Neuseelands Labour-Partei und die neuen Kiwis
Wie sehen in Neuseeland die jüngsten Entwicklungen im Bereich Migration aus, sowohl was die Einwanderung von Fachkräften anbetrifft als auch die aus humanitären Gründen? Was sind die Kernpunkte in der politischen Debatte?
Phil Twyford: Neuseeland ist ein Einwanderungsland durch und durch. Das geht zurück bis zu unserer britischen Kolonialgeschichte, als Siedler*innen aus dem Vereinigten Königreich mit der Vorstellung eines kleinen Britanniens in der Südsee hierherkamen. Im Laufe der letzten fünfzig Jahre begriffen dann aufeinanderfolgende Regierungen, dass wir Immigrant*innen für Tätigkeiten brauchen, für die uns sonst die Leute fehlen. In den 1960er- und 70er-Jahren kamen Menschen aus Samoa und Tonga hierher, um in Fabriken zu arbeiten. Heute sind diese pazifischen Gemeinschaften ein fester Teil unseres nationalen Selbstverständnisses. In den letzten Jahrzehnten kam der Großteil der Immigrant*innen dann aus Ostasien und Südasien und heute von den Philippinen.
Unseren internationalen Verpflichtungen entsprechend nehmen wir auch Geflüchtete auf, wobei wir zahlenmäßig nicht so großzügig und gastfreundlich waren wie Deutschland in den letzten Jahren. Dafür gebührt Deutschland Anerkennung! Zuletzt sind viele der Geflüchteten aus Syrien, Afghanistan und Myanmar gekommen.
Auckland, unsere einwohnerstärkste Stadt, ist dadurch ungeheuer divers geworden. In meinem Wahlbezirk im städtischen West-Auckland leben Māori, Menschen aus dem Pazifikraum, indischstämmige und chinesischstämmige Leute. Die Pākeha – die europäischstämmigen Neuseeländer*innen – sind in der Minderheit. Heute sind 28 Prozent der neuseeländischen Bevölkerung außerhalb des Landes geboren. Wie die meisten anderen Länder hatten wir von Zeit zu Zeit damit zu kämpfen, dass sich die Alteingesessenen manchmal schwer mit den Neuankömmlingen tun oder sich durch sie bedroht fühlen. Es gibt noch viel zu tun, aber alles in allem bin ich als Neuseeländer doch stolz darauf, wie wir diesen enormen sozialen Wandel gestaltet haben. Es wird gemeinhin anerkannt, dass wir alle auf die ein oder andere Weise Immigrant*innen sind, und wir miteinander auskommen müssen. Die »neuen Kiwis« werden darin bestärkt, ihre Gepflogenheiten, ihren Glauben und ihre Sprache zu bewahren. Wir haben es uns zum Prinzip gemacht, den Leuten nicht abzuverlangen, dass sie ihre Identität aufgeben, um Neuseeländer*innen zu werden.
Die meisten Menschen hier würden wohl zustimmen, dass wir Immigrant*innen aufnehmen müssen, weil das Land Leute braucht, um Arbeitsplätze zu besetzen, damit die Wirtschaft wachsen kann. Aber wie sehr einige Schlüsselindustrien tatsächlich auf migrantische Arbeitskräfte angewiesen sind – etwa der Bausektor, die Milchwirtschaft oder das Gesundheitswesen –, dürfte vielen nicht klar sein. Noch ausschlaggebender ist, dass wir wie so viele Länder eine alternde Bevölkerung haben. Noch auf lange Zeit hin werden wir junge Migrant*innen brauchen, um die Steuerlast zu stemmen, die den Ruhestand und die Gesundheitsversorgung unserer älteren Mitbürger*innen finanzieren soll.
In Neuseeland gilt die im internationalen Vergleich eher ungewöhnliche Regelung, dass sich dort jüngst Zugewanderte ohne neuseeländische Staatsbürgerschaft aktiv politisch beteiligen können. Wie würden Sie die Erfahrung damit beschreiben und herrscht bei diesem Konzept parteiübergreifender Konsens?
Nach unseren Gesetzen dürfen Menschen hier wählen, wenn sie seit einem Jahr ein Aufenthaltsvisum haben. Sie müssen nicht eingebürgert sein, um wählen zu können. Dieser Punkt ist unstrittig. Ich habe noch nie gehört, dass das jemand infrage gestellt hätte. Mir persönlich ist das wichtig, weil so die Botschaft gesendet wird, dass man, wenn man Neuseeland erreicht hat und das Recht hat, hierzubleiben, auch wählen und an unserer Demokratie teilhaben kann. Mir erscheint das als wichtige Botschaft in puncto Zugehörigkeit – dass man in seiner neuen Heimat eine Stimme hat. Wenn ich im Wahlkampf mit Menschen spreche und ihnen das sage, kann ich sehen, dass es bei ihnen etwas auslöst.
