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UN-Sicherheitsrat: Quo Vadis Veto?

Wie eine kleine Reform des Vetos im Sicherheitsrat die Vereinten Nationen wieder handlungsfähiger machen könnte. Ein Beitrag von Volker Lehmann (FES New York).

Debatten über die Reform des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen sind so alt wie das Gremium selbst. Nun verabschiedete die UN-Generalversammlung am 26. April 2022 eine Resolution (A/76/262), die auf eine von Liechtenstein angeschobene Initiative zurückgeht und die politisch weitreichende Konsequenzen für den Sicherheitsrat haben könnte. Sie sieht vor, dass die Generalversammlung zukünftig immer dann automatisch zusammentritt, wenn eines der fünf permanenten Mitglieder (die sogenannten „P5“ China, Frankreich, Großbritannien, Russland, USA) im Sicherheitsrat ein Veto einlegt. Das Mitglied oder die Mitglieder, die ein Veto eingelegt haben, sollen dann in einer formellen Sitzung ihre Entscheidung vor der versammelten UN-Mitgliedschaft erläutern und zur Debatte stellen.

Zu den 83 Ko-Sponsoren des Resolutionsentwurfs gehörten u.a. Deutschland, vor allem aber mit Frankreich, Großbritannien und den USA, drei der fünf Veto-Mächte. Dies ist umso bemerkenswerter als die USA in der Vergangenheit, trotz aller politischen Differenzen, stets gemeinsam mit Russland und China gegen eine Einmischung beim Veto-Recht auftrat. Die Verabschiedung der Resolution reflektiert unter anderem die Frustration vieler UN-Mitgliedsstaaten mit der zunehmenden Blockade des Sicherheitsrats durch den Gebrauch des Vetos. Dabei spitzt die Reaktion auf die russische Invasion in der Ukraine weiter zu, was sich seit 2011 rund um den anhaltenden Krieg in Syrien abzeichnet: Die Handlungsunfähigkeit des Sicherheitsrats wirkt sich automatisch auch imageschädigend auf die UN insgesamt aus. In diesem Kontext bietet die jüngste – an sich nur arbeitstechnische – Vetoinitiative wichtige Anhaltspunkte dafür, ob es ein politisches Momentum dafür gibt, trotz der Blockade des Rates kleine Schritte in Richtung Stärkung der UN als Ganzes zu gehen.

The Times They Aren’t a-Changin

Die Dominanz der P5-Länder ist durch die UN-Charter gleich doppelt abgesichert: Zum einen sind sie permanente Mitglieder und zum anderen besitzen sie ein Recht auf Veto. Dementsprechend hoch sind die Hürden, den Rat in seiner Struktur zu reformieren: Die Charta muss mit Zweidrittelmehrheit der Mitgliedsstaaten, die P5 eingeschlossen, verändert und danach national ratifiziert werden. Dies geschah bisher nur einmal, als 1965 die Zahl der nichtständigen Mitglieder von sechs auf zehn Länder erhöht und der Rat auf seine heute Mitgliederzahl aufgestockt wurde.

Um die Hürde der Chartaänderung zu umgehen, haben sich reformwillige Kräfte in den letzten Jahrzehnten statt auf Strukturreformen auf die Arbeitsmethoden konzentriert. Im Vordergrund dabei stand und steht das Recht der P5 auf Veto, dessen vollständige Abschaffung aufgrund der notwendigen Chartaänderung ebenfalls unmöglich erscheint. Als Reaktion auf die russische Blockadehaltung im Syrienkrieg lancierten beispielsweise Frankreich und Mexiko im August 2015 eine Initiative, dass sich die P5 freiwillig verpflichten mögen, in Fällen von Massenverbrechen kein Veto einzulegen. Bis April 2022 haben 103 Mitgliedstaaten, darunter die Vetomächte Frankreich und Großbritannien diese Initiative unterstützt.

Im Gegensatz dazu ist die auf Liechtenstein zurückgehende Initiative limitierter: Die P5 werden nicht zum freiwilligen Verzicht auf das Veto aufgefordert, sondern sollen sich nach dessen Ausübung lediglich erklären. Gleichzeitig ist die Initiative aber auch umfassender: Sie ist unabhängig vom Kontext des Vetos und hat als automatische Konsequenz die Einberufung der Generalversammlung durch dessen Präsidenten zur Folge.

Vetoinitiative – Das Fenster des Möglichen

Entwickelt wurde die Initiative schon vor mehr als zwei Jahren, dann aber beiseitegelegt, nachdem COVID-19 die UN zwang, auf Distanz zu arbeiten. Handlungsbedarf zeigte sich erneut, als Russland am 25. Februar sein Veto gegen eine Resolution einlegte, in der die russische Aggression gegen die Ukraine verurteilt wurde.

