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Welche Forderungen stellen Migrant_innen-Organisationen an eine zukünftige Bundesregierung? Hier die Sicht der Türkischen Gemeinde in Deutschland (TGD).
Die Sondierungsphase für eine zukünftige Regierung ist vorbei und die drei Ampel-Parteien sind in die Phase der Koalitionsverhandlungen übergegangen. Das den Koalitionsverhandlungen vorliegende Sondierungspapier gibt kaum Einblicke, inwiefern Themen der Einwanderungsgesellschaft nun kraftvoll von den Parteien angegangen werden. Dabei stellen Personen mit Migrationsgeschichte 25 Prozent der Bevölkerung. Von diesen haben 12 Prozent den deutschen Pass und hätten zahlenmäßig bequem das Potential, Bundestagswahlen zu entscheiden. Auch im Bereich der Erststimmen, also den Entscheidungen über die Direktkandidat_innen aus den einzelnen Wahlkreisen, hat der Verein Citizens for Europe in einer Studie herausgefunden, dass in 56 Prozent der Wahlkreise die Stimmen der Menschen mit Migrationsgeschichte den Ausschlag für oder gegen eine zur Wahl stehende Person hätten geben können.
Die TGD hat sich vor der Wahl darum bemüht, herauszufinden, wie die Parteien, aber auch die einzelnen Direktkandidat_innen, zu den Themen stehen, die die Menschen mit Migrationsgeschichte besonders bewegen und für die die TGD steht. Wie bereits 2017 befragte die TGD hierfür rund 1.600 Direktkandidatinnen und -kandidaten der 299 Wahlkreise der Parteien CDU/CSU, SPD, Die Linke, Bündnis 90/Die Grünen, AfD und FDP zu ihren Positionen zu migrations- und integrationspolitischen Themen. Die Parteizentralen sind selbstverständlich ebenfalls befragt worden. Die Ergebnisse der Wahlprüfsteine zeigen: Auf der einen Seite tragen der konstante Druck und die kritische Öffentlichkeitsarbeit von zivilgesellschaftlichen Organisationen wie der TGD und der Bundeskonferenz der Migrant_innenorganisationen (BKMO) dazu bei, dass Parteien Themen der Einwanderungsgesellschaft immer stärker zu ihren Themen machen und die Forderungen der Zivilgesellschaft an Zustimmung gewinnen. Auf der anderen Seite gilt diese Entwicklung leider – wahrscheinlich wenig überraschend – nicht für alle Parteien und nicht für alle Themen.
Eine Empfehlung der Migrant_innenorganisationen ist die Schaffung eines Bundesministeriums, das die Bereiche der sogenannten Integrationspolitik mit der Antidiskriminierungspolitik und der Bekämpfung von Rassismus (auch in Institutionen) zusammenführt, um die Gestaltung der Einwanderungsgesellschaft ganzheitlich und zukunftsgewandt anzugehen. Damit soll gewährleistet werden, dass die Themen Migration, Flucht und Asyl, weil sie bislang federführend im Innenministerium angesiedelt sind, nicht zu Opfern einer Politik der „Versicherheitlichung“ werden. D.h. sie werden derzeit politisch vor allem als Sicherheitsproblem wahrgenommen oder werden zu einem gemacht. Deshalb ist es das Anliegen von zivilgesellschaftlichen Organisationen wie der TGD, diese Bereiche aus dem Innenministerium zu lösen und sie unter das Dach eines neuen Ministeriums zu stellen.
Deutschland ist ein Einwanderungsland und Migration (bei einigen Parteien dezidiert Arbeitsmigration) wird immer wichtiger. Ein eigenständiges Ministerium kann sich viel stärker auf die Aufgabe konzentrieren, die Gesellschaft für Themen wie Migration und Integration zu sensibilisieren, eine nachhaltige Integrationsstrategie vorzustellen, entsprechende Gesetze zu erarbeiten und konkrete Projekte mit der notwendigen Finanzierung zu unterlegen. Die Grünen hatten sich in ihrem Wahlprogramm für ein solches Ministerium ausgesprochen, ob diese Forderung aber auch Teil des Koalitionsvertrags wird, ist bisher unklar.
