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Saalitai Enger: Der Mantel der mongolischen Hirtin

Folge dem Duft der Milch und lerne das harte Leben Jargal Avirmeds, einer Hirtin im Altai-Gebirge kennen. Denn Hirtinnen nehmen in der mongolischen Gesellschaft eine wichtige Stellung ein. Sie versorgen die Bevölkerung mit Fleisch und Milch und geben das nationale Erbe und das Wissen über Nutztiere an folgende Generationen weiter.


von Adilbish Magsar | Photos: Batbold Yondonrenchin

Im entlegenen Westen der Mongolei erhebt sich als Teil des Altaigebirges die Bergkette Tavan Bogd bis zu 4374 Meter in den Himmel. Inmitten dieser atemberaubenden Landschaft liegt in einem einsamen Tal in 2500 Metern Höhe die Siedlung Ulaan Khad. Hier lebt die beeindruckende Jargal Avirmed.

Jargal Avirmed ist Mitglied der kleinen Gemeinschaft der Uriankhai, und wie viele der Menschen hier hat sie einen Großteil ihres Lebens in dieser schroffen Landschaft verbracht und sich um ihre wertvollen Nutztiere gekümmert. In der Provinz Bayan-Olgii, 1.800 km von der Hauptstadt Ulaanbaatar entfernt und in der Nähe der chinesischen Grenze gelegen, sind 95% der Bevölkerung Kasach_innen und 5% Uriankhai, Tuva, Durvud und Khalkh. Jargal begann im Alter von 18 Jahren als Melkerin zu arbeiten. Nun ist sie 65 und arbeitet noch immer mit den Tieren, die sie mit viel Liebe und Aufmerksamkeit hütet und pflegt. Obwohl sie in ihrer Provinz einer Minderheitengruppe angehört, sticht Jargal hervor als Symbol für Widerstandsfähigkeit und Hingabe. Sie ist eine inspirierende Hauptfigur des Lebens im Altai-Gebirge.

Beim Hüten trägt Jargal einen traditionellen mongolischen Deel-Mantel. Er ist vielseitig, bequem und nützlich für alle Belange des Hirtenlebens. Von oben ist der Deel einfach aufzuknöpfen und ermöglicht den Frauen so das Stillen. Von unten ist er offen, was das Melken und Reiten vereinfacht. Der weite Rock dagegen ermöglicht das Bücken beim Sammeln von Dung. Dieses, vom Duft der Milch durchdrungene Kleidungsstück hat in der mongolischen Sprache einen eigenen Namen: Saalitai Enger und ist ein Symbol für die große Bedeutung und die vielfältige Rolle der Hirtinnen in der ländlichen Gesellschaft der Mongolei. Unsere Geschichte soll der außergewöhnlichen Stärke und der wichtigen Rolle dieser Frauen gewidmet sein und trägt deshalb den Titel Saalitai Enger.

Frauen spielen eine wesentliche Rolle in der lokalen Gesellschaft, nicht nur als Hirtinnen, sondern auch als Hüterinnen des Wissens über Nutztiere und das von den Vorfahren weitergegebene nationale Erbe des Landes. Darüber hinaus betreuen und erziehen sie ihre Kinder, sind Köchinnen, die das Essen für die Familie zubereiten, Schneiderinnen, die Rohstoffe verarbeiten und daraus Kleidung herstellen, und Geschäftsfrauen. Sie leben nach dem Motto: „Alles an den Nutztieren kann verwendet werden, außer ihr Atem“. Wie zum Beispiel das Haar ihrer Tiere, aus dem sie Utensilien für die Tierhaltung sowie Filzteppiche, Bettzeug, Decken, Matratzen und andere Produkte herstellen.

 

Hirt_innen in der Mongolei führen ein hartes Leben. Auch wenn es so scheint, als müssten sie nur ihre eigenen Bedürfnisse decken, tragen sie zusätzlich die oft unterschätzte Verantwortung, die Bevölkerung des Landes mit Fleisch und Milch zu versorgen.

