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Viele der aktuell aus der Ukraine fliehenden Menschen kommen privat unter. Was bedeutet das für ihren Integrationsprozess, fragen wir zwei Filmschaffende, die es wissen müssen.
Ronja von Wurmb-Seibel und Niklas von Wurmb-Seibel (vorher Schenck) haben 2013/14 in Kabul gelebt und dort als Journalist_in und Filmemacher_in gearbeitet. Seit der Machtübernahme der Taliban in Kabul im August 2021 haben sie zusammen mit anderen Engagierten die Ausreise von ca. 100 Personen aus Afghanistan organisiert und sie in Gastfamilien in Deutschland untergebracht. Wir haben mit ihnen über das Ankommen in Deutschland gesprochen und darüber, was für einen großen Unterschied zivilgesellschaftliche Aufnahmebereitschaft und Unterstützung hier darstellen kann.
FES: Aktuell erleben wir in Deutschland ein immenses Maß an Hilfs- und Aufnahmebereitschaft für die aus der Ukraine geflüchteten Menschen. Vor dem Hintergrund Eurer Erfahrungen: was sind die wichtigsten Ansatzpunkte dafür, dem enormen Bedarf an Unterstützung jetzt möglichst kurzfristig zu begegnen? Welche langfristigen Perspektiven seht ihr darüber hinaus?
Von Wurmb-Seibel: Die Art, wie Menschen aus der Ukraine hier aufgenommen und unterstützt werden, auch in welcher Zahl und mit welchem finanziellen und personellen Aufwand für den Staat, zeigt uns, dass es für ein Land wie Deutschland ein Leichtes wäre, auch andere Flüchtende – Iraker_innen und Afghan_innen von der belarussischen Grenze oder Geflüchtete aus den griechischen Lagern – aufzunehmen. Ich hoffe, ich klinge jetzt nicht wie ein Sprechautomat, der bei egal welchem Thema und Konflikt immer wieder magnetisch zurückschwenkt zum Thema Afghanistan. Trotzdem: Wofür wir uns gerade einsetzen, ist, dass Menschen aus Afghanistan jetzt nicht vom Radar verschwinden. Es hängen immer noch Zehntausende dort fest, Künstler_innen, Journalist_innen, Aktivist_innen und frühere Ortskräfte deutscher Organisationen. Wir brauchen immer noch das im Koalitionsvertrag vereinbarte Bundesaufnahmeprogramm – es muss großzügig sein und schnell.
Was mich aber in dem Zusammenhang wirklich ermutigt: Seit der Krieg in der Ukraine begann, setzen sich offenbar wieder mehr Menschen überhaupt mit Flucht auseinander und damit, was sie selbst beitragen können. Als wir jetzt eine Gastfamilie für ein afghanisches Paar suchten, wurde der Aufruf in den sozialen Medien nicht wie zuvor dutzende Male geteilt, sondern tausende Male. Die Menschen, die helfen wollen, unterscheiden nämlich viel weniger zwischen Geflüchteten 1. und 2. Klasse als es manche politischen Akteur_innen tun.
Dass mehr Leute helfen wollen, je mehr Flüchtende kommen, erscheint nur auf den ersten Blick paradox, und wir haben das immer wieder erlebt: Da, wo Menschen nach ihrer Flucht schnell in guten Kontakt kommen mit Menschen, die schon länger hier leben, führt eine Aufnahme fast immer zu mehr Aufnahmebereitschaft, nicht zu weniger. Diese Menschen erleben, wie wirkungsvoll sie helfen können, aber auch wie bereichernd, wie belebend der Kontakt zu den Neuankommenden ist. Wir hören immer wieder, dass es ein wahnsinnig anstrengendes Abenteuer ist, Gastfamilie zu sein, es gleicht einem wilden Ritt – und dass es zugleich eine Erfahrung ist, die beflügelt, motiviert, Freude bringt und das Leben reicher macht.
Die Afghan_innen, für die ihr in Deutschland Gastfamilien finden konntet, erleben ein sehr anderes Ankommen in Deutschland als die, die in Sammelunterkünften und ohne direkte soziale Anbindung hier ankommen. Viele der geflüchteten Ukrainer_innen haben das Glück einer sozialen Anbindung über Familie, Freunde, Bekannte oder auch hilfsbereite Dritte. Was kann das für den weiteren Integrationsprozess bedeuten?
Das wichtigste ist erstmal: Niemand von den Afghan_innen aus unserem Programm musste auch nur einen einzigen Tag in einer Sammelunterkunft verbringen. Alle, die solche Lager schon mal von innen gesehen haben, wissen, wie viel das bedeutet. Diese Camps sind Orte, die isolieren, die Kraft zehren und Hoffnung rauben. Orte, die von Anfang an sortieren, trennen, abspalten und verhindern, dass Menschen in einer Stadt auf natürlichem Weg zueinander finden.
Theoretisch sollen fast alle, die seit der Machtübernahme der Taliban im August hierherkamen, ohne Asylverfahren einen humanitären Aufenthaltstitel bekommen. Damit könnten sie ab Tag eins arbeiten, bekämen Unterstützung für Miete und Lebenshaltungskosten, dürften einen intensiven Deutschkurs besuchen und ihre Kinder in die Schule schicken. Das ist rechtlich vergleichbar mit der Situation der nun aus der Ukraine Geflüchteten. In der Praxis läuft es aber so, dass viele der neu Angekommenen Afghan_innen auch Monate später noch in einer Sammelunterkunft “geparkt” und bei den Behörden keinen Schritt weiter sind. Visa laufen ab, ohne dass sie einen Aufenthaltstitel in Händen halten und Leute haben Angst, dass ihr neuer Status doch nicht von Dauer sein könnte. All das verunsichert und frustriert – und das ist in unseren Augen verschenktes Potenzial.
Die Familien, die in Gastfamilien unterkamen, konnten meist nach wenigen Tagen ihren Aufenthaltstitel beantragen und bekamen finanzielle Unterstützung über die Jobcenter bewilligt. Sie konnten schnell mit den Deutschkursen beginnen, die meisten Kinder konnten innerhalb weniger Tage eine Schule besuchen – und zwar dank der Vermittlungsarbeit durch die Gastfamilien bisher immer in Regelklassen, nicht in segregierten Sonderklassen. Für geflüchtete Menschen ohne soziale Anbindung über eine Gastfamilie fühlt es sich meist so an: Egal, wie viel Aufwand ich betreibe und wie viel Kraft ich aufbringe, nichts geht voran, eher wird mir noch signalisiert, dass ich nichts bin, nichts zu melden habe, nichts zu fordern, nichts zu träumen. Aber am wichtigsten: In den Gastfamilien sind alle in Kontakt mit Menschen, die hier aufgewachsen sind oder lange hier leben. Sie lernen erste Brocken Deutsch, sie erleben den Alltag einer Familie aus nächster Nähe und sie haben schnell ein privates Netzwerk. Das kann in den ersten Monaten Gold wert sein, nicht nur, wenn es gilt, Jobs zu finden oder die erste eigene Mietwohnung. Und während der lange Aufenthalt im Camp nicht selten traumatische Wirkung hat, können diejenigen, die in Gastfamilien leben, meist nach kurzer Eingewöhnung beginnen, die letzten Monate irgendwie zu verarbeiten – alleine, mit ihren Gastgeber_innen, manche aber auch mit Therapeut_innen. Alle, die jetzt hierher kommen, mussten enge Freund_innen und Familie in Afghanistan zurücklassen oder haben Angehörige verloren. Nicht selten braucht es Zeit und Unterstützung durch Dritte, um das zu verarbeiten. Das dürfte auch für viele Menschen aus der Ukraine zutreffen.
Euer Programm ist komplett privat organisiert und basiert auf großem ehrenamtlichem Engagement. Wie hat das funktioniert, so viele unterschiedliche Gastfamilien für die Teilnahme an dem Programm zu begeistern? Hatten alle – so wie Ihr – schon vorher einen starken Bezug oder persönliche Kontakte nach Afghanistan? Wie ist Eure Gruppe zusammengekommen?
Ich habe den Eindruck, dass viele Menschen geradezu dankbar sind, endlich handeln zu können. Etliche, die unfassbar großzügig waren, haben sich bei uns für die Gelegenheit bedankt. Ich glaube, sehr viele Leute in Deutschland tragen immer noch die entsetzlichen Bilder vom Flughafen in Kabul im Herzen und ihr Drang, etwas zur Linderung beizutragen, ist bisher einfach ins Leere gelaufen. Viele Gastfamilien kommen aus dem Kreis der Leute, die irgendwann in den letzten Jahren Vorführungen unserer Dokumentarfilme „Wir sind jetzt hier” und „True Warriors“ mit uns organisiert haben. Wir haben das Glück, dadurch sehr viele engagierte Menschen zu kennen und über einen Newsletter zu erreichen. Sie wissen oft ganz genau, wer in ihrer Kommune noch helfen könnte, wer jemanden kennen könnte, der oder die jemanden kennt und so hatten wir fast immer nach wenigen Stunden ein Angebot. In manchen Fällen reichte ein Aufruf per Twitter oder Instagram, manchmal haben wir ein Porträt in der Lokalzeitung angeregt. Einmal half auch der Förderverein eines Theaters, wo True Warriors gezeigt worden war, weil wir für eine Protagonistin aus diesem Film eine Gastfamilie suchten.
Die Gastfamilien öffnen ihre Herzen und ihre Türen und bieten ein Zuhause auf Zeit. Aber wir bekommen auch ganz viel andere Unterstützung: In jeder Stadt fanden sich mehrere Freiwillige, die u.a. bei Behördenterminen halfen, beim Eröffnen eines Bankkontos, beim Erkunden der Stadt und überhaupt beim Fußfassen. Sie treffen sich zum Kochen, machen Ausflüge ans Meer oder verabreden ihre Kinder mit den Kindern der neu Angekommenen. Ein Paar in Düsseldorf hilft uns seit Monaten, aus der Ferne tausende Seiten Behördenanträge auszufüllen, Termine zu vereinbaren oder Wohnungsportale nach passenden Anzeigen zu durchforsten. Unfassbar viel Zeitaufwand – und das bisher ohne, dass sie eine der Familien persönlich getroffen hätten.Andere spenden SIM-Karten, warme Kleidung oder auch Geld etc.. Die Unterstützung ist riesig.
Wie stehen die Behörden, Ausländerämter, Jobcenter und Schulen Eurer Initiative gegenüber?
Anfangs wollten wir vor allem den ankommenden Familien den Aufenthalt in Sammelunterkünften ersparen. Sie sollten hier mit einem starken privaten Netzwerk beginnen, schnell ihren Papierkram hinter sich lassen, durchstarten. Dann merkten wir, dass auch die Behörden sehr angetan sind von dem Modell – von der privaten Abholung am Flughafen und der initialen Unterbringung bis zu den vorab ausgefüllten Anträgen bei Jobcenter und Ausländerbehörde. Ziemlich sicher spart das Verfahren Geld, beschleunigt die Abläufe und erhöht den Integrationserfolg, wenn man es mal auf Behördendeutsch formulieren will.
Es war schön zu spüren, dass man unser Vorgehen auch im Auswärtigen Amt unterstützt, im Innenministerium und im Bundesamt für Migration und Flüchtlinge. Mit unserem vorigen Film hatten wir jahrelang darauf hingearbeitet, ihn irgendwann im Bundes-Innenministerium zu zeigen und zu diskutieren – und sind gescheitert. Jetzt aber hat das geklappt: Wir haben unser Gastfamilienprogramm kürzlich im BMI vorgestellt, in einer Videokonferenz mit den Innenbehörden der Bundesländer. Unsere Kernaussage war: So ein Programm muss in der Zivilgesellschaft entstehen – aber Behörden können Impulse dazu geben, die Möglichkeit bei Veranstaltungen ins Spiel bringen und denen, die so etwas aufbauen wollen, deutlich signalisieren: Wir befürworten das, und wir werden euch keine Steine in den Weg legen. Jemand aus dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge sprach uns danach an und sagte: „Hey, falls jemand so ein Programm in der eigenen Kommune aufbauen will, es gibt hier einen Fördertopf, bei dem man dafür Mittel beantragen könnte.” Sowas hatten wir vorher noch nicht erlebt und das macht Mut, in diese Richtung weiterzugehen.
Vielen Dank für dieses Interview!
Ronja von Wurmb-Seibel war als politische Redakteurin bei der ZEIT, ging dann als freie Autorin nach Kabul und hat zuletzt im März 2022 den Bestseller "Wie wir die Welt sehen" veröffentlicht. Darin beschreibt sie ihre Wandlung hin zu konstruktivem Erzählen, zu einem Journalismus, der Menschen nicht ohnmächtig zurücklassen soll, sondern aktiviert – und wie wir alle dies auf die Geschichten übertragen können, die wir uns selbst und einander erzählen.
Niklas von Wurmb-Seibel (ehem. Schenck) hat sich jahrelang auf investigative Recherche spezialisiert und vollzog mit den beiden Filmprojekten "True Warriors" (2017) und "Wir sind jetzt hier" (2020) ebenfalls eine Wende zum konstruktiven Erzählen.
Beide gemeinsam haben sich spezialisiert auf Projekte, die sich für intensive Publikumsgespräche eignen und als Rampen für wichtige gesellschaftliche Diskurse dienen. Beide sind erreichbar über schenck.niklas(at)gmail.com – darüber können Sie sich auch für den Newsletter der beiden anmelden.
Ansprechpartnerin in der FES: Susan Javad
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