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Zum 70. Geburtstag des Grundgesetzes reflektiert Seminarleiter Chadi Bahouth, was die deutsche Verfassung geflüchteten Menschen bedeutet.
Bild: Chadi Bahouth während des Seminars "Demokratische Bildung auf Arabisch" von FES
Bild: Grundgesetz von Reisefreiheit_eu lizenziert unter CC0 1.0
Das Grundgesetz feiert seinen 70. Geburtstag. Hierher geflüchtete Menschen sind vom Grundgesetz begeistert, aber auch irritiert. Und ich, der hier lebende Deutsche mit ausländischen Wurzeln und Fluchterfahrung, beginne dank ihnen, nicht nur meine eigene Verfassung besser zu verstehen.
Zwei Tage nehmen sie sich Zeit im FES-Seminar "Demokratische Bildung auf Arabsich", um gemeinsam zu diskutieren. Über das politische System Deutschlands, über Föderalismus und Demokratie, über Rechtsstaatlichkeit. Wir simulieren das echte Leben da draußen im kleinen Seminarraum drinnen mit einem Planspiel. Da sind Journalist_innen, Politiker_innen, Geflüchtete und Deutsche, Ehrenamtler_innen, aber auch die von den Rechtspopulist_innen. So kommt es, dass dann auch schon mal eine Frau mit Kopftuch eine PEGIDA-Anhängerin spielt. Sie sind schnell in ihren Rollen. Das Herzstück aber bildet das Grundgesetz. Es ist, so erklären wir es ihnen, das Fundament, auf dem das Zusammenleben in Deutschland gründet. Seit nunmehr 70 Jahren.
Seit 2015 diskutieren ich und ein_e Kolleg_in mit Geflüchteten aus verschiedenen Staaten unser Grundgesetz, unsere Verfassung. Die Geflüchteten kommen in der überwiegenden Zahl aus Ländern, in denen Rechtsstaatlichkeit nicht oder kaum bekannt ist. In ihrer Vorstellung sind Seiten in einem Gesetzestext leicht mit Geld zu beugen. Bakhchish (aus dem Arabischen, bedeutet so viel wie Bestechung). Umso mehr sind sie beeindruckt vom System in Deutschland, von der Unnachgiebigkeit, mit der das Grundggesetz verteidigt wird. Vom Staat, aber auch von Privatpersonen. Das ist für sie oft absolutes Neuland. Und sie sind fasziniert: „Deutsches Recht ist wirklich stark!”
Häufig beobachte ich zwei Lager, dasjenige, das sich an den neugewonnenen Freiheiten erfreut und jenes, das überfordert scheint. Artikel 5, Meinungsfreiheit. „Und ich darf hier wirklich alle kritisieren, auch Minister?“ Ein junger Syrer lacht laut auf: „Bei uns würden sie dich zum Kaffee bei deiner Tante abholen.“ Das Synonym für Foltergefängnisse. Der Galgenhumor bringt die Leute durch die schwierige Zeit. „Sehr gut“, sagt ein anderer, „dann kritisieren wir ab jetzt mehr.“ „Man muss Respekt haben vor den Staatsdienern!“, die Diskussion ist entfacht und mir wird immer bewusster, wieviel Freiheit wir genießen und wie sehr wir uns bemühen müssen, sie zu verteidigen, denn geschenkt wird sie nicht, die geflüchteten Teilnehmer_innen und ihre Geschichten sind das beste Beispiel dafür, was Unfreiheit bedeutet.
Durch die Teilnehmenden und ihre Beiträge habe ich gelernt, das Grundgesetz als das zu sehen, was es ist: Der Garant für ein friedliches und gerechtes Zusammenleben innerhalb der Grenzen Deutschlands. Durch sie habe ich aber auch gelernt, die Widersprüche des Grundgesetzes besser zu verstehen. Zu lange ist mittlerweile meine eigene Flucht her. Ich war damals auch noch zu jung, um zu verstehen, was es bedeutet, Asyl zu beantragen, die Sprache nicht zu sprechen, unsicher in der Kommunikation zu sein, oder einfach nur fremd zu sein, ein Außenseiter.
Während dieser Arbeit kamen auch die Gedanken meines jungen Ichs wieder. Es braucht Menschen, die mitfühlen, die helfen und unterstützen wollen, die die Werte des Grundgesetzes leben. Für mich war das damals eine ältere Dame, die aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten fliehen musste als Kind. „So wie wir, Oma!“, so nannten wir Kinder sie. „So wie ihr“, antwortete sie. Frieden ist nichts Selbstverständliches.
Meine Familie floh in den 70er Jahren nach Deutschland. Vor dem Krieg im Libanon. Asyl war damals ein Zauberwort. Es auszusprechen war leicht, es tatsächlich zu erhalten schwierig. Mein Vater lebte als Palästinenser im Libanon, ohne Staatsangehörigkeit, meine Mutter mit der libanesischen. Ich war wie mein Vater staatenlos. So wollte es das libanesische Recht. Für die deutsche Bürokratie zu viel. Sie beschlossen, meinen Vater und mich zurückzuschicken, meine schwangere Mutter sollte bleiben dürfen. Ein harter Kampf begann. Am Ende stand die deutsche Staatsbürgerschaft.