Seit Jahrhunderten sind Hirt_innen ein wesentlicher Bestandteil der nomadischen Zivilisation der Mongolei. Sie gestalten die Geschichte des Landes und sind Träger_innen des kulturellen Erbes. Fast 620.000 Menschen, das entspricht 19,4% der Gesamtbevölkerung oder 26,7% der arbeitenden Bevölkerung sind Hirt_innen, was sie zu einer bedeutenden sozialen und wirtschaftlichen Gruppe macht. Laut Untersuchungen des Nationalen Komitees für Statistik mussten 40,2% aller Hirt_innen Kredite aufnehmen, während das Monatseinkommen von Haushalten mit Nutztierhaltung im Jahr 2018 durchschnittlich bei nur 1.150.000 MNT (340 USD) lag. Um das zu ändern, erlässt die mongolische Regierung Gesetze und hat Maßnahmen eingeleitet, die Hirt_innen bei der Erhaltung ihres kulturellen Erbes unterstützen und ihre Produktivität sowie den Genpool der mongolischen Nutztiere verbessern sollen.

„Wir Hirten leben im Einklang mit der Natur“, sagt Jargal. „Wenn das Wetter gut ist, sind wir ruhig und entspannt. Wenn das Wetter schlecht und katastrophal kalt ist, mache ich mir ständig Sorgen um meine Weidetiere, und ich habe schlaflose Nächte. Ich bin deprimiert, wenn mir die Tiere im Winter sterben,” sagt sie und verwendet dabei das Wort Dsud, welches sich auf periodisch wiederkehrende Extremwetterlagen bezieht, in denen die Nutztiere durch Trockenheit, Hunger, Kälte oder andere Strapazen bedroht sind. „Wenn die Tiere es durch den Winter geschafft haben und auf den Weiden im Frühjahr gesunde neugeborene Nutztiere grasen, dann sind die Hirten dagegen sehr glücklich“, sagt Jargal.

 

Als sie die fünfte Klasse abgeschlossen hatte, begann Jargal in der Tierhaltung zu arbeiten, um ihre Eltern zu unterstützen. „Ich bin eines von vier Geschwistern und arbeitete zuerst als Melkerin in einer Kooperative. Mit 22 lernte ich meinen Mann kennen, und wir heirateten. Er war Hirte in derselben Kooperative, in der auch ich arbeitete, und bald wurde auch ich Hirtin. Gemeinsam haben wir acht Kinder großgezogen. Nach den Geburten im Krankenhaus unseres Distrikts kam ich nach Hause und übernahm nur sieben Tage später wieder meine täglichen Aufgaben. Hirtin zu sein ist für Frauen besonders nach einer Geburt eine große Herausforderung. Während die Männer sich um die Tiere kümmern, müssen die Frauen alle Arbeiten zu Hause erledigen: Gras und Salz für das Tierfutter herbeischaffen, Schnee schmelzen für das Trinkwasser im Winter, Essen für die Kinder zubereiten und Kleidung nähen und besticken. Wir verarbeiten auch die Milch der Yaks zu unseren köstlichen Milchprodukten. Wenn mein Mann vom Hüten der Herde zurückkommt, bereite ich den Hof vor und mache ihn sauber. Es müssen nicht nur den ganzen Tag die Tiere gehütet werden, sondern ich nähe auch Decken für die Tiere, wenn es kalt wird, und sammle Dung und Feuerholz. Außerdem bereite ich Futter zu und mähe Gras zum Trocknen. Als Hirtin endet mein Tag nicht mit dem Kochen. Ich arbeite ohne Pause von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang“.

 

1992 erhielten Jarga und ihr Mann drei Yaks aus dem großen Privatisierungsprogramm. Diese kamen zu den 30 Yaks hinzu, die sie bereits besaßen. Um ihren Erfolg in der Yakzucht zu feiern, ließen sie eine Statue eines Yakbullen errichten, der für Besucher_innen der Gegend schon von weitem sichtbar ist. Inzwischen werden jeden Herbst 250 Yaks für die Fleischproduktion verkauft, aber die Herde vergrößert sich ständig: Jedes Frühjahr werden 250 Yaks geboren. Inzwischen besitzen Jarga und ihr Mann 3.000 Yaks sowie rund 200 Pferde, über 1000 Schafe und Ziegen und mehr als 30 Kamele zur Fortbewegung. Im Sommer werden immer jeweils 50 Yaks eine Woche lang gemolken, dann sind die nächsten 50 an der Reihe. Aus der Milch stellen die beiden ihre eigenen Milchprodukte her. Pro Jahr werden 300 Schafe geschlachtet. Yakwolle ist ein teures Produkt, und es wird nur die Wolle von zwei- und dreijährigen Yaks verkauft. Jedes dieser Tiere kann 1 kg Rohwolle produzieren. Wolle von größeren Yaks zu erhalten, ist schwieriger, da die Tiere wild sind und man sechs bis sieben Personen benötigt, um sie zum Auskämmen der Wolle festzuhalten. Gekämmte Wolle ist ebenfalls ein teures Erzeugnis.

