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Beitrag der Reihe "Wirtschaft weiter denken aus junger Perspektive" von Sören Hellmonds, Rosanna Düring und Paul Roßmüller
Offene, demokratische Gesellschaften geraten im Systemwettbewerb zunehmend unter Druck. Der gesellschaftliche Zusammenhalt bröckelt, die Wehrhaftigkeit ist geschwächt. Eine Ursache hierfür liegt im Ideal einer Leistungsgesellschaft, die Menschen in ständigen Wettbewerb zwingt und weiten Teilen der Bevölkerung soziale Wertschätzung verweigert. Ein Umdeutungsversuch von Arbeit, Leistung und Bildung.
Corona, Klimakrise, Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine. Jetzt entscheidet sich, welches Gesellschaftsmodell wirklich zukunftsfähig ist. Das Ende der Geschichte, wie es Fukuyama noch vor 20 Jahren zugunsten liberaler Demokratien ausrief, hat sich inzwischen in sein Gegenteil verkehrt. Machen wir uns nichts vor, demokratische Gesellschaften befinden sich längst in der Defensive. Nie gab es in den vergangenen 15 Jahren weniger Demokratien als heute. Das autoritär regierte China ist auf der Zielgeraden, um der neue Hegemon zu werden.
Schnell ist man sich einig: Es kommt nun darauf an, dass unsere Demokratie ihre Widerstandsfähigkeit unter Beweis stellt. Alles richtig – doch verlieren wir durch den Blick nach außen schnell die Voraussetzungen für die Wehrhaftigkeit unserer Demokratien, die im Innen liegen, aus den Augen: Denn Demokratien sind nur dann in der Lage, Antworten auf die Herausforderungen ihrer Zeit zu finden, wenn ihr innerer Zusammenhalt stark ist und gesellschaftspolitische Projekte zur Adressierung der Krisen mehrheitsfähig sind. Doch dieser Zusammenhalt bröckelt, und zwar schon lange. Populismus grassiert in Europa und den Vereinigten Staaten; große Teile unserer Gesellschaft bestreiten wissenschaftliche Erkenntnisse und denken lieber quer; Trump steht in den Startlöchern für 2024 – nur um einige der neuen Normalitäten zu nennen.
Wir müssen uns fragen, was schiefgelaufen ist – ja, wo die Spaltung unserer Gesellschaft wirklich herkommt. Woher kommt es, dass sich Teile der Bevölkerung nicht mehr der Gesellschaft zugehörig fühlen? Schnell wird mangelnde Chancengleichheit als Ursache, mehr Chancengleichheit als Lösung für mangelnden Zusammenhalt ausgemacht. Wenn jeder eine echte Chance auf gesellschaftlichen Aufstieg hätte, könnte man die Spaltung überwinden, oder? Doch das greift zu kurz.
Denn auch wenn es uns gelingen würde, Chancengleichheit herzustellen: Kann eine Gesellschaft einen starken Zusammenhalt haben, die Güter, Anerkennung und Teilhabe nach dem Leitbild eines Wettkampfes verteilt? Wir sprechen über Chancen als „Startbedingungen“, ohne zu begreifen, welches Bild dabei mitschwingt: das eines Wettrennens. Und zum Wettrennen gehören eben neben Gewinner_innen auch Verlierer_innen. Übertragen wir die Verantwortung für die Leistung den Menschen selbst, bildet sich eine Kluft zwischen den beiden Gruppen. Das befördert die Spaltungsprozesse. So lautet die Analyse des Philosophen Michael Sandel, die er in seinem Buch Vom Ende des Gemeinwohls vorstellt.
Chancengleichheit kann nicht die Wunden schließen, welche die Leistungsgesellschaft, wie wir sie kennen, aufreißt. Anstatt die Debatte darauf zu beschränken, wie die Chancen für das Wettrennen in der Leistungsgesellschaft gleich verteilt werden können, sollten wir grundsätzlicher danach fragen, was wir mit Leistung eigentlich meinen. Gegenwärtig wird die Antwort durch Nichtbeantwortung gegeben: Was Leistung ist, entscheidet der Markt. Das angeblich rationale Zusammenspiel von Nachfrage und Angebot definiert den Preis, und was hohe Preise erzielt, ist viel wert. Damit landen wir bei ebenjenem Leistungsbegriff, der dem Banker attestiert, mehr zu leisten als die Pflegerin. Doch Wertschöpfung ist nicht gleich Leistung. Wir sollten nicht den Fehler begehen, die Leistung eines Menschen für die Gesellschaft mit dem Leistungsbegriff im Wettkampf zu verwechseln.
