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Das unterschätzte Fundament der deutschen Volkswirtschaft. Ein Beitrag von Dr. Uta Meier-Gräwe.
Bild: von picture alliance/dpa | Uwe Anspach
Die Titelgeschichte des Spiegels vom 02.01.2021 ("Die Biontech-Heilsbringer. Deutschland wird ausreichend Impfstoff bekommen“) gibt ein beeindruckendes Beispiel für gelungene Integration und Erfindungsgeist: Dem türkischstämmigem Ehepaar Uğur Şahin, 55, und Özlem Türeci, 53, die beide in Mainz leben und arbeiten, ist es in kürzester Zeit gelungen, einen hochwirksamen Impfstoff gegen das Coronavirus zu entwickeln und dafür als Erste eine Zulassung zu erhalten. Deutschland, das sich nach wie vor schwer tut zu akzeptieren, ein Einwanderungsland zu sein und gezielt in die Potentiale von Kindern nichtdeutscher Herkunft zu investieren, feiert die beiden zurecht als Heldenpaar.
Der Beitrag über Uğur Şahin und Özlem Türeci schreibt jedoch eine beinahe zu perfekte, klassische Erfolgsstory: Als Vierjähriger zog Şahin mit seiner Mutter nach Köln, wo sein Vater bereits bei Ford am Fließband arbeitet. Türeci wächst in einem Landkreis in Niedersachsen auf, ihr Vater ist als Chirurg an einem katholischen Krankenhaus in Cloppenburg beschäftigt. Dorthin nahm er seine Tochter öfter mit, was ihren Berufswunsch stark geprägt hat. Beide studieren Medizin und lernen sich am Universitätsklinikum des Saarlandes kennen. Später gehen sie nach Mainz, heiraten 2002 und setzen ihre Wissenschaftskarriere fort. 2008 gründen sie die Firma Biontech. Eine ehemalige Kollegin bezeichnet die beiden als „brillante Arbeitstiere“. Türeci betont: „Unsere Arbeit hört nicht um 17 Uhr auf, wir gehen darin auf.“
Dass das Paar eine gemeinsame Tochter hat, wird nur einmal im Text erwähnt; in der grafischen Darstellung ihrer Lebensläufe kommt dieses Ereignis überhaupt nicht vor. Die Arbeit der Mütter, die die beiden als Kinder versorgt und erzogen haben scheint ebenso irrelevant für ihre Biographien. Für die Journalisten zählen lediglich die Erwerbsarbeiten der Väter und die aufgebrachten Stunden im Labor für die akademische Laufbahn und den Erfolg der beiden Wissenschaftler_innen.
Spätestens jetzt fällt der blinde Fokus und die unglaubliche Überhöhung wissenschaftlicher Arbeit auf. Wer hat sich um ihre Tochter gekümmert, als sie klein war? Gab es eine Großmutter, eine Haushaltshilfe und ein Kindermädchen, die den ambitionierten Berufsalltag der Beiden ermöglicht, sie entlastet, die gekocht und für ihre blütenweißen Arztkittel gesorgt haben? Gab es einen Ganztagskindergarten für die Kleine? Hat sich das Paar die alltägliche Sorgearbeit fair geteilt? Doch wie geht das mit überlangen Arbeitszeiten im Labor bis in die Nacht? Und wer hat ein möglicherweise pflegebedürftiges Familienmitglied – vielleicht den Vater oder die Schwiegermutter – betreut?
Solange wir das nicht erfahren, taugt diese Story nicht wirklich als Rollenmodell für junge Frauen und Männer, die ihren künftigen Beruf mit der Gründung einer Familie verbinden wollen.