Um die Basis der Labour-Partei zu stärken, sind Sie ganz bewusst auf Migrant*innen und Geflüchtete in Ihrem Wahlkreis zugegangen. Wie erfolgreich war dieser Ansatz und was lässt sich daraus lernen?
Im politischen Organisieren habe ich unterschiedliche Formate ausprobiert, wie die Labour-Partei die Beziehung zu Gemeinschaften ehemaliger Migrant*innen und Geflüchteter stärken könnte. Manche dieser Gruppen sind Labour sehr zugetan und betrachten uns als ihre Partei, aber gleichzeitig weisen sie eine geringe Wahlbeteiligung auf. Vor den Wahlen 2023 habe ich ein Projekt geleitet, mit dem wir die Diaspora aus Afghanistan, Myanmar und Tuvalu erreichen wollten, um ihre Wahlbeteiligung zu stärken. Die drei Gruppen unterscheiden sich untereinander zwar stark, aber gemein ist ihnen eben eine geringe Wahlbeteiligung. Teilweise ist das Sprachbarrieren geschuldet. Manchmal haben Menschen aus ihren Herkunftsländern eine Skepsis oder sogar Zynismus gegenüber der Politik im Allgemeinen mitgebracht. Und viele Leute stellten sich als so bescheiden heraus, dass sie fanden, wählen gehen wäre etwas für wichtigere Leute als sie selbst.
Wir wollten diesen Menschen ein Mitbestimmungsrecht im demokratischen Prozess geben. Ihrer Gemeinschaft eine Stimme verleihen. Wir warben Freiwillige an und bildeten sie für den Einsatz in ihren jeweiligen Gemeinschaften aus, um dort das Bewusstsein der Bürger*innen für Demokratie und Wahlen zu stärken. So wurden Leute ins Wählerverzeichnis eingetragen. Kurz vor den Wahlen gingen unsere Ehrenamtlichen dann von Tür zu Tür, um die Leute daran zu erinnern, wählen zu gehen, und manchmal sogar mit zum Wahllokal, um dort zu dolmetschen.
Das mitzuerleben, war sehr bewegend. Das Projekt war ziemlich erfolgreich, und wir haben viel daraus gelernt. Mittlerweile haben wir ein neues Projekt mit der Filipino-Gemeinschaft gestartet, die ziemlich groß ist und schnell wächst.
Allgemeiner betrachtet: Worin liegen für Sie die Chancen für Labour, wenn die Partei auf migrantische Gemeinschaften und Geflüchtete zugeht? Lassen sich Identitätspolitik und Klassenkampf gut miteinander vereinen? Und was sind hier die Herausforderungen im Kontext von Parteienwettbewerb und öffentlicher Debatte rund um die wichtigsten Themen in Neuseeland?
Für die Labour-Partei ist diese Arbeit essenziell. Unsere Gesellschaft befindet sich in einem raschen Wandel – wenn wir für das Neuseeland von morgen relevant und eine führende politische Kraft bleiben wollen, müssen wir zu diesen neuen Gemeinschaften starke Beziehungen aufbauen. In der Vergangenheit haben wir zu Māori-Gemeinden und Menschen aus dem Pazifikraum dauerhafte Verbindungen geschaffen, aufgrund von Werten und einer Identität, die sich für unsere heutige Partei als richtungsweisend erwiesen haben. Jetzt liegt unsere Aufgabe darin, glaubwürdig Beziehungen mit den jüngeren Generationen von Migrant*innen aus Ostasien, Südasien und von den Philippinen aufzubauen.
Zur Person
Phil Twyford ist seit 2008 Mitglied des neuseeländischen Parlaments. In Jacinda Arderns Labour-Regierung diente er als Minister. Er vertritt den Wahlkreis Te Atatū und ist Sprecher der neuseeländischen Labour-Partei zum Thema Migration und damit verbundenen außenpolitischen Fragen.
Die im Artikel zum Ausdruck gebrachten Meinungen und Äußerungen der Gastautor_innen spiegeln nicht notwendigerweise die Haltung der Friedrich-Ebert-Stiftung wider.