"Wir brauchen eine Gesellschaft, in der man ohne Angst verschieden sein kann"

Wir sprachen mit Serpil Midyatli über Maßnahmen zur Förderung von Vielfalt und Rassismusprävention in Deutschland.

Bild: Serpil Midyatli von Thomas Eisenkrätzer

Das Maßnahmenpaket, dass der Kabinettsausschuss zur Bekämpfung von Rassismus am 25.11. vorgelegt hat, ist ein wichtiger Meilenstein zur Föderung einer vielfältigen Gesellschaft und zur Bekämpfung von Rassismus. Wichtige Bestandteile fußen auf dem Pakt für das Zusammenleben in Deutschland, den die SPD Anfang September vorgestellt hat. Im Interview erläutert die stellvertretende SPD-Parteivorsitzende Serpil Midyatli Hintergründe.

FES: Vor einiger Zeit ist die SPD mit einem "Pakt für das Zusammenleben in Deutschland" an die Öffentlichkeit getreten. Was hat den Ausschlag für die Erarbeitung gegeben?

Serpil Midyatli: Ich mache mir große Sorgen um den Zusammenhalt in unserer Gesellschaft. Vielleicht wird in diesen Tagen die Spaltung in unserem Land auch nur offensichtlicher. Auf jeden Fall besteht die Gefahr, dass die Menschen immer weiter auseinanderdriften. Ich bin aber überzeugt, dass wir für ein gutes, sicheres und friedliches Zusammenleben das Gegenteil brauchen. Eine Gesellschaft, in der man ohne Angst verschieden sein kann. Das steht auf dem Spiel.

Mit dem „Pakt für das Zusammenleben in Deutschland“ wollen wir versuchen, hier gegenzusteuern. Es geht um Respekt, Teilhabe und Akzeptanz von Diversität. Es geht um demokratische Mitbestimmung, um das gemeinsame Gestalten der Demokratie und um Sicherheit für alle.

Gleichzeitig macht der Pakt deutlich, dass wir hierfür die Gemeinschaft der Vielen brauchen. „Demokratie braucht Demokraten“. Deshalb bieten wir den Schulterschluss an mit allen demokratischen Kräften. Schon seit den NSU-Morden war doch klar, dass wir etwas tun müssen. Der Anschlag von Hanau hat dann aber den Anstoß gegeben. Es geht darum die Gesellschaft zusammenzuhalten und nicht zuletzt auch um den Schutz der Menschen und unserer Demokratie vor gewaltbereiten Menschenfeinden.

Das ist aber nicht voraussetzungsfrei. Dass die Demokratie die beste aller Staatsformen ist, ist unsere unerschütterliche Überzeugung. Aber Oskar Negt hat uns gewarnt, dass sie die einzige Staatsform ist, die gelernt werden muss. Das muss dann aber auch zu einem noch stärkeren Eckpfeiler des Bildungssystems werden. Um den Schulen aber nicht immer die Dinge vor die Füße zu kippen, ist es zusätzlich unerlässlich, dass es ein Demokratiefördergesetz des Bundes gibt. Wir wollen damit die Wehrhaftigkeit unserer Demokratie fördern. Wie sehr wir die dauerhafte Förderung von Initiativen und Vereinen brauchen, die sich für Demokratie und gegen ihre Feinde einsetzen, zeigt sich doch rund um die Corona-Querdenker-Szene. Am 25.11.2020 wurde mit den Beschlüssen des Kabinettsausschusses gegen Rechtsextremismus ein Meilenstein erreicht. Die SPD hat geschafft, dass nach 20 Jahren Debatte der Bund die Kompetenz erhalten wird, Initiativen und Projekte dauerhaft zu fördern.

Ein weiterer Schwerpunkt des Paktes liegt auf der Sicherheit, und zwar im doppelten Sinn. Es geht zum einen um physische Sicherheit für Leib und Leben und den eigenen Besitz. Dafür braucht es eine bessere Zusammenarbeit der Sicherheitsbehörden und ein striktes Vorgehen gegen Verfassungsfeinde. Deshalb fordern wir u.a. Schwerpunktstaatsanwaltschaften zur Verfolgung von Rechtsextremismus und Hasskriminalität. Zum anderen geht es aber auch um soziale Sicherheit, wie gute und sichere Arbeit und bezahlbares Wohnen. Da wollen wir nicht, dass Bevölkerungsgruppen gegeneinander ausgespielt werden.

Die Themen Integration und Teilhabe sind zentral im Pakt verankert. Was verstehen Sie unter diesen Begriffen?

Stellt man auf die ganz ursprüngliche Bedeutung des etwas strapazierten Begriffs ab, dann geht es um Zusammenschluss, um Vereinigung, abgeleitet aus dem lateinischen Integration. Mir gefällt deshalb der Satz „In Vielfalt vereint“. Es geht für mich um das Meistern einer gemeinsamen Wegstrecke. Dabei sollten wir aufpassen, dass wir uns nicht mir-nichts-dir-nichts aufteilen lassen in Aufnahme- und Zuwanderungsgesellschaft. Bspw. ein türkischstämmiges Mädchen, deren Familie in der 3. Generation in Kiel wohnt zur Zuwanderungsgesellschaft zu zählen, ist absurd. Voraussetzung ist: Gleiche Rechte, gleiche Pflichten und gleiche sowie diskriminierungsfreie Zugänge zu den Institutionen. Klar ist aber auch, um die Teilhabe aller zu ermöglichen, braucht es je nach Voraussetzung verschiedene Stufen der Unterstützung. Übrigens finde ich, dass wir vor einer doppelten Integrationsaufgabe stehen: Wenn ich mir die Verschiedenheit und die Herausforderung 30 Jahre nach der deutschen Teilung anschaue, dann müssen wir aufpassen, dass auch jene, die bereits ihr gesamtes Leben in Deutschland verbracht haben und hier geboren sind, sich noch als willkommener und verstandener Teil des Ganzen begreifen.

Also um es klar zu sagen: Um die Gesellschaft zusammenzuhalten reicht es nicht aus, dass wir uns nur um die Neuen kümmern. Wir müssen das Leben aller Menschen spürbar besser machen. Unser Ziel ist das Land in Gänze voranzubringen. Natürlich müssen Migrant_innen oder Geflüchtete in unsere Gesellschaft und den Arbeitsmarkt integriert werden. Aber auch die Menschen, die schon hier leben, dürfen nicht vergessen werden. Wir können unsere Augen nicht davor verschließen, dass die Ungleichheit in Deutschland während der letzten Jahre zugenommen hat. Wir müssen und werden das ändern. Aber wir müssen es zusammen schaffen. Der Pakt für das Zusammenleben in Deutschland ist ein wichtiger Schritt der Politik hierfür Impulse zu geben.

Mit welchen Akteur_innen habt ihr den Pakt entwickelt und wie spiegelt er sich in den Ergebnissen des Kabinettsausschusses wider ?

Wer die Arbeit der SPD verfolgt, ob in den Parlamenten oder in den Parteigremien der unterschiedlichen Ebenen, der hat ja einzelne Forderungen aus dem Pakt schon mal gehört. Viele der hier nun konzentriert zusammengestellten Punkte sind zuvor gemeinsam mit Vertreter_innen aus ganz unterschiedlichen zivilgesellschaftlichen Bereichen entstanden. Ganz wichtig dabei ist die Arbeit der AG Migration und Vielfalt. Hier sind tolle Genossinnen und Genossen, die nicht locker lassen bei dem Thema. Sie sind gleichzeitig aber auch wichtige Verbindungsstellen etwa zu den Migrantenselbstorganisationen.

Mit den Vertreterinnen und Vertretern der MSO (Migrantenselbstorganisationen) habe ich mich im Vorfeld unseres Beschlusses getroffen. Offene Worte, klare Erwartungen und sehr konstruktive Vorschläge habe ich bekommen. Das hat nicht nur Auswirkungen auf den Beschluss des Parteivorstands gehabt:  Weil wir dieses Papier zur Grundlage für den Kabinettsausschuss gegen Rassismus und Rechtsextremismus gemacht haben, sind hier die Forderungen auch in unsere Regierungsarbeit eingegangen. Mit der Union können wir nicht alles umsetzen. Es hat sich aber wieder bewährt, gut (und vielleicht besser) vorbereitet zu sein: Mit dem neuen Rassismus-Beauftragten, der Streichung des Rasse-Begriffs aus dem Grundgesetz, den verstärkten Forschungsausgaben zu Rassismus, einem Demokratiefördergesetz, das auf Wunsch der Union „Wehrhafte-Demokratie-Fördergesetz“ heißen wird und der Stärkung der Sicherheitsbehörden im Kampf gegen Rechts gibt es wirksame Konsequenzen. Insgesamt werden in den Jahren 2021 bis 2024 mehr als 1 Milliarde Euro für die Bekämpfung des Rechtsextremismus und Rassismus in Deutschland eingesetzt.

Im Herbst 2021 steht die nächste Bundestagswahl an. Inwieweit ist der Pakt schon ein Vorgeschmack auf das zukünftige SPD-Programm?

Natürlich ist die Debatte wichtig für unser Wahlprogramm. Der Beschluss zirkuliert in den unterschiedlichen Arbeitsgruppen, die zurzeit am Programm basteln. Wir werden aber die ersten Schritte in dieser Legislaturperiode umsetzen können. Es zeigt sich doch, das sich zum einen unsere Beharrlichkeit auszahlt, zum anderen sehen wir auch einen Lerneffekt bei unseren Koalitionspartner_innen im Bund. Ich fürchte, den mutmaßlichen rechtsextremen Mord an Regierungspräsident Lübcke, hat man sich so nicht vorstellen können. Die Trauer und Bestürzung haben bei dem ein oder anderen die Augen geöffnet für Dinge, die wir letztendlich seit der Aufdeckung der NSU-Morde klar vor Gesicht gehalten bekommen haben.

Ich habe die Hoffnung, dass uns die Schrecken und die Bedrohungen als Demokrat_innen – bei aller Verschiedenheit – eng zusammenrücken lässt. Aber ich gehe auch davon aus, dass wir noch genug Forderungen haben werden, die nicht mit diesem Koalitionspartner umgesetzt werden können. Die Bürgerinnen und Bürger haben dann am 26. September die Wahl, wem sie ihr Vertrauen aussprechen.

 


Fokus Zeitenwende der Friedrich-Ebert-Stiftung: Eine neue Ära

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