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Marius Müller-Hennig

Wieviel China verträgt die NATO?

Autor*innen einer neuen FES-Studie identifizieren drei unterschiedliche Visionen für die Zukunft der nordatlantischen Allianz. Ein wichtiger Punkt dabei: Das Verhältnis zu China.

Der NATO-Gipfel am 14. Juni in Brüssel war der erste seiner Art nach dem Ende der Trump-Administration. Eingebettet in einen ganzen Gipfel-Reigen (u.a. G7-Gipfel, EU-US-Gipfel und das Biden-Putin-Treffen) richteten sich alle Augen auf den Auftritt des neuen US-Präsidenten. Die Stimmung war gut und konstruktiv, es waren jedoch auch kritische Zwischentöne zu vernehmen. Die prominentesten Einwände bezogen sich auf eine grundsätzliche Frage, mit der sich die NATO erst vergleichsweise kurz befasst: Das Verhältnis zum aufstrebenden China.

Auch im Gipfel-Kommuniqué finden sich starke Aussagen zu China, doch in der anschließenden Bewertung durch die Staats- und Regierungschefs wurden auch andere Perspektiven deutlich. Wieder einmal war es der französische Präsident Emmanuel Macron (der schon 2019 mit dem Wort vom Hirntod der NATO eine intensive Debatte befeuerte), der die deutlichsten Worte fand: Die NATO sei allein schon dem Namen nach, so Macron, eine Nordatlantik-Organisation und China habe nichts mit dem Nordatlantik zu tun.

Die Diskussion um das Verhältnis der NATO zu China

Im Gegensatz zur Diskussion in der NATO selbst, ist die Zukunft des Bündnisses und sein Verhältnis zu China schon länger Teil einer intensiven Debatte unter Expert*innen. Dies wurde auch in einer jüngst erschienenen Studie der FES deutlich. Anlässlich der auf dem Gipfel beschlossenen Überarbeitung des strategischen Konzepts der NATO hat die FES eine vergleichende Studie veröffentlicht, die von Expert*innen des Leibniz-Institut Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung (HSFK) erstellt wurde. Die Autor*innen analysieren und vergleichen darin die Diskussion unter Expert*innen zur Zukunft der NATO in 11 NATO-Mitgliedstaaten sowie zwei Nicht-Mitgliedstaaten.

Dieser Vergleich zeigt klar, welche Themen besonders umstritten sein dürften, wenn es um den zukünftigen Kurs der Allianz geht: Wie wird die NATO zukünftig den Umgang mit Russland zwischen Abschreckung und Dialog ausbalancieren? Wieviel Aufmerksamkeit wird die Allianz zukünftig den sicherheitspolitischen Konsequenzen des Aufstiegs Chinas beimessen? Wie umfangreich soll die Agenda der Allianz in der Zukunft sein, deren Kern doch eigentlich die militärische Verteidigung des Bündnisgebiets ist?

Drei Visionen für die Zukunft der NATO

Beim Vergleich dieser und vieler weiterer Aspekte in den unterschiedlichen nationalen Debatten, identifizieren die Autoren der Studie drei unterschiedliche Visionen für die Zukunft der NATO:

  1. Eine NATO-Klassik-Plus, in der der Fokus der Allianz auf Europa und seine kollektive Verteidigung gerichtet bleibt und allenfalls ein paar neue militärische Dimensionen zusätzlich in den Blick genommen werden, wie z.B. der Cyber- und der Weltraum.
  2. Eine NATO mit einem deutlich globaleren Horizont: Hier würde die Allianz tatsächlich den Blick stärker in Richtung Peking lenken und ihre politische und militärische Zusammenarbeit mit Demokratien weltweit stärken.
  3. Eine NATO für die „Generation Z“, in der die Allianz Ihre Agenda sogar noch mehr erweitern würde und nicht-militärische Sicherheitsrisiken vom Kimawandel bis zur demokratischen Resilienz in den Blick nehmen würde.

Die NATO als Wertegemeinschaft

Neben der vergleichenden Perspektive, die für den Strategieprozess derzeit besonders spannend sein dürfte, lohnt aber auch die Lektüre der individuellen Länderkapitel. Und dies auch jenseits derjenigen Länder die oftmals besonders im Fokus stehen – wie die USA, das Vereinigte Königreich oder Frankreich – wenn es um die Zukunft der NATO geht.

Nehmen wir zum Beispiel den zuletzt oft wiederholten Anspruch, die NATO sei eine Wertegemeinschaft und müsse dies wieder stärker in den Fokus rücken und dem Anspruch gerecht werden. Wussten Sie, dass der entsprechende Artikel 2 des Nordatlantikvertrags innoffiziell auch als „Kanada-Klausel“ bezeichnet wird? Gerade für die deutsche Diskussion ist die kanadische Sichtweise auf die Allianz auch in anderer Hinsicht besonders aufschlussreich: angesichts des Spannungsverhältnis zwischen Mitgliedschaft in einer nuklearen Allianz wie der NATO einerseits und der normativen Vision einer nuklearwaffenfreien Welt andererseits, aber auch angesichts der Frage, wie man eine gerechte Lastenteilung besser als über das umstrittene 2-Prozent Ziel messen könnte.

Ein Beispiel für ein anderes Länderkapitel, welches nicht direkt ins Auge springt aber die Lektüre lohnt, ist jenes zur Türkei. Gerade für das Verständnis des zuletzt sehr spannungsreichen Verhältnisses zwischen der Türkei und den übrigen NATO-Mitgliedern, bietet die Analyse eine sehr hilfreiche und reichhaltige Einordnung des Kontextes, von dem gescheiterten Coup-Versuch in 2016 bis hin zu den Entwicklungen, die zum vielfach kritisierten Kauf des russischen S-400 Raketenabwehrsystems geführt haben.

 

Die Studie wurde bisher nur auf Englisch veröffentlicht, wird aber derzeit übersetzt und erscheint später auch auf Deutsch. Alle Sprachversionen, sowie zukünftig auch einzelne Kapitel und Grafiken der Studie können Sie über die folgende Website abrufen, sobald diese verfügbar sind:

https://www.fes.de/en/shaping-a-just-world/peace-and-security/the-future-of-nato

Three visions for NATO

Mapping national debates on the future of the atlantic alliance
Berlin, 2021

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Eva Ellereit
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