristigen Maßnahmen in der akuten Krisensituation galt. Langfristig ist eine breite und kritische gesellschaftliche Debatte unabdingbar.

 

In einer volatilen Sicherheitslage mit ungewissen politischen und wirtschaftlichen Auswirkungen braucht es eine kommunikative Begleitung der Zeitenwende. Andernfalls kann die öffentliche Unterstützung der Regierungspolitik und vor allem die Bereitschaft, den Preis für die Zeitenwende zu zahlen, bröckeln.

 

Dr. Alexandra Dienes ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Regionalbüro für Frieden und Sicherheit der Friedrich-Ebert-Stiftung in Wien.

 

Die im Artikel zum Ausdruck gebrachten Meinungen und Äußerungen der Gastautorin spiegelt nicht die Haltung der Redaktion oder der Friedrich-Ebert-Stiftung wieder.


Bildungs- und Hochschulpolitik
Florian Dähne
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