Internationaler Frauentag: Nicht nur mitreden, sondern vorangehen
Nach über fünfzig Jahren fiel im Dezember 2024 das Assad-Regime. Danach waren die Medien voller Berichte, auch über die Hoffnung auf einen Neuanfang. Sie selbst sind kürzlich in Ihr Heimatland zurückgekehrt. Wie ist dort die Lage für Frauen?
Sana Mustafa: Für alle Syrer*innen bedeutet der Sturz des Assad-Regimes einen gewaltigen Wendepunkt und eine ungeheure Erleichterung. Das Ende von über fünfzig Jahren Unterdrückung durch dieses Regime eröffnet Frauen mehr Möglichkeiten, sich am Neuaufbau unserer Gemeinden zu beteiligen. Wie sich syrische Frauen heute fühlen mögen, kann man nicht verstehen, ohne sich den Kampf um ihre Rechte und um ihr Leben während der fünfzig Jahre Diktatur vor Augen zu führen.
Unter dem Assad-Regime waren syrische Frauen systemischen Rechtsverletzungen ausgesetzt. Das Regime setzte geschlechtsbezogene Gewalt ein, um die Bevölkerung zu unterdrücken und zu kontrollieren, wobei Frauen oft die Hauptlast dieser Übergriffe trugen. Von sexualisierter Gewalt und gewaltsamem Verschwindenlassen bis zu willkürlichen Festnahmen und Folter wurden Frauenkörper durch den Staat als Waffen eingesetzt. Doch trotz dieser Unterdrückung und der Verwüstungen des Krieges haben Frauen den Widerstand mitangeführt. Viele Frauen wurden zu Hauptverdienerinnen und Familienvorständen, da männliche Familienmitglieder gestorben, inhaftiert oder vertrieben waren. In ihren Gemeinden sind sie zu Entscheidungsträgerinnen geworden, haben Ressourcen verwaltet und unter schwersten Bedingungen Familien zusammengehalten.
Für die Frauen, die so viel aushalten mussten, wie auch für das gesamte Land ist jetzt ein entscheidender Zeitpunkt, um Syrien inklusiver, fairer und gerechter wiederaufzubauen. Was vor uns liegt, wird nicht einfach sein, aber wir haben hier die Chance einer besseren Zukunft – in der Frauen nicht bloß Überlebende sind, sondern gleichberechtigte Mitgestalterinnen.
Für einen Wiederaufbau Syriens ist die Verhandlung eines neuen Gesellschaftsvertrags erforderlich, damit ein nachhaltiger Frieden entstehen und das Land sich demokratisch entwickeln kann. Wie kann sich dabei die Mitwirkung von Frauen gestalten?
Syrische Frauen haben bereits gezeigt, wie widerstandsfähig und führungsfähig sie sind, durch eine ganze Reihe von Bürgerbewegungen, politischen Parteien und Kollektiven, die sich schon früher für die Rechte und Würde von Frauen eingesetzt haben. Obgleich diese Organisationen vom Regime oftmals zum Schweigen gebracht oder zumindest zersetzt wurden, waren sie doch ganz wesentlich dafür, dass es die Vorstellung eines inklusiveren und gerechteren Landes gibt. Zukünftig müssen diese frauengeführten Gruppen und Initiativen unterstützt und ausgebaut werden. Gerade weil sie an vorderster Front standen – sowohl im Konflikt als auch im Kampf für einen sozialen Wandel –, haben sie wertvolle Erfahrungen und Einsichten zu bieten. In der künftigen Politikgestaltung des Landes dürfte sich ihre Arbeit als entscheidend erweisen und könnte gewährleisten, dass im Wiederaufbau den Bedürfnissen sämtlicher Bürger*innen Rechnung getragen wird, insbesondere denen marginalisierter Frauen.
Für inklusive Entscheidungsprozesse und einen nachhaltigen Frieden ist es ausschlaggebend, dass im Nachkriegssyrien eine substanzielle Teilhabe von Frauen sichergestellt wird: Frauen müssen in sämtlichen Bereichen Machtpositionen besetzen, nicht nur bei vermeintlichen Frauenthemen. Für eine nachhaltige und gerechte Entwicklung muss eine solche Beteiligung kritische Bereiche wie Regierung, Wirtschaft und das Justizwesen umfassen.
Seit Sie Syrien verlassen mussten, ist eines Ihrer Hauptanliegen, weibliche Stimmen Geflüchteter in politische Lösungsansätze einzubinden. Doch gleichzeitig liegt das Hauptaugenmerk der öffentlichen Debatte derzeit auf Abschiebungen und Grenzschließungen. Wo sehen Sie Hoffnung, wie sich diese repressiven Entwicklungen umkehren ließen?
Solange es Stimmen des Widerstands gibt – gerade, wenn Frauen weiter für ihre Ansichten und Rechte eintreten, – bleibe ich zuversichtlich. Die eigentliche Stärke liegt im Widerstand von Menschen, die sich selbst angesichts repressiven Vorgehens und einer feindlichen Politik nicht zum Schweigen bringen lassen. Erst wenn Menschen aufhören, derart für sich einzutreten, sollten wir uns wirklich Sorgen machen. Im Laufe der Geschichte hat sich immer wieder gezeigt, dass sich der Repressionsapparat dann ungehemmt in Bewegung setzt, wenn Menschen den Widerstand aufgeben. Aber solange Widerstand geleistet wird, und sei es auch nur in kleinsten Handlungen, zeigt das, dass noch eine Chance auf Wandel besteht.
In unterschiedlicher Form haben die derzeitigen Kräfte immer existiert, und leider treten sie gerade in Momenten der Krise oder Ungewissheit wieder in Erscheinung. Mir gibt es jedoch Hoffnung, dass die Geschichte uns auch gezeigt hat, dass sich Widerstandsbewegungen auf ganz unverhoffte Weise bilden können, insbesondere wenn Menschen über Grenzen, einzelne Sektoren und Gemeinden hinweg zusammenarbeiten.
Der Schwerpunkt des diesjährigen Internationalen Frauentages liegt darauf, wie junge Frauen und Mädchen bleibenden Wandel vorantreiben können. Welche Zukunftsvorstellungen haben junge Frauen in Syrien?
Wie an vielen anderen Orten der Welt ist diese Generation voller Energie, Kreativität und zudem entschlossen, eine bessere Zukunft zu gestalten. Die Zukunftsvorstellungen dieser jungen Frauen für Syrien sind stark geprägt durch ihr erlebtes Leid und was sie aus Jahren des Krieges und der Vertreibung gelernt haben. Doch trotz dieser Herausforderungen haben sie ein starkes Bedürfnis nach einem Wiederaufbau des Landes, mit einem Fokus auf Gerechtigkeit, Gleichstellung und Frieden. Ihre Stimmen sollten im Gespräch nicht nur gehört werden – auf dem Weg zu einem nachhaltigen Wandel sollten sie vielmehr die Richtung angeben.
Sana Mustafa ist eine international anerkannte NGO-Führungspersönlichkeit und Menschenrechtsaktivistin, die sich gegen systemische Unterdrückung in Syrien und weltweit engagiert. Sie ist zudem Mitglied des Aktionsnetzwerks für Frauen auf der Flucht des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung.
Die im Artikel zum Ausdruck gebrachten Meinungen und Äußerungen der Gastautor_innen spiegeln nicht notwendigerweise die Haltung der Friedrich-Ebert-Stiftung wider.