Liechtensteins Vetoinitiative kam die neugewonnene Aktionsfreudigkeit der Generalversammlung zugute, welche sich im Zusammenhang mit dem Krieg in der Ukraine in den Notfall-Sondersitzungen und drei Resolutionen niederschlug. Liechtensteins UN-Botschafter hat immer wieder betont, dass es der Initiative darum gehe, die UN insgesamt zu verbessern, nicht darum, Russland an den Pranger zu stellen. Doch die USA taten genau das: „Russland hat in ungeheuerlicher Weise gegen die UN-Charta verstoßen und dann die Bemühungen des UN-Sicherheitsrats, sich mit der Situation zu befassen, blockiert. Wir stimmen zu, dass das Veto nicht als Freibrief für Straffreiheit für die P5 gedacht war. Indem es das Veto missbraucht und die internationale Gemeinschaft daran hindert, Russland zur Rechenschaft zu ziehen, hat Russland die Rolle und den Ruf des UN-Sicherheitsrats geschwächt, die UN-Charta untergraben und die UN insgesamt in Verruf gebracht“, erklärte ein hochrangiger UN-Vertreter der Biden Administration in New York.

Ausblick

Solange die Abschaffung des Vetos unwahrscheinlich erscheint, ist der Beschluss der Generalversammlung vom 26. April zumindest eine Möglichkeit, eine größere Rechenschaftspflicht für den Gebrauch des Vetos einzuführen. Einige Beobachter gehen davon aus, dass die Auswirkungen minimal sein werden, denn Sicherheitsratsmitglieder, die P5 eingeschlossen, geben schon jetzt öffentliche Erklärungen zu ihrem Abstimmungsverhalten ab. Darüber hinaus verzichten Frankreich und Großbritannien schon seit Langem auf ihr Veto.

Mit Spannung wird jetzt die Umsetzung von Resolution A/76/262 erwartet. Auch ohne den Konflikt in der Ukraine drohen dem Sicherheitsrat in den nächsten Monaten zahlreiche potentielle Blockaden, beispielsweise über die Verlängerungen der Blauhelmmission in Mali (MINUSMA) und die Genehmigung der grenzüberschreitenden humanitären Hilfe in Syrien.

Aber weil Großbritannien und Frankreich ihr Vetorecht schon lange nicht mehr direkt ausüben, dürfte die Initiative hauptsächlich die drei anderen Vetomächte – Russland, die USA, und China – in ihrem politischen Kalkül beeinflussen. Russland scheint zum jetzigen Zeitpunkt nicht geneigt, dem neuen Veto-Mechanismus – oder irgendeinem anderen UN-Beschluss – allzu große Aufmerksamkeit zu schenken. Für die USA spielt das ausgeübte Veto fast nur noch in Bezug auf Israel eine Rolle und es dürfte den meisten US-Administrationen innenpolitisch opportun erscheinen, auch vor der Generalversammlung noch einmal deutlich als Verfechter der Interessen Israels aufzutreten.

Am kompliziertesten dürfte die Abwägung der politischen Kosten für China sein. Zwar hat es sich in den letzten Jahren klar an der Seite russischer Vetos positioniert, verhielt sich aber bei UN-Abstimmungen im Falle des Ukraine-Kriegs überwiegend neutral. Russlands Einmarsch ist schließlich schwerlich mit dem Respekt gegenüber einem souveränen UN-Mitgliedsstaat und dessen territorialer Integrität zu vereinbaren. Es werden nicht nur die Grundwerte der regelbasierten Ordnung und der UN-Charta angetastet, sondern das Selbstverständnis vieler UN-Mitgliedsstaaten, die sich die Einmischung anderer mächtiger Länder verbitten. In anderen Konflikten, wie beispielsweise Myanmar, in denen Chinas Eigeninteressen es nicht erlauben, sich hinter Russland zu verstecken, könnten die politischen Kosten für ein eventuelles Veto Chinas weiter steigen.

Abgesehen von solchen mittelfristigen geopolitischen Erwägungen hat die Initiative überraschende Bewegung in lang festgefahrene Reformdiskussionen gebracht. In einer Zeit, in der die Fähigkeit des Rates, sein Mandat gemäß der Charta zu erfüllen, in Frage gestellt wird und der Multilateralismus unter starkem Druck steht, könnte die Reform ein dringend benötigter Weckruf sein. Sie erinnert die Generalversammlung an die Fähigkeit, angesichts der Blockade des Rates eigene Maßnahmen zu ergreifen. Auch Deutschland, welches die Vetoinitiative zwar als Ko-Sponsor unterstütze, sich darüber hinaus aber nicht äusserte, wäre gut beraten, solcherlei Verfahrensreformen ernst zu nehmen. Allzu lange war die deutsche Außenpolitik durch die illusorische Forderung nach einem permanenten Sitz im Rat gelähmt. Und die zusammen mit Frankreich ins Leben gerufene „Allianz für Multilateralismus“ scheint nach der 2020 beendeten Deutschen Ratsmitgliedsschaft wieder in der Versenkung verschwunden zu sein.

 

Volker Lehmann ist Senior Policy Analyst im New Yorker Büro der Friedrich-Ebert-Stiftung

Lehmann, Volker

Grundstein oder Grabstein der UN?

Was eine kleine Reform des Vetos im Sicherheitsrat für die Handlungsfähigkeit der Vereinten Nationen bedeuten könnte
Bonn, 2022

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