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Die Auslagerung von Asylverfahren folgt der gleichen gescheiterten Abschreckungslogik – ein Umdenken ist nötig, so Felix Braunsdorf.
Der neue britische Premierminister Keir Starmer hat den Ruanda-Deal für „tot und begraben“ erklärt. Das Abkommen sah vor, dass Menschen, die irregulär nach Großbritannien einreisen keinen Asylantrag stellen können. Stattdessen sollten Personen, die über den Ärmelkanal versuchen nach Großbritannien einzureisen, ins 6.000 Kilometer entfernte Ruanda geflogen werden, um dort ein Asylverfahren nach ruandischem Recht zu durchlaufen. Eine Rückkehr sollte ausgeschlossen werden. Damit hat Starmer der Debatte um die Auslagerung von Asylverfahren in Drittstaaten einen Dämpfer verpasst. Sicherlich spielten bei der Entscheidung auch menschenrechtliche Bedenken eine Rolle. In erster Linie ging es ihm aber darum, dass dieses „Gimmick“ keine abschreckende Wirkung entfaltet.
Das ist auch das vorläufige Ergebnis der Anhörungsserie des Bundesinnenministeriums mit 23 nationalen und internationalen Sachverständigen. Diese hatten den Auftrag, die Auslagerung von Asylverfahren zu prüfen. Die überwiegende Mehrheit von 20 Expert_innen äußerte sich skeptisch bis kritisch zu den rechtlichen und praktischen Umsetzungsmöglichkeiten. Viele sahen ein erhebliches Risiko von Rechtsverletzungen und Erosion des Flüchtlingssystems und warnten vor einem massiven Ausbau der Asylbürokratie, unkalkulierbaren Abhängigkeiten von zweifelhaften Regimen sowie hohen finanziellen und geopolitischen Kosten. Darüber hinaus wurde auf die schwerwiegenden Folgen für die physische und psychische Gesundheit der betroffenen Menschen hingewiesen, die in umgesetzten Modellen festgestellt wurden. Dass die Ministerpräsidentenkonferenz die Bundesregierung am 20. Juni dennoch aufgefordert hat, konkrete Modelle zu entwickeln, ignoriert das Ergebnis der Anhörung. Teile der Politik scheinen an einer Abschreckungslogik festzuhalten, mit der Europa schon seit Jahren scheitert und die zu vielen Opfern an den EU-Außengrenzen geführt hat.
Seit Jahren versuchen die EU und ihre Mitgliedsstaaten mit schmutzigen Deals, die Grenzsicherung in Staaten außerhalb Europas auszulagern und Geflüchtete dort festzuhalten. Mit dem Italien-Libyen-Deal von 2017 flossen zunehmend Gelder an libysche Stellen, um Küstenwache und Auffanglager zu errichten – Lager in denen schwerste Menschenrechtsverletzungen auch durch Partner der EU nachweislich stattfanden und finden. Immer mehr EU-Fonds werden seitdem genutzt, um derartige Projekte zu finanzieren. So zum Beispiel 60 Mio. aus dem EU-Treuhandfonds, um die libyschen Behörden bei der Bekämpfung der Schleuserkriminalität zu unterstützen. Dazu gehörte auch Material und Training für die libysche Küstenwache, die immer wieder zivile Seenotrettungsschiffe mit Waffengewalt bedroht und mit riskanten Manövern in laufende Rettungseinsätze eingreift und damit die Menschen in Seenot in Lebensgefahr bringt. Mit Schiffen, zum Teil gespendet von der italienischen Regierung, schleppt die libysche Küstenwache Menschen gegen ihren Willen nach Libyen zurück, wo sie meist in Haftanstalten eingesperrt werden. Dort sind sie in einem Teufelskreis aus Gewalt, Missbrauch und Folter gefangen. Die Vereinten Nationen und das Europäische Parlament werfen der EU-Kommission, einzelnen Mitgliedsstaaten und EU-Agenturen deshalb eine Mitverantwortung an den Menschenrechtsverbrechen in Libyen vor. So stellt der Bericht der UN-Untersuchungskommission fest, dass die libysche Küstenwache und andere von der EU finanzierte, staatlich geführte Einrichtungen in Verbrechen gegen die Menschlichkeit verwickelt sind. Obwohl den Verantwortlichen in der EU die Situation vor Ort bekannt ist, folgen keine Konsequenzen für die Zusammenarbeit . Im Gegenteil: Erst kürzlich wurde – auch unter Beteiligung der Bundesregierung – auf einem Migrationsforum in Tripolis die Zusammenarbeit bekräftigt.