Die Bundesregierung hat in der vergangenen 19. Legislaturperiode den Themen Rechtsextremismus, Rassismus, Antisemitismus und allen anderen Formen gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit einen hohen Stellenwert eingeräumt und auf die höchste politische Ebene gehoben. Dies ist insbesondere durch die Einberufung des Kabinettausschusses zur Bekämpfung von Rechtsextremismus und Rassismus (KabA) nach den rechtsterroristischen Anschlägen in Halle am 9. Oktober 2019 und in Hanau am 19. Februar 2020 deutlich geworden. Teil des Maßnahmenkatalogs des KabA ist ein Demokratiefördergesetz bzw. Wehrhafte-Demokratie-Gesetz, um Engagement für Demokratie, die Gestaltung unserer vielfältigen Gesellschaft und die Prävention von Rechtsextremismus nachhaltig und dauerhaft zu fördern.
Obwohl die Zeit drängt, haben die Regierungsparteien ein solches Gesetz in ihrer Legislatur leider nicht auf den Weg gebracht. Aus Sicht der TGD muss die künftige Bundesregierung dies schleunigst nachholen und auch die beschlossenen 89 Punkte des KabA, in Abstimmung mit von Rassismus betroffenen Gruppen angehen und vollständig umsetzen.
Auch fordert die TGD die Schaffung eines Antidiskriminierungsgesetzes auf Bundesebene und die Erklärung der Antidiskriminierungsstelle zu einer Obersten Bundesbehörde mit einer entsprechenden Erweiterung der Kompetenzen und der für die Wahrnehmung dieser Kompetenzen notwendigen finanziellen und personellen Ressourcen. Anonymisierte Bewerbungsverfahren sollten der Standard für die Stellenbesetzung in Ministerien und Bundesbehörden werden und damit dazu beitragen, dass die Personalstruktur hier, besser als bisher, die Vielfalt an Herkünften in der Gesellschaft widerspiegelt.
In diesem Zusammenhang ist es bedauerlich, dass die Befragung im Rahmen der Wahlprüfsteine der TGD ergeben hat, dass die Unterstützung für eine Migrationsquote im öffentlichen Dienst als Instrument für Chancengleichheit auch bei der SPD und den Grünen im Vergleich zur Befragung 2017 an Rückhalt verloren hat. Die FDP lehnt dieses Instrument, wie alle Quoten, grundsätzlich ab.
Einerseits verstehen viele Politiker_innen, dass Deutschland ein Einwanderungsland ist und Repräsentanz wichtig wäre für den gesellschaftlichen Zusammenhalt und die Demokratie an sich. Andererseits sind viele Parteien und Kandidat_innen zurückhaltend, wenn es um wirksame Maßnahmen geht. Das wird auch bei den Parteiantworten deutlich. Mehr Diversität wird befürwortet, aber Maßnahmen, die für mehr Gerechtigkeit und die bessere Einhaltung des Leistungsversprechens sorgen würden, werden abgelehnt. Atila Karabörklü, Bundesvorsitzender der TGD kommentiert dies wie folgt: „Es ist das gleiche Phänomen wie in der Genderfrage: Den Kuchen gerechter verteilen – unbedingt! Meinen Kuchen? Na das muss doch wohl nicht sein! Gegen die Quote wird gerne das Argument der ungerechten Bevorzugung ins Feld geführt. Über die jahrzehntelange ungerechte Bevorzugung von Männern, von Westdeutschen oder eben von Deutschen ohne Migrationsgeschichte hat sich niemand beschwert.“
Zusammenfassend lässt sich festhalten: Migrationsthemen haben im Wahlkampf kaum eine Rolle gespielt und es bleibt abzuwarten, wie viel Platz sie in den Koalitionsverhandlungen einnehmen werden und wie die Konzepte der Ampel-Parteien zusammenkommen können. Zwei Dinge aber wecken aus Sicht der TGD Hoffnung: Zum einen sind im neu gewählten Parlament mit 11,3 Prozent nun mehr Abgeordnete mit Migrationsgeschichte als 2017 mit 8,2 Prozent. Zum anderen lässt der Blick in die Ergebnisse der Wahlprüfsteine durchaus optimistisch in die Zukunft blicken, sollte es wirklich zu einer Ampelkoalition kommen. Das Vorhaben, Deutschland zu erneuern und einen wirklichen Aufbruch zu schaffen, wird sich dann ganz sicher auf den Bereich der Chancengerechtigkeit auswirken und neben dem Klima hoffentlich auch die Antidiskriminierungspolitik ins Zentrum des Interesses rücken.