Dass die unbezahlte und bezahlte Sorgearbeit das Fundament dieser unglaublichen Erfolgsgeschichte des Dual Career Couple aus Mainz ist, wird komplett ignoriert. Genauso wie es 1776 schon der Ökonom und Philosoph Adam Smith in seinem Grundlagenwerk „Der Wohlstand der Nationen“ getan hatte. Er blendete aus, dass nicht nur der Eigennutz des Bäckers, des Metzgers und des Brauers seine Gelehrtentätigkeit ermöglicht hat, sondern auch seine Mutter, bei der er den größten Teil seines Lebens wohnte: Sie servierte ihm täglich nicht nur das Abendbrot, sondern orchestrierte die basale „weibliche Ökonomie“ jahrzehntelang um den Architekten der Nationalökonomie herum. Doch in der von ihm begründeten Mainstream-Ökonomie zählt eben nur die Arbeit, die traditionell von Männern übernommen wird. Arbeit, die sie nicht tun, auf die sie allerdings angewiesen sind, um tun zu können, was sie tun, zählt dagegen nicht (Vgl. auch Marcal 2016: Machonomics. Die Ökonomie und die Frauen). Und zwar bis heute.
Offensichtlich fehlen den beiden männlichen Verfassern der Biontech-Titelgeschichte im Jahr 2020, also fast 250 Jahre nach Adam Smith, immer noch die lebensweltlichen Erfahrungen mit der Carework, um ihren Interviewpartner_innen die richtigen Fragen zu stellen. Mehr weibliche Perspektiven durch zum Beispiel eine Frauenquote sind wahrlich auch in Chefredaktionen überfällig, um die De-Thematisierung von Care-Arbeit zu überwinden.
Die Marginalisierung von Care-Arbeit lässt sich auch in den aktuellen Debatten zur Arbeitsmarktentwicklung hier zu Lande mühelos nachzeichnen. Einem aktuellen Bericht des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) zufolge verzeichnet der Wirtschaftsbereich „Öffentlicher Dienst, Gesundheit und Erziehung“ im Jahr 2020 mit 192.000 Beschäftigten im Vergleich aller Wirtschaftssektoren in Deutschland den zahlenmäßig höchsten Beschäftigungsgewinn (IAB-Kurzbericht 19/2020). Das IAB hatte in diesem Jahr mit 130.000 Neueinstellungen gerechnet; durch die Pandemie sind weitere 62.000 Jobs dazugekommen. Daran wird sich auch im kommenden Jahr nichts ändern – gerechnet wird wiederum mit 190.000 Neueinstellungen. Hier sind die vielen haushaltsnahen Dienstleistungsjobs noch gar nicht berücksichtigt, denn eine eigene Wirtschaftsklassifizierung gibt es für dieses Berufsfeld bis heute nicht. Die Nachfrage nach solchen personen- und sachbezogenen Dienstleistungen ist seit Jahren groß, die Personalnot ebenso.
Die Größenordnung von ca. 190.000 Beschäftigten in den genannten personenbezogenen Dienstleistungsberufen entspricht im Übrigen in etwa der Zahl von 190.000 Arbeitsplätzen, die in der Industrie und den eng mit ihr verbundenen Unternehmensdienstleistern im Corona-Jahr 2020 verloren gegangen sind. Dieser Trend wird sich fortsetzen: Einer Prognose des Bundesinstituts für Berufsbildung (BIBB) zufolge, wird das „Gesundheits- und Sozialwesen“ im Jahr 2040 mit rund 7 Millionen die meisten Erwerbstätigen stellen. Demgegenüber wird die Beschäftigtenzahl im Verarbeitenden Gewerbe aufgrund von weiteren Produktivitätssteigerungen um 1,6 Millionen auf 6,1 Millionen Erwerbstätige zurückgehen. Rekrutierungsprobleme von Fachkräften seien insbesondere im Berufsfeld der „Medizinischen“ und „Nichtmedizinischen Gesundheitsberufe“ zu erwarten (Vgl. BIBB-Report, Heft 4/2020, S. 15).