Nicht bloß das Fehlen gleicher Startbedingungen ist also Ursache von Spaltung, sondern auch die zugrunde liegende Annahme, Gesellschaft sei als Konkurrenzkampf zu denken. Denn gerade dann, wenn wir dem Ideal von Chancengleichheit näher kommen, kann die Verantwortung dafür, sich im Wettbewerb nicht durchzusetzen, privatisiert werden. Sandel zeigt uns eindrücklich: Solange eine marktbasierte Verteilungsordnung zwangsweise Verlierer_innen produziert, stehen diese immer den Gewinner_innen gegenüber, die leicht versucht sind, die eigene Leistung als nur ihr Verdienst anzusehen – und diejenigen, die ganz unten sind, mit einem „Selbst schuld“ abzuspeisen. Was hier verloren zu gehen droht, ist der notwendige Zusammenhalt, der sich auch daraus ergibt, dass sich alle Menschen als Teil einer gemeinsamen Sache verstehen. Einer gemeinsamen Sache, für die jede_r einen Beitrag leisten kann. Es gilt, die heutige toxische Definition von Leistung zu überwinden, die großen Teilen der Bevölkerung die angemessene Wertschätzung ihrer Arbeit verweigert. Es gilt, die Konkurrenzverhältnisse aufzulösen, in denen sich die Menschen im sozialen Wettbewerb befinden.
Doch wie könnte eine solche Post-Wettbewerbsgesellschaft aussehen? Im Folgenden entwickeln wir einige Thesen zu Arbeit, Leistung und Bildung.
These 1: Der Markt sollte nicht der Allokationsmechanismus gesellschaftlicher Anerkennung sein.
In einer Gesellschaft, in der der Mensch im Mittelpunkt steht, kann es nicht allein die Aufgabe des Marktes sein, den Wert von Arbeit zu bestimmen. Es mag sein, dass der Markt in bestimmten Bereichen seine Berechtigung als effizienter Verteilungsmechanismus hat. Dies gilt jedoch nicht für die Verteilung gesellschaftlicher Anerkennung und materieller Wertschätzung durch Arbeit. Es ist offensichtlich problematisch, dass viele systemrelevante Berufe nicht anständig bezahlt werden. Die Art, wie der Markt im Kapitalismus Leistung definiert und entlohnt, ist zutiefst ungerecht – und zerreißt unsere Gesellschaften. Deshalb darf es nicht den „freien Kräften des Wettbewerbs“ überlassen werden, unter welchen Bedingungen wir arbeiten, welche soziale Anerkennung Berufen zuteilwird. Die Profitlogik, die unser Wirtschaftssystem bestimmt, führt zur Abwertung ganzer Berufsgruppen, ungeachtet ihrer tatsächlichen Relevanz für die Gesellschaft. Den Menschen in diesen Jobs (Busfahrer_innen, Reinigungskräfte, Pflegekräfte – you name it), die zu den Verlierer_innen des gesellschaftlichen Wettrennens um materielle und kulturelle Wertschätzung gehören, werden mit dem Hinweis abgespeist, Besserverdienende würden ja einfach mehr leisten. Auf einem kapitalistisch organisierten Arbeitsmarkt ist Leistung das, was den Unternehmen Profit bringt, und nicht das, was wichtig für die Gesellschaft ist. Ein solcher Markt bringt die eingangs skizzierten Ergebnisse hervor – mit fatalen Folgen für den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Es ist Zeit, dieses zutiefst dysfunktionale System zu reformieren.
These 2: Die gesellschaftliche Relevanz sollte der Indikator für einen Wandel des Arbeitsmarktes sein.
Für ein gerechteres System ist eine Arbeitsmarkttransformation nötig. Vor allem gesellschaftlich relevante Berufe brauchen einen neuen Stellenwert innerhalb der Gemeinschaft. Gute Arbeit sollte sich dabei nicht mehr allein am wirtschaftlichen Erfolg eines Unternehmens messen. Der Indikator für Leistung muss aus der Relevanz der Arbeit für die Gemeinschaft hervorgehen. Nicht mehr die kapitalistische Marktlogik darf über die Wertschätzung, die einem Beruf zuteilwird, entscheiden, sondern dies wird in einem gesellschaftlichen Aushandlungsprozess festgelegt. Leistung sollte sein, was der Gesellschaft Nutzen bringt. So werden Armut und sozialer Abstieg weniger bedrohlich, da es nicht mehr möglich ist, im Profitinteresse eines Unternehmens Niedriglöhne für systemrelevante Arbeit zu zahlen.