Der Kern einer repräsentativen Demokratie ist eine annähernd faire Vertretung der Bevölkerung. Das wären 50 Prozent Frauen und 25 Prozent Menschen mit Migrationsgeschichte und übrigens auch ca. 18 Prozent Menschen mit Ostbiographie. Das wären dann 183 Abgeordnete im aktuellen Bundestag mit Migrationsgeschichte. Mit den bescheidenen Verbesserungen gegenüber 2017 können wir daher aus Sicht der TGD und anderer Migrant_innenselbstorganisationen nicht zufrieden sein.
Im letzten Kabinett gab es nicht eine einzige Person, die selbst negativ von Rassismus betroffen gewesen wäre. Das dies am Ende auch ein deutliches Kompetenzdefizit ist, wurde im KabA sichtbar. Diese Auseinandersetzung mit Rassismus auf der höchstmöglichen politischen Ebene ist zwar ein starkes Signal, aber das Verständnis von Rassismus ist hier so begrenzt, dass die Arbeit der Antidiskriminierungsstelle des Bundes im Maßnahmenkatalog kaum Erwähnung findet. Hier hätte echte Repräsentation mit Sicherheit einen zentralen Unterschied gemacht und das gilt für viele gesellschaftlichen Bereiche und ihre Gestaltung.
Die Ampel-Parteien konnten in den vergangenen Bundestagswahlen die Mehrheit der Bevölkerung in Deutschland politischen überzeugen und haben auch das Vertrauen vieler Wähler_innen mit Migrationsgeschichte bekommen. Jetzt messen wir die Parteien an ihren Taten. Die Frage, die dabei aus unserer Sicht zuerst im Zentrum steht, ist: Hat am Ende jede vierte Ministerin bzw. jeder vierte Minister und auch die Staatssekretär_innen eine Migrationsgeschichte?
Nach der deutlich wahrnehmbaren Bewegung in vielen Köpfen in der Bevölkerung, die sich in der Mehrheit für ein progressives Regierungsbündnis ausgesprochen hat müssen die diversitätsbefürwortenden Parteien ihre guten Vorsätze jetzt auch durch eine entsprechende Besetzung von politischen Positionen unter Beweis stellen.
Am 2. Dezember 1995 hat sich die Türkische Gemeinde in Deutschland (TGD) mit dem Ziel gegründet, sich in der Öffentlichkeit und gegenüber Politik und Verwaltung für die Belange und Interessen türkeistämmiger Menschen in Deutschland einzusetzen. Heute begreift sich die TGD als Bestandteil der Demokratie- und Menschenrechtsbewegung in Deutschland und arbeitet dafür, dass möglichst viele Menschen Verantwortung für den gesellschaftlichen Zusammenhalt und die Werte der Verfassung übernehmen und sich für eine inklusive Gesellschaft einsetzen. Die TGD ist ein gemeinnütziger eingetragener Verein und eine Dachorganisation für ihre Mitglieder – derzeit 267 Einzelvereine aus verschiedenen Bundesländern.
Zum 60. Jahrestag des Anwerbeabkommens mit der Türkei sprechen wir mit dem Historiker Stefan Zeppenfeld über Hintergründe und Entwicklungen.
Wie kann gesellschaftliche Vielfalt stärker in der Kommunalpolitik abgebildet werden?
Warum ein progressives Narrativ über die deutsche Migrationsgesellschaft nötig ist
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Jochen Dahm
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