Die Auslagerung von Asylverfahren in Drittstaaten wäre die nächste Eskalationsstufe in der Abschreckungsspirale, die eine Gruppe von EU-Staaten gerne einleiten möchten. Doch Völker- und EU-Recht stehen diesen Vorhaben im Weg. Trotzdem suchen gut 15 EU-Staaten nach Möglichkeiten, Menschen, die sich bereits in der EU oder unter der Kontrolle eines EU-Staates befinden, in einen Drittstaat zu bringen. Notfalls wollen sie dafür das EU-Asylrecht ändern, wie sie in einem Schreiben an die Kommission erklärten. Und das, obwohl gerade erst - nach acht Jahren zäher Verhandlungen - die Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems verabschiedet wurde, die den Zugang zu Schutz in Europa bereits stark einschränkt.
Italien glaubt bereits einen Weg gefunden zu haben, EU-Recht zu umgehen. So will die Regierung Menschen, die in internationalen Gewässern gerettet bzw. aufgegriffen werden, noch bevor sie in italienisches Staatsgebiet und damit der EU gelangen, in Lager nach Albanien bringen und dort ihr Asylbegehren prüfen. Im Auffanglager im Hafengelände von Shëngjin sollen sie registriert werden und im Hinterland, im Internierungslager bei Gjadër, soll das Asylverfahren stattfinden. Der Start war für Mai 2024 geplant, musste aber wegen Problemen beim Bau der Lager verschoben werden. Obwohl es Ausnahmen für besonders Schutzbedürftige geben soll, sind noch viele Details sowie rechtliche und praktische Fragen offen.
Zum Beispiel, wo, wie und von wem schutzbedürftige Personen identifiziert werden sollen. Dies gilt besonders für Menschen, deren Bedürfnisse nicht sofort erkennbar sind, wie z. B. Opfer von Folter, Menschenhandel oder geschlechtsspezifischer Gewalt, chronisch Kranke, ältere Minderjährige oder Menschen mit psychischen Problemen.
Nach Ansicht von Amnesty International verstößt das Abkommen außerdem gegen die Verpflichtung Italiens, aus Seenot gerettete Menschen so schnell wie möglich an Land zu bringen. Die Fahrt zum albanischen Hafen Shengjin würde zwei bis drei Tage auf See in Anspruch nehmen, was deutlich länger als zum nächstsicheren italienischen Hafen wäre.
Eine weitere Frage ist, wie die italienischen Behörden ein faires Asylverfahren oder eine gerichtliche Überprüfung der Inhaftierung in Albanien gewährleisten wollen. Die italienischen Behörden haben klargestellt, dass diejenigen, die nach Albanien überstellt werden, die Lager während des Verfahrens nicht verlassen dürfen. Das bedeutet, dass sie automatisch in Gewahrsam genommen werden, was willkürlich geschehen würde und somit gegen Italienisches, internationales und EU-Recht verstößt.
Das italienischen Auslagerungsmodell - sollten es umgesetzt werden - wird mit hoher Wahrscheinlichkeit die Gesundheit der Schutzsuchenden beeinträchtigen und ihre Rechte verletzen. Dies sind die Lehren aus den Modellen Australiens und Großbritanniens.
Mit Verweis auf die Länder Australien und Großbritannien (und den EU-Türkei-Deal) wurden Auslagerungsmodelle jahrelang hinweg als pragmatische und wirksame Lösungen verkauft. Dabei ist weder die abschreckende Wirkung hinreichend belegt, noch funktionieren die wenigen Beispiele aus der Praxis – zum einen, weil sie gegen nationales und internationales Recht verstoßen, zum anderen aber auch, weil sich kaum Drittstaaten finden, die sich auf die Vertragsbedingungen einlassen wollen und wenn, dann nur gegen erhebliche finanzielle und politische Gegenleistungen. Neben fehlender Wirkung und praktischen Problemen bei der Umsetzung sind die Kosten für entsprechende Auslagerungsmodelle enorm. So hat der gescheiterte UK-Ruanda Deal den britischen Steuerzahler bereits jetzt mehr als 830 Millionen Euro gekostet. Wäre er umgesetzt worden, hätte er mehr als 1 Mrd. Euro gekostet. Für den Albanien-Deal sind Ausgaben von knapp 670 Millionen Euro für fünf Jahre geplant, wobei noch weitere Kosten für Richter, Sicherheitspersonal und Ärzte anfallen.
Und schließlich ist auch der Schaden und das Leid bei den Betroffenen von Auslagerungsmodellen immens, wie Daten von Ärzte ohne Grenzen belegen. Bereits 2001 schloss die australische Regierung mit den Inselstaaten Papua-Neuguinea und Nauru ein Abkommen: Asylsuchende, die auf dem Seeweg das Land erreichten, wurden auf Pazifikinseln gebracht. Auf Nauru führte die zeitlich unbegrenzte Offshore-Internierung unter menschenunwürdigen Bedingungen zu einer psychischen Gesundheitskrise. Ein Team von Ärzte ohne Grenzen leistete auf Nauru psychologische Hilfe und machte die verheerenden Folgen der australischen Internierungspolitik in einem Bericht 2018 öffentlich: 60 Prozent der Patient_innen hatten Selbstmordgedanken, 30 Prozent hatten einen Selbstmordversuch unternommen.
Auch in Großbritannien lassen sich die gesundheitlichen Folgen der Auslagerungspläne mit Daten belegen, obwohl letztlich kein Mensch nach Ruanda gebracht wurde. Ende Mai 2024 veröffentlichte Ärzte ohne Grenzen einen Bericht der die gesundheitlichen Folgen deutlich macht: Mehr als 74 Prozent der Menschen, die in Wethersfield, einer Massenunterkunft (Mass Containment Site) in Essex, medizinische Hilfe suchten, litten unter schweren psychischen Problemen, 41 Prozent hatten sich absichtlich selbst verletzt, waren von Selbstmordgedanken geplagt oder hatten bereits einen Selbstmordversuch überlebt. Nach zum Teil jahrelanger Flucht glaubten sie, endlich einen sicheren Ort gefunden zu haben. Bis sie durch die Abschiebepläne in einen rechtlichen Schwebezustand gerieten, in dem sie kein Asyl beantragen konnten, die Frage aber, wann und wie sie nach Ruanda überstellt werden, ungeklärt blieb. Diese Ungewissheit über das eigene Schicksal und die Hilflosigkeit wirken sich unweigerlich auf die psychische Gesundheit aus.
Als wäre der finanzielle und gesundheitliche Schaden, den meist wirkungslose Auslagerungsabkommen mit sich bringen nicht genug, können entsprechende Vereinbarungen zudem dem Flüchtlingsregime auf internationaler Ebene enormen Schaden zufügen. Denn drei Viertel der Flüchtlinge weltweit leben in Ländern mit niedrigem und mittlerem Einkommen. Wenn die westlichen Staaten ihre Verantwortung auslagern, warum sollten dann Länder, die wirtschaftlich viel schlechter gestellt sind daran festhalten weiterhin Geflüchtete aufzunehmen und diese zu versorgen? Ein Beispiel: Im Tschad, einem der ärmsten Länder der Welt mit 18 Millionen Einwohnern, haben zum Beispiel mehr als 600.000 Menschen Zuflucht gefunden, die aus dem benachbarten Bürgerkriegsland Sudan geflohen sind. Der UN-Flüchtlingskommissar warnte deshalb bereits 2021 vor einer Abwärtsspirale im internationalen Flüchtlingsschutz. In einem Interview fragte er, wie er Länder wie den Libanon, Uganda oder Bangladesch, die bereits Millionen von Geflüchteten aufgenommen haben, weiterhin zur Einhaltung ihrer internationalen Verpflichtungen auffordern soll, wenn sich gleichzeitig Europa mit neuen Grenzzäunen, push-backs und Auslagerungsabkommen aus der Verantwortung zieht.