Dies sind Erinnerungen, die mit jedem Seminar klarer wurden. Die Geschichten, die die Menschen erzählen, ähneln sich. Familienzusammenführung - eine Herausforderung, die oft am deutschen Recht scheitert. In den Seminaren sah ich gestandene Männer weinen, die den gefährlichen Weg über das Mittelmeer wagten, um ihre Familien auf sicherem Weg nachholen zu können. Die Mühlen der Justiz mahlen aber langsam.
„Wo ist die Menschenwürde?!“, rief ein Mann mit verzweifelter Stimme. Artikel 1: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Er war seit acht Monaten in Deutschland. Seine Familie lebte in einer damals schwer umkämpften Region Syriens. Eine seiner vier Töchter wurde getötet. Für ihn brach eine Welt zusammen. „Warum bin ich hier, wenn sie mir nicht erlauben, meine Töchter zu holen?“
Wie erklärt man einem Menschen in einer solchen Situation, wie Rechtsstaatlichkeit funktioniert, dass sie Zeit benötigt, dass Bestechung nicht funktioniert? „Die Widersprüche des Grundgesetzes“ hieß ein Modul, ich ahnte nicht, wie deutlich sie sein würden.
70 Jahre ist es nun also schon alt und immer noch so frisch wie eh und je. Es hat Veränderungen erlebt und es schützt unsere wichtigsten Werte. Einige Inhalte sind so wichtig, dass seine Väter und Mütter sogar eine Kontrollinstanz eingebaut haben, Artikel 19, 2: „In keinem Falle darf ein Grundrecht in seinem Wesensgehalt angetastet werden.“
In einem Seminar besprechen wir diesen Artikel und es meldet sich ein ehemaliger Anwalt aus dem Irak. „Moment!“, sagt er, das stimme so doch nicht, wir hätten doch vorher schon über Artikel 16a gesprochen, der Artikel, der das Asylrecht definiert, und das, so sagt er: „Das ist doch de facto ausgehebelt worden, trotz der Genfer Flüchtlingskonvention.“
Recht hat er, denn selbst „politisch Verfolgte“, wie es im Gesetzestext heißt, erhalten, selbst in begründeten Fällen, nicht mehr ohne weiteres Asyl in Deutschland.
Die sogenannte Drittstaatenregelung im Rahmen des gemeinsamen europäischen Asylsystems hebelt in der Realität das Recht darauf aus. Theoretisch ist es immer noch da, aber in der Wirklichkeit wird mit „sicheren Drittstaaten“ so agiert, dass Menschen auf legalem Wege erst gar nicht mehr nach Deutschland kommen können. Und wer nicht kommen kann, kann auch kein Asyl beantragen. So reduziert man Zahlen. Über die Jahrzehnte hat der Druck von rechts in der Politik also Wirkung gezeigt.
Und wieder erinnere ich mich. So etwas gab es in den 1990er Jahren doch schon mal. Rostock Lichtenhagen. Brandanschläge auf ein Hochhaus, in dem Ausländer lebten. Der Mob formierte sich auf der Straße und junge Männer in rechter Tracht stürmten das Haus, warfen Brandsätze und das Volk jubelte.
Die Reaktion der Politik fiel so aus: Der damalige Bundesinnenminister sagte, Lichtenhagen sei „ein Vorgang, der das deutsche Ansehen in der Welt schädigt“. Und dann taucht es auf, dieses unsägliche Wort: „Asylmissbrauch“. Die Verdrehung von Täter- und Opferrolle. Es machte mich sprachlos, entfremdete mich und unzählige andere mit und ohne Migrationshintergrund von Deutschland.
Das Aushalten unliebsamer Meinungen lernen die Teilnehmenden schnell. Spätestens während des Planspiels, wenn die PEGIDA-Anhänger_innen lautstark „Ausländer raus!“ skandieren, und wir Seminarleiter_innen noch anfeuern, verstehen sie, wie sehr die Meinungsfreiheit gedeckt ist.
Nach der Simulation sitzen wir im Kreis zusammen und reflektieren. Jede und jeder erzählt von seinen und ihren Erfahrungen während des Spiels. Was denkt ihr jetzt vom Grundgesetz? Hat die Polizei eure Rechte geschützt? Durftet Ihr eine Gegendemonstration durchführen? Vielleicht habt Ihr auch eine Petition an die Politiker_innen eingereicht?
Ist eure Menschenwürde geachtet worden? Wenn nein, habt ihr Anzeige erstattet, die Möglichkeiten des Rechtsstaats genutzt? Durftest du deine Religion frei ausüben? Hat der Staat dich dabei sogar geschützt? Bist du allen anderen gegenüber gleichberechtigt? Ist Rassismus verboten, Diskriminierung ebenso wie Sexismus? Konntest du dich frei bewegen, arbeiten, was du möchtest, deine Religion frei wählen, deine Meinung frei äußern, die Regierung kritiseren, dich informieren?
Musst du deine Kinder in die Schule schicken? Darfst du dich frei versammeln? Bist du geschützt vor Willkür, selbst des Staates? Kannst du einen Verein, eine Interessengemeinschaft gründen, deine Ziele verfolgen? Sind deine Wohnung und deine Post geschützt? Darfst du Asyl beantragen? Darfst du besitzen und vererben?
Darfst du ein freies Leben leben?
Ein Projekt des Onlineportals sagwas gibt Menschen auf der Flucht eine Kamera in die Hand und die Chance, ihre Geschichten selbst zu erzählen.
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