Aktuell teilt sich unsere Gesellschaft in Gewinner_innen und Verlierer_innen. Es ist jedoch unabdinglich, die Würde aller Menschen umfänglich zu gewährleisten – nicht nur, wenn man zu den vermeintlichen Gewinner_innen gehört. Daher sollten wir darauf hinarbeiten, nicht den Markt als Vermittler gesellschaftlicher Anerkennung zu sehen, sondern den sozialen Beitrag, der aus der Arbeit der Individuen hervorgeht. Dadurch bewegen wir uns weg von der Vorstellung eines Wettbewerbs und hin zu einem Miteinander, von dem alle profitieren. Letztendlich führt dies dazu, dass es keine Gewinner_innen und Verlierer_innen mehr gibt. Die berufliche Hierarchie wird neu geordnet, ja ein Stück weit sogar aufgelöst. Arbeit, die keinen hohen Bildungsabschluss voraussetzt, die aber gesellschaftlich hochrelevant ist, wird deutlich besser materiell und kulturell wertgeschätzt werden. Dies kann etwa durch kürzere Arbeitszeiten bei höherem Lohn, mehr Urlaub, frühere Verrentung etc. geschehen. Ganz konkret bedeutet dies, dass die Gehalts- und Prestigeunterschiede beispielsweise zwischen einer Krankenpflegerin und einer Aktienhändlerin sich deutlich verringern werden.
Die Voraussetzungen dieser neuen Wertschätzung müssen aber kulturell verankert werden. Zwar kann sich der Staat anhand eines Arbeitsmarktwandels, durch neue Rahmenbedingungen daran beteiligen, jedoch muss das kulturelle Umdenken in den Köpfen der Menschen passieren.
Um auch die kulturelle Aufwertung von Berufen gesellschaftlich zu ermöglichen, ist eine Transformation des Bildungssystems essenziell. Schon früh wird hier der Grundstein gelegt für die soziale Hierarchie von Berufszweigen anhand ihrer Bildungsvoraussetzungen. Wer viel Geld verdienen will, muss studieren – dieses Prinzip ist fester Bestandteil der Leistungsgesellschaft. Viele systemrelevante Berufe erfordern jedoch kein Studium. Wenn diese Berufe nach unseren Vorstellungen aufgewertet werden, stellt dies den Status akademischer Bildung als Schlüssel zu sozialer Anerkennung und gesellschaftlichem Wohlstand infrage. Es stellt sich also die Frage, wie das Bildungssystem in einer Gesellschaft aussieht, die Leistung nicht mehr anhand von Profit- und Marktlogiken definiert.
Oder mit anderen Worten: Welche Rolle spielt Bildung, wenn das Bildungssystem nicht mehr der Ort ist, an dem wir uns für den Wettkampf in der Leistungsgesellschaft rüsten?
These 1: Die Schule selbst muss vom Leistungsprinzip abrücken.
Das Abrücken vom aktuellen Leistungsprinzip in der Arbeitswelt muss durch ein Abrücken vom Leistungsprinzip in der Schule begleitet werden. Die kulturelle Aufwertung von Berufen mit niedrigen formalen Bildungsvoraussetzungen wird konterkariert, wenn Schulbildung weiterhin als ein Wettkampf um die besten Noten konzipiert wird. Die Schule ist einer der zentralen Sozialisationsorte. Ein kultureller Wandel, weg von der einseitigen Glorifizierung bestimmter akademischer Berufe, muss hier bereits vorgelebt und verinnerlicht werden. Dies ermöglicht es auch, die Aufgabe von Bildung neu zu definieren.
These 2: Die Schule wird wieder zum Ort demokratischer Bildung.