Es sollte klar geworden sein: Eine menschenrechtskonforme Abschreckungspolitik ist eine Illusion und die Auslagerung von Asylverfahren keine pragmatische Lösung, sondern „more of the same“ einer veralteten Abschreckungslogik. Mit ihrer Hilfe wurde Migration politisch instrumentalisiert und schrittweise auf europäischer Ebene immer brutalere Maßnahmen und Mittel gegen Schutzsuchende salonfähig gemacht, die die Gesundheit und Würde von Menschen gefährden – ein Prozess der schleichenden Entmenschlichung, der auch auf die Bevölkerungen in Europa Auswirkungen haben wird. Um diesen Kurs zu stoppen, braucht es ein Umdenken hin zu einer evidenzbasierten Politik, die Schutzsuchende nicht fortwährend als Bedrohung darstellt. Die Obsession, irreguläre Migration zu reduzieren, verstellt den Blick, die Fluchtursachen wie Kriege und Konflikte zu bearbeiten. Darauf muss sich der Fokus richten. Darüber hinaus sollten Politiker_innen, wenn sie nach realistischen Lösungen suchen, die Folgeeffekte und Risiken einer Kooperation in Drittstaaten bedenken. Denn neben gesundheitlichen und finanziellen Risiken, kann diese auch zu mehr politischer Instabilität, Gewalt, Konflikt und einer Zersetzung des internationalen Flüchtlingsschutzes führen.
Die Europäische Kommission muss den Auslagerungsplänen einzelner Mitgliedstaaten Grenzen setzen. Als Hüterin des EU-Rechts und der EU-Verordnungen muss sie mit allen ihr zur Verfügung stehenden Mitteln dafür sorgen, dass EU-Recht und internationales Recht vollständig umgesetzt und nicht umgangen werden. Die Kommission sollte eine transparente und detaillierte rechtliche Bewertung des Abkommens zwischen Italien und Albanien vornehmen und prüfen, ob der Plan mit den Verpflichtungen Italiens aus der EU-Grundrechtecharta und dem EU-Asylrecht vereinbar ist. Außerdem muss die Kommission sicherstellen, dass Italien durch das Abkommen die zivile Seenotrettung nicht behindert. Leben zu retten und humanitäre Hilfe zu leisten - insbesondere, wenn Menschen auf See in Gefahr sind - ist ein menschenrechtliches Gebot, das niemals kriminalisiert oder strafrechtlich verfolgt werden darf.
Die externe Dimension der EU-Migrationspolitik, einschließlich ihrer Abkommen und Vereinbarungen mit Ländern wie Libyen, Tunesien und Ägypten, muss auf den Prüfstand gestellt werden. Die Entscheidungsprozesse, die zu migrationspolitischen Kooperationen führen, und deren Inhalte müssen öffentlich zugänglich sein, um Transparenz und Rechenschaftspflicht der handelnden Akteure zu gewährleisten. Darüber hinaus bedarf es unabhängiger Mechanismen zur Überwachung der Menschenrechtssituation an den EU-Außengrenzen und in den Drittstaaten, mit denen die EU kooperiert, um sicherzustellen, dass die Zusammenarbeit dem Do-No-Harm-Prinzip folgt. Die EU muss Kooperationen pausieren oder beenden, wenn das Risiko von Menschenrechtsverletzungen oder anderen Schäden hoch ist und nicht wirksam minimiert werden kann. Enormer Schaden ist durch die EU-Migrationspolitik aber schon jetzt entstanden: Das Bild der EU als glaubwürdige Beschützerin von Menschenrechten gehört der Vergangenheit an.
Felix Braunsdorf ist politischer Referent in der Berlin Advocacy Unit von Ärzte ohne Grenzen Deutschland. Er arbeitet dort zu dem Themen Flucht und Vertreibung mit dem Fokus auf humanitärer Hilfe im Kontext der Migrationspolitik, Seenotrettung und europäischer Grenzpolitik. Zuvor hat er sieben Jahre für die Friedrich-Ebert-Stiftung als Referent für Migration und Entwicklung zu Fragen der entwicklungsorientierten Migrationspolitik und dem Globalen Pakt für Migration der Vereinten Nationen gearbeitet. Felix Braunsdorf ist studierter Politik-, Kommunikations-, und Verwaltungswissenschaftler.
Die im Artikel zum Ausdruck gebrachten Meinungen und Äußerungen der Gastautor_innen spiegeln nicht notwendigerweise die Haltung der Friedrich-Ebert-Stiftung wider.
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