Hirt_innen verwenden alle Rohstoffe, die ihnen zur Verfügung stehen. Das Leder der Yaks wird getragen oder zu Geschirren, Halftern und weiteren Utensilien für die Tierhaltung verarbeitet. Lederreste dienen als Reparaturflicken. Yakmilch ist dickflüssig und ölig, und das Fleisch der Yaks ist hochwertig und perfekt zum Trocknen geeignet. Selbst ihr Dung wird als hochwertiges Brennmaterial zum Kochen und Heizen im harten Winter verwendet. Trotz der vielfältigen Verwendungsmöglichkeiten der tierischen Rohstoffe ist es logistisch kompliziert diese zu verkaufen, denn das nächstgelegene Handelszentrum ist 200 km entfernt.

 

Auch wenn das Leben in den ländlichen Gegenden der Mongolei hart ist, haben Jargal und ihre Familie alles, was sie brauchen. Sie lieben das Leben in der Natur mit ihren Tieren. Dank der Arbeit von Frauen wie Jargal sind selbst die Kinder glücklich darüber, ein Hirtenleben zu führen. Es ist Teil ihrer Kultur und ihrer Identität.

Eine von der Schweizer Entwicklungsagentur finanzierte Genderstudie über die Rolle der Hirtinnen in der nomadischen Tierhaltung der Mongolei war die erste Untersuchung dieser Art im Land. Ergebnis der Studie ist, dass Frauen in Hirtenfamilien durchschnittlich 11,1 Stunden täglich arbeiten. Grund dafür ist hauptsächlich, dass alle Tätigkeiten von Hand erledigt werden. Normalerweise arbeiten die Hirtinnen von 4 Uhr morgens zunächst durchgehend bis 12 Uhr mittags.

Die Studie unterstreicht die wichtige Rolle der Frauen in der ländlichen Gesellschaft der Mongolei, insbesondere in der Tierhaltung. Trotz der Herausforderungen, die sie meistern müssen, spielen Frauen eine fundamentale Rolle für das Überleben und die Nachhaltigkeit ihrer Gemeinschaften. Sie arbeiten hart, um sicherzustellen, dass ihre Familien genügend zu essen und genügend Ressourcen haben, und sie sind das Rückgrat der lokalen Wirtschaft. Es ist unbedingt notwendig, ihren gesellschaftlichen Beitrag anzuerkennen und zu unterstützen. Und es ist offensichtlich, dass ohne die harte Arbeit und den Einsatz von Hirtinnen wie Jargal die traditionelle Lebensweise der nomadischen Tierhaltung in der Mongolei nicht möglich wäre. Hirtinnen sind damit ein unentbehrlicher Teil der mongolischen Gesellschaft.

 

Jargals Lebensweise zeugt von der Ermächtigung, Widerstandskraft und Stärke von Frauen in einer traditionellen patriarchalischen Gesellschaft. Sie zeigt Frauen als fähige und qualifizierte Mitgestalterinnen ihrer Gemeinschaften und der Gesellschaft im Allgemeinen, die geschlechtsspezifische Stereotypen in Frage stellen und deutlich machen, wie wichtig die Gleichstellung von Frauen und Männern ist.

Adilbish Magsar ist Leiterin der Abteilung für Sozialpolitik im Büro des Gouverneurs der Provinz Bayan-Ulgii.

Batbold Yondonrenchin ist Sekretär des Büros der FES in der Mongolei.

Dieser Beitrag erschien im Original am 13.9.2024 in englischer Sprache auf asia.fes.de.

Marius Müller-Hennig
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