In der aktuellen Leistungsgesellschaft dient die Schule vor allem der Berufsvorbereitung und Selektion nach Leistung. Jungen Menschen wird mit ihrem Abschluss eine soziale Position zugewiesen, an die gewisse Entfaltungsmöglichkeiten geknüpft sind. Allerdings hat dies wenig mit ihrem eigentlichen Zweck zu tun. Ein Blick in das Schulgesetz Berlins ist aufschlussreich:
Ziel [der Schulbildung] muss die Heranbildung von Persönlichkeiten sein, welche fähig sind, der Ideologie des Nationalsozialismus […] entgegenzutreten sowie das staatliche und gesellschaftliche Leben auf der Grundlage der Demokratie, des Friedens, der Freiheit, der Menschenwürde, der Gleichstellung der Geschlechter und im Einklang mit Natur und Umwelt zu gestalten.
Wenn es keinen impliziten Zwang zum Aufstieg durch Bildung gibt, wenn der Schulabschluss nicht mehr über Anerkennung und Wohlstand bestimmt, kann Schulbildung neu kalibriert werden. Es kann eine Rückbesinnung auf Erziehung im Sinne von Demokratie, Freiheit und Menschenwürde stattfinden. Fähigkeiten, die vermittelt werden, sind nicht mehr primär auf die Arbeitswelt ausgerichtet, sondern dienen der Entwicklung mündiger, aktiver Mitglieder der demokratischen Gesellschaft.
These 3: Akademische Bildung wird weiterhin existieren – aber anders.
Wenn Bildung vor allem der demokratischen Erziehung dient, wird akademische Bildung dann irrelevant? Die einfache Antwort lautet: Nein. Auch in einer Arbeitswelt, in der Berufe, die kein Studium erfordern, gut bezahlt und gesellschaftlich anerkannt sind, wird es Universitäten geben. Es wird Studienprogramme geben. Und es wird Menschen geben, die akademische Ausbildung anstreben. Allerdings werden sie das nur noch tun, weil sie ein genuines Interesse an ihrem Studienfach haben, nicht weil sie es müssen, um ein angenehmes Leben führen zu können. Es wird immer Berufe geben, deren Ausübung ein Studium voraussetzt – etwa Ingenieur_innen, Lehrer_innen, Professor_innen. Wenn allerdings der Druck entfällt, eine akademische Laufbahn einzuschlagen, werden sich nur diejenigen dafür entscheiden, die Freude am Studium haben, deren Talent es ist, sich auf diese Weise zu bilden. Das Studium wird nicht mehr „besser“ sein oder mehr Chancen ermöglichen, sondern es wird schlicht eine andere Form der Ausbildung sein.
Am Ende des von uns skizzierten Transformationsprozesses steht eine Gesellschaft, die Leistung anders definiert, als dies momentan geschieht. Eine Gesellschaft, die den Wert von Arbeit und Bildung anhand ihrer Systemrelevanz bemisst. Eine Gesellschaft, in der Bildung mehr ist als der Zuteilungsmechanismus für Teilhabechancen. In dieser Post-Wettbewerbsgesellschaft wird allen Anerkennung und Wertschätzung zuteil, kulturell und materiell. So wird die Grundvoraussetzung für den sozialen Zusammenhalt wiederhergestellt. Das Gefühl, mit der eigenen Arbeit einen wichtigen Beitrag zum großen Ganzen zu leisten. Es ist exakt dieser soziale Kitt, der in der Leistungsgesellschaft abhandenkommt, der aber elementar wichtig ist, wenn Demokratien widerstandsfähiger werden sollen.
Michael J. Sandel (2020): Vom Ende des Gemeinwohls. Wie die Leistungsgesellschaft unsere Demokratien zerreißt. Frankfurt: S.Fischer Verlag, https://www.fischerverlage.de/buch/michael-j-sandel-vom-ende-des-gemeinwohls-9783103900002
SchulG Berlin - § 1 Auftrag der Schule, Online verfügbar unter: https://www.schulgesetz-berlin.de/berlin/schulgesetz/teil-i-auftrag-der-schule-und-recht-auf-bildung-und-erziehung-anwendungsbereich/sect-1-auftrag-der-schule.php
Sören Hellmonds
Sören Hellmonds (Jahrgang 1995) studiert Political Science an der Universität Kopenhagen und ist Stipendiat der FES. Er ist Hochschulgruppensprecher der stipendiatischen Hoschschulgruppe Skandinavien und Vorstandsmitglied und Pressebeauftragter der JUSOS Witten.
Rosanna Düring
Rosanna Düring (Jahrgang 2001) studiert Sozialwissenschaften und Philosophie im Bachelor an der Bergischen Universität Wuppertal und ist Stipