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Selbständigkeit als Weg zur Arbeitsmarktintegration? Co-Autor Dr. René Leicht gibt im Interview Einblick in die neu erschienene FES-Studie.
Selbstständigkeit spielt auf dem deutschen Arbeitsmarkt mit rund 10 Prozent der Erwerbstätigen nur eine untergeordnete Rolle. Auch zeigen Erhebungen, dass in Deutschland vergleichsweise zurückhaltend gegründet wird und die Gründungsbereitschaft in den letzten Jahren zurückging. Für die Zukunft verheißt dies nichts Gutes. Unternehmensgründungen sind ein wesentlicher Treiber für wirtschaftliche Dynamik, für Wachstum, Innovation und Beschäftigung.
Umso wichtiger erscheint es, die gesellschaftlichen Potenziale für Unternehmertum bestmöglich auszuschöpfen. Viele der Menschen, die im Zuge der Fluchtmigration ab 2013, und dann vor allem ab 2015, nach Deutschland kamen, waren in ihren Heimatländern selbstständig bzw. kamen aus Ländern, in denen Selbstständigkeit und Unternehmensgründungen sehr viel häufiger anzutreffen sind, als in der deutschen Gesellschaft. Dazu kommt, dass sie nicht immer die Voraussetzungen für eine schnelle und optimale Integration in den deutschen Arbeitsmarkt mitbringen. Wären hier Selbstständigkeit und eine Unternehmensgründung nicht eine naheliegende Option gerade für diese Zielgruppe?
Vor diesem Hintergrund erklären sich nun die Forschungsfragen, die der Studie Gründungspotenziale Geflüchteter zugrunde liegen. Sie möchte zum einen Auskunft über das Gründungspotenzial unter Geflüchteten geben. Zum anderen diskutiert sie, inwieweit eine Unternehmensgründung für diese Personengruppe ein vielversprechender Weg in die Arbeitsmarktintegration sein kann. Das Forschungsteam der Universität Mannheim hat hierfür sowohl wissenschaftliche Literatur zur Thematik als auch einen großen, eigens für die Studie zusammengestellten und erhobenen Datenschatz ausgewertet.
Auch wenn Arbeitsmarktintegration über eine Unternehmensgründung bzw. eine entsprechende Selbstständigkeit in Deutschland nur eine begrenzte Rolle spielt, zeigen die Ergebnisse der Forscher: Es gibt gute Gründe sich auch politisch mit diesem Thema zu befassen und bestehende Hindernisse für Geflüchtete bei einer Gründung abzubauen. Diese könnten dann einen noch größeren Beitrag, als bisher, zu einer erfolgreichen Arbeitsmarktintegration dieser Zielgruppe leisten und dabei – ganz nebenbei – auch den Wirtschaftsstandort Deutschland als Ganzes stärken.
FES: Die vorliegende Studie ist das Ergebnis eines längeren Forschungsprozesses. Welche Ausgangsfrage lag der Studie zugrunde und wie sind Sie methodisch vorgegangen?
Leicht: Insbesondere nach dem starken Zustrom an Geflüchteten in den Jahren 2015/2016 gewann in Deutschland eine Debatte an Fahrt, wie diese Gruppe in den Arbeitsmarkt integriert werden könnte. Zwar wurde diese Frage durch viele Forschungsprojekte aufgegriffen, aber die allermeisten Untersuchungen befassten sich ausschließlich mit den Chancen der Eingliederung in eine abhängige Beschäftigung. Demgegenüber wurde die Möglichkeit, dass sich Geflüchtete durch eine Unternehmensgründung selbst einen Job schaffen, kaum in Betracht gezogen. Unterstützt durch die FES und die Erkenntnisse einer vorangegangenen Studie zur ökonomischen Bedeutung und den Leistungspotenzialen von Migrantenunternehmen hatte unser Forschungsteam dann den Fokus auf Gründungswillige mit Fluchterfahrung gerichtet. In diesem Kontext interessierte das unternehmerische Potenzial von Geflüchteten sowie die Frage, inwieweit sich ihre unternehmerischen Aktivitäten von anderen Zuwanderungsgruppen unterscheiden und wie erfolgsversprechend der Weg in die berufliche Selbstständigkeit ist.
Neben qualitativen Methoden beruht die Studie hauptsächlich auf quantitativer Forschung bzw. auf einer differenzierten Auswertung von Mikrozensusdaten des Statistischen Bundesamts. Ergänzt werden die Befunde durch 1.279 face-to-face-Interviews mit Geflüchteten.
FES: Befragungsdaten belegen, dass viele Geflüchtete großes Interesse an einer Selbstständigkeit oder Geschäftsgründung haben. Was sind die Gründe dafür?
Leicht: Aus der Gründungsforschung wissen wir, dass die Ursachen beruflicher Selbstständigkeit nicht monokausal, sondern äußerst vielschichtig sind. Und Gründungsmotive wandeln sich zudem mit den sich bietenden Gelegenheiten, d.h. auch mit der Aufenthaltszeit. Natürlich spielen insbesondere bei den Neuzugewanderten die Lebenslage und die Zugangsmöglichkeiten zum Arbeitsmarkt eine Rolle. In der ersten Phase nach der Ankunft suchten viele einen Weg, mit einem höheren Einkommen ihre Lebenslage zu verbessern und u.U. auch Geld an Zurückgebliebene in den Herkunftsländern zu überweisen. Aber die Allerwenigsten können ihren Gründungswunsch spontan erfüllen. Im Verlauf der Zeit verändern sich Wissen und andere Ressourcen oder ggf. auch die Arbeitsmarktposition, weshalb dann der Wunsch nach Autonomie und Selbstverwirklichung in den Vordergrund tritt. Zu einem gewissen Grad ist es dabei förderlich, wenn geflüchtete Personen bereits im Herkunftsland Selbstständigkeitserfahrung gesammelt haben.
