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„Guter Unterricht muss passen“

Ein Kurzinterview mit Prof. Dr. Miriam Vock zum Umgang mit Heterogenität in Schule und Unterricht.

Bild: Miriam Vock

Miriam Vockist Professorin für Empirische Unterrichts- und Interventionsforschung an der Universität Potsdam sowie Autorin einer FES-Studie zum Umgang mit Heterogenität in Schule und Unterricht. Im Kurzinterview beantwortet sie uns einige Fragen zum Thema.

FES: In Ihrer Studie zum Umgang mit Heterogenität in Schule und Unterricht betonen Sie „Guter Unterricht muss passen“! Was müssen Bildungskonzepte im Besonderen beinhalten, um Heterogenität in Schule und Unterricht zu begegnen und mitzudenken?

Vock: In jeder Schulklasse sitzen Schüler_innen zusammen, die sich in vielerlei Hinsicht voneinander unterscheiden, das betrifft zum Beispiel unterschiedliche Entwicklungsstände, Begabungsschwerpunkte, individuelle Stärken und Schwächen. Auch der familiäre Hintergrund ist oft sehr heterogen, Schüler_innen bekommen im Elternhaus unterschiedlich viel Unterstützung und die Sprache, die zuhause gesprochen wird, ist bei Familien mit Migrationsgeschichte nicht die gleiche wie die Unterrichtssprache. Vor diesem Hintergrund sehr unterschiedlicher Lernvoraussetzungen ist klar, dass ein traditioneller Unterricht nach dem Motto „One size fits all“, in dem alle Kinder stets zur gleichen Zeit in gleichem Tempo die gleichen Lernfortschritte machen sollen, nicht das optimale Modell sein kann. Ein Unterricht im Gleichschritt führt dazu, dass ein Teil der Klasse vom Unterricht überfordert, ein anderer Teil unterfordert wird. Erfolgreiches Lernen funktioniert jedoch dann am besten, wenn das Unterrichtstempo zu den individuellen Lernmöglichkeiten passt und die Anforderungen leicht über dem aktuellen Wissensstand liegen. Ein Unterricht, der alle Schüler_innen angemessen fordert, muss daher adaptiv sein.

Wichtig für einen differenzierten Unterricht ist es, dass die Lehrkräfte die individuellen Lernstände und vor allem auch Wissenslücken ihrer Schüler_innen sicher erkennen können. Der Unterricht kann dann jeweils dort ansetzen, wo die Schüler_innen stehen. Für die Lehrkräfte ist das eine sehr hohe Anforderung, und sie benötigen für adaptiven Unterricht noch mehr Unterstützung als sie bisher bekommen.

 

Sie befassen sich in der Studie unter anderem auch mit der Integration geflüchteter Kinder im schulpflichtigen Alter. Welche neuen Anforderungen stellt dies an das Schulsystem und die Unterrichtsgestaltung?

Allein im Jahr 2015 sind Schätzungen zufolge rund 150.000 Kinder und Jugendliche im schulpflichtigen Alter nach Deutschland geflohen und besuchen nun hier eine Schule. Schätzungsweise zwei Prozent der Gesamtschülerschaft haben einen Fluchthintergrund. Diese neu hinzugekommenen Schüler_innen haben nicht selten traumatische Erfahrungen im Heimatland und auf der Flucht gemacht, sprechen zunächst kein oder nur wenig Deutsch und müssen sich in Deutschland – oft unter sehr prekären Lebensbedingungen – erst einleben. Bei den im Jahr 2015 in aller Eile eingerichteten „Willkommensklassen“ für Geflüchtete mangelte es an tragfähigen Konzepten und Materialien für den Unterricht und an genügend qualifiziertem Personal. Manchmal gab es an Schulen nicht einmal geeignete Räume, um diese Klassen vernünftig unterzubringen. Auch für die Frage: „Wann erfolgt ein Übergang in die Regelklasse und wie wird er gestaltet?“ gibt es noch nicht hinreichend gute und geprüfte Konzepte. Selbstverständlich müssen geflüchtete Kinder und Jugendliche zu allererst gut Deutsch lernen. Aber auch ihre Muttersprache sollte, wie in anderen Ländern längst üblich, weiter gefördert werden. Hier fehlt es aber noch an flächendeckenden, qualitativ hochwertigen Angeboten muttersprachlichen Unterrichts. Eine weitere „Baustelle“ im Bildungssystem besteht in der schulischen Ausbildung geflüchteter junger Erwachsener, die nicht mehr der Schulpflicht unterliegen, aber aufgrund ihrer Flucht noch keinen Schulabschluss haben. Bei der Elternarbeit sind Lehrkräfte damit konfrontiert, dass die neu zugewanderten Familien mit dem hiesigen Bildungssystem nicht vertraut sind und vieles in den Schulen ihrer Heimatländer anders gehandhabt wurde als hier.  