Ungeachtet dieses bemerkenswerten Strukturwandels der bundesdeutschen Gesellschaft hin zu einer wissensbasierten Dienstleistungsgesellschaft mit einem demnächst (hoffentlich!) dekarbonisierten industriellen Kern, sind Entscheidungsträger_innen und Meinungsmacher_innen aus Politik, Wissenschaft, Wirtschaft und Medienwelt nach wir vor vom Primat der Industrie beseelt. Friedrich Merz wartete schon im Frühjahr mit der Empfehlung auf, dem produktiven Gewerbe nach Corona absolute Priorität einzuräumen. Wahrlich paradox mutet es auch an, dass nach dem ersten Lockdown die These des Freiburger Wirtschaftswissenschaftlers Bernd Raffelhüschen unwidersprochen blieb, wir könnten nicht davon leben, „dass wir uns gegenseitig umeinander kümmern, sondern davon, dass wir ökonomischen und technischen Fortschritt generieren.“ (Preußische Allgemeine, 16.7.20).
Besagten unsere Erfahrungen im Frühjahr 2020 nicht etwas ganz anderes? Das quasi alles heruntergefahren werden kann, nur nicht die Arbeit, die mit der unmittelbaren Sorge für das tägliche Leben zu tun hat: die Gesundheitsversorgung, die Betreuung von Kindern und hilfebedürftigen Menschen oder die Sorge für die täglichen Nahrungsmittel und Hygiene?
Die Industrie- und Technikfixierung hat in Deutschland eine lange Tradition. 1994 formulierte der ehemalige Arbeitgeberpräsident Hans-Olaf Henkel, dass wir nicht auf Dauer davon leben könnten, dass wir uns gegenseitig die Haare schneiden. Abgesehen davon, dass niemand so etwas je behauptet hat, griff der ehemalige Bundeskanzler Gerhard Schröder diese verunglückte Metapher im Bundeswahlkampf 2002 bei einem Auftritt vor den Opeljanern erneut auf, um die Vorrangstellung der Industrie zu betonen.
Wer in Deutschland Autos oder Parkhäuser baut, gilt folglich als Leistungsträger_in und speist sein Selbstbewusstsein aus der Überzeugung, dass ohne ihn aller Wohlstand sofort im Orkus versänke. Wer sich um pflegebedürftige Alte kümmert, Kindern das Schreiben beibringt oder uns die Haare schneidet, den beschleicht das ungute Gefühl, dass er oder sie eine Art „sozialen Luxus“ produziert, der von den Auto- und Parkhausbauern mitfinanziert wird. Das ist aber vollkommen falsch, wie uns doch diese Pandemie gelehrt hat: die nicht oder schlecht bezahlte Care-Arbeit in privaten Haushalten, im öffentlichen Dienst und in Dienstleistungsunternehmen bildet die Basis unseres Wirtschaftssystems und muss endlich den Stellenwert erhalten, der ihr zukommt. In den ersten Monaten der Pandemie wurde uns schlagartig klar, wer hier eigentlich den Laden zusammenhält. Das allabendliche Klatschen vom Balkon war ehrlich gemeint. Doch was ist seither über solche Symbolik hinaus passiert? Herzlich wenig.
Bezeichnend ist in diesem Zusammenhang schließlich, dass der eingangs genannte am stärksten wachsende Beschäftigungssektor (öffentlicher Dienst, Gesundheit und Erziehung) in einer Analyse des SPIEGEL vom 2.01.2021 „Welche Branchen 2021 auf ein Comeback hoffen können – und welche nicht“ in der Liste der ‚Top Ten‘ mit keinem Wort erwähnt wird, wohl aber Automobil, Banken, Handel, Luftfahrt oder auch der Profisport. Was will uns das sagen? Die Wertschöpfung im personenbezogenen Dienstleistungssektor mit weiblich konnotierten Sorgeberufen wird selbst in Zeiten von Corona immer noch unterschätzt, trivialisiert und folglich auch nicht benannt – trotz hoher Beschäftigungszuwächse. Wie gaga und zukunftsblind ist das eigentlich?