FES: Inwiefern können sie dieses Interesse dann auch erfolgreich umsetzen, also die eigene Existenz und die ihrer Familien selbstständig sichern?
Leicht: Zunächst ist für den Gründungserfolg natürlich entscheidend, ob sich die von Geflüchteten gegründeten Unternehmen am Markt behaupten können. Hier fehlt es an Längsschnittdaten. Aber bewertet man retrospektiv die Zahl der „überlebenden“ Selbstständigen in den verschiedenen Zuwanderungskohorten, dann deutet vieles darauf hin, dass Geflüchtete in ähnlicher Weise erfolgreich sind, wie Menschen mit anderen Zuwanderungsmotiven. Das erzielte Einkommen der Selbstständigen mit Fluchtbiographie zeigt, dass sie sich tendenziell mit Blick auf das erzielte Einkommen zudem besser als ihre Pendants in einer abhängigen Beschäftigung stellen. Natürlich variieren die Einkommen stark, aber die durchschnittlichen Nettoeinkommen liegen sogar leicht höher als die von Selbstständigen, die einst vorrangig zur Arbeitssuche oder im Familiennachzug gekommen sind. Allerdings beruht dieser Vorsprung teils auf längeren Arbeitszeiten, da Selbstständige mit Fluchthintergrund häufiger in arbeitsintensiven Branchen tätig sind.
FES: Welche Faktoren sind für Geflüchtete entscheidend, wenn es um eine Geschäftsgründung oder den Weg in die Selbstständigkeit geht, und was sind die Hindernisse?
Leicht: Entscheidend ist die Aufenthaltszeit in Deutschland, die indirekt auch über den Zugang zu gründungsrelevanten Ressourcen bestimmt. Denn neben guten Deutschsprachkenntnissen und Berufs-, Arbeits- und Branchenerfahrung braucht es soziale Beziehungen und Netzwerke, genauso wie auch Wissen im Umgang mit Institutionen sowie einen Vorrat an entgegengebrachtem Vertrauen. So berichten viele Geflüchtete über aufenthaltsrechtliche und bürokratische Hemmnisse oder über Schwierigkeiten ihr Vorhaben mit ausreichend Krediten abzusichern. Hinzu kommt bei allem noch das Problem, dass in Deutschland viele Berufe nur dann in die Selbstständigkeit führen, wenn spezifische Qualifikationen nachgewiesen und anerkannt werden.
FES: Was kann politisch getan werden, um Geflüchtete auf dem Weg in die Geschäftsgründung bzw. eine Selbstständigkeit zu unterstützen?
Leicht: Gründungswillige mit Fluchtbiographie benötigen vor allem zielgruppensensible und professionelle Unterstützung bei der Umsetzung ihres Vorhabens – idealerweise eingebunden in Coaching- und Mentoring-Projekte, die von den Regelinstitutionen kaum angeboten werden können. Diese Angebote erfordern zum einen spezifisches Wissen über die sozialen und institutionellen Hürden, mit welchen die Geflüchteten weit stärker als andere Zuwanderungsgruppen konfrontiert sind. Zum anderen braucht es Betreuungsangebote, die mit Qualifizierungen verbunden sind. All dies erfordert die politische Förderung und Finanzierung von migrantenorientierten Beratungsstellen und Projekten, die bereits auf reichhaltige Erfahrung im Umgang mit Zugewanderten zurückgreifen können. Ein erfolgversprechender Ansatz zur verstärkten bundesweiten Vernetzung und Expansion solcher Projekte und Angebote wurde bislang u.a. durch die IQ-Fachstelle Migrantenökonomie oder durch das Bündnis „Perspektive neuStart“ verfolgt.
Über die Autor_innen
Dr. René Leicht ist Soziologe und Politikwissenschaftler. Bis 2019 leitete er den Forschungsbereich „Neue Selbständigkeit“ am Institut für Mittelstandsforschung der Universität Mannheim. Als Senior Advisor befasst er sich dort insbesondere mit Integrations- und Migrationsforschung im Kontext von Existenzgründungen.
Carina Hartmann ist Kulturbetriebswirtin und arbeitet als wissenschaftliche Mitarbeiterin und Doktorandin am Lehrstuhl für Mittelstandsforschung und Entrepreneurship der Universität Mannheim. Ihre Forschungsinteressen umfassen die sozialen Kontexte von zugewanderten Gründer_innen und unternehmerischer Diversität.
Ralf Philipp beschäftigt sich als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Mittelstandsforschung der Universität Mannheim mit der Dynamik und den neuen Formen selbstständiger Erwerbsarbeit.
Ansprechpartner in der FES: Susan Javad und Dr. Robert Philipps
Leicht, René; Hartmann, Carina; Philipp, Ralf
Selbstständigkeit als Weg zur Arbeitsmarktintegration? / René Leicht, Carina Hartmann, Ralf Philipp ; Herausgeberin: Abteilung Analyse, Planung und Beratung. - Bonn : Friedrich-Ebert-Stiftung, 2021. - 45 Seiten = 930 KB, PDF-File. - (FES diskurs)Electronic ed.: Bonn : FES, 2021ISBN 978-3-96250-924-8
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Jochen Dahm
0228 883-7106Jochen.Dahm(at)fes.de
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