 

Das von Ihnen initiierte Pilotprojekt Refugee Teachers Welcome will vor allem geflüchteten Lehrer_innen den Einstieg in das deutsche Schulsystem ermöglichen. Welches besondere Potential bieten Lehrkräfte mit Fluchterfahrung?

Unter den vielen Menschen, die nach Deutschland geflüchtet sind, sind auch viele berufserfahrene Lehrer_innen. Deren Qualifikationen wurden in unserem Land jedoch erst einmal nicht abgerufen. Viele geflüchtete Lehrkräfte saßen daher ohne Job in Flüchtlingsunterkünften oder versuchten, sich mit Hilfsarbeiten durchzuschlagen. An der Universität Potsdam, an der wir in jedem Jahr einige hundert Lehramtsstudierende ausbilden, nahmen wir uns vor, geflüchtete Lehrkräfte für den Einsatz an Schulen in Deutschland zu qualifizieren. Wir haben dieses Programm im Frühjahr 2016 gestartet, weil wir glauben, dass geflüchtete Lehrkräfte gute Brückenbauer zwischen den neu zugewanderten Kindern, Jugendlichen und Eltern auf der einen Seite und dem deutschen Schulsystem mit seinen Lehrkräften auf der anderen Seite sein können. Sie kennen Sprache, Kultur und Bildungssystem der Heimatländer der geflüchteten Kinder und Jugendlichen. Gleichzeitig lernen sie in unserem Programm sehr intensiv und sehr schnell Deutsch und sie lernen das deutsche Schulsystem in Theorie und Praxis kennen. Wir setzen darauf, dass sie als Vorreiter_innen für Integration in den Schulen wirken können. Seit Oktober 2017 sind die ersten Absolvent_innen unseres Programms als Assistenzlehrkräfte in Schulen im Land Brandenburg tätig.

 

Was benötigen Schulen, um sie im Entwicklungsprozess hin zu bedürfnisgerechtem und inklusivem Unterricht zu unterstützen?

Ein adaptiver Unterricht, der auf individuelle Unterschiede eingeht und gleichzeitig auf gemeinsames Lernen sehr verschiedener Schüler_innen setzt, ist sehr anspruchsvoll und bedeutet viel Arbeit für die Lehrer_innen. Regelmäßige Diagnostik von Lernständen etwa kostet Zeit, die die Lehrkräfte aufbringen müssen. Formate wie Gruppenarbeit, Projektarbeit und die Förderung von Kindern mit Lernrückständen funktionieren nicht gut ohne genügend Ressourcen. Dazu gehören genügend qualifizierte Lehrkräfte, geeignete Materialien und schlicht Platz – z. B. ein zweiter Raum, in den sich eine Kleingruppe zurückziehen kann. Der Ausbau von Schulen zu Ganztagsschulen hat hierbei großes Potenzial, da prinzipiell mehr Zeit, Personal und Räume zur Verfügung stehen. Dieses Potenzial wird an Ganztagsschulen heute leider oft noch zu wenig genutzt. Auch die Lehreraus- und -fortbildung spielen eine wichtige Rolle, damit Lehrkräfte in Methoden und Techniken für einen adaptiven, differenzierten Unterricht sattelfest sind. Generell kann man sagen, dass die Idee eines adaptiven Unterrichts für viele Schulen, insbesondere weiterführende Schulen, einen echten Paradigmenwechsel darstellt, der viel Umdenken und Engagement erfordert. 

Mehr zum Thema erfahren Sie auch auf den FES-Veranstaltungen "Integration durch Bildung. Im Fokus: Schule und Ausbildung" am 03.11.2017 in Magdeburg und am 17.11.2017 in Bremen

Kontakt: Marion Stichler, Bildungs- und Hochschulpolitik, Friedrich-Ebert-Stiftung Berlin

 

Vock, Miriam; Gronostaj, Anna

Umgang mit Heterogenität in Schule und Unterricht

Berlin, 2017

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Bildungs- und Hochschulpolitik
Florian Dähne
florian.daehne(at)fes.de

Lena Bülow
lena.buelow(at)fes.de


Abteilung Analyse, Planung und Beratung

Bildungs- und Hochschulpolitik
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10785 Berlin

Tel.: 030 26935 8323

 


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