Der Direktor des Instituts für Zukunft der Arbeit (IZA) in Bonn, Holger Bonin, plädiert zumindest für eine deutliche Verstärkung von Weiterbildung und Qualifizierung. So empfiehlt er etwa den Beschäftigten im Verkauf aufgrund des Aufschwungs des Onlinehandels, der die Nachfrage nach Fachverkäufer_innen demnächst überflüssig mache, in die Pflege oder in den Erziehungsbereich zu wechseln. Zukunftsinvestitionen für solche Weiterbildungs- und Qualifizierungsmaßnahmen dürften nicht unterbleiben, so Bonin. Genau. Darüber hinaus braucht es aber auch groß angelegte Umschulungen und Programme für Quereinsteiger_innen, die in jedem Fall mit der Schaffung von attraktiven Arbeitsbedingungen und von Löhnen in diesen Berufen zu verbinden wären: Viele Care-Berufe bewegen sich bis heute auf einem „Zuverdienst“-Niveau und der Mangel an Arbeitskräften führt keineswegs im Selbstlauf zu guten Löhnen in diesen Sorgeberufen. Das zeigt eine aktuelle Studie vom Institut der Deutschen Wirtschaft (IW): Zwar sind die Verdienste in sogenannten Engpassberufen in den letzten 6 Jahren etwas stärker als in Berufen ohne Fachkräftemangel angestiegen. Allerdings war der Effekt minimal und blieb fast ausschließlich auf die Gruppe der Hochqualifizierten beschränkt, deren Verhandlungsposition beim Gehalt offenbar durch die Knappheit an Bewerber_innen gestärkt wurde. Beschäftigte mit einer Berufsausbildung profitierten hingegen im Schnitt finanziell nicht davon, wenn Arbeitgeber ihresgleichen händeringend suchten (Burstedde/Schüler 2021).
Die Smith‘sche „unsichtbare Hand des Marktes“ regelt Angebot und Nachfrage eben keinesfalls von allein. Es braucht eine staatliche Rahmung, unter Umständen Markteinführungshilfen, die eine hohe Qualität der Grundversorgung für alle sichern. Zudem ist eine bereits 2017 von der Sachverständigenkommission des Zweiten Gleichstellungsberichts der Bundesregierung geforderte zusammenhängende Strategie zur Neubewertung und Aufwertung der Sorgeberufe überfällig. Anders werden die Rekrutierungsprobleme von Fachkräften im Care-Sektor in Zukunft überhaupt nicht mehr zu bewältigen sein. Eine solche Strategie muss eingebettet sein in eine Neu-Konzeption von Wirtschaft, in der die wechselseitige Abhängigkeit von (ver-)sorgenden Dienstleistungen und Industrieproduktion systemisch verankert wird. Und zwar auf Augenhöhe. Über die Schuldenaufnahme, die für solche Zukunftsinvestitionen notwendig sind, sollten wir uns, so der Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), Marcel Fratzscher, in einem Interview des RND am 5.01.2021, dabei die geringsten Sorgen machen - wenn sie richtig eingesetzt werden. „Denn ansonsten verlieren wir global den Anschluss“, so der DIW-Chef. Solche Investitionen dürfen sich aber eben nicht nur auf die Digitalisierung und den Klimaschutz beziehen. Ein pandemieresistentes Wirtschaftssystem wird diese Erkenntnis beachten müssen.
Gute Arbeit im Care-Sektor ist für die anstehende Transformation Deutschlands in eine zukunftsfähige Volkswirtschaft im 21. Jahrhundert unverzichtbar. Und die gute Nachricht lautet: Investitionen in den Care-Sektor rechnen sich. Das zeigen verschiedene Kosten-Nutzen-Analysen: Die Earn-back-Effekte von Modellprojekten zur Implementierung von sozialversicherungspflichtigen Sorgeberufen, die in verschiedenen Bundesländern durchgeführt und erfolgreich evaluiert wurden, sind überaus beeindruckend. (Vgl. https://www.hs-fulda.de/fileadmin/user_upload/FB_Oe/PQHD/FULDA_Expertise__ueberarb._M.-G..pdf oder Modellprojekt Schulgesundheitsfachkräfte: siehe www.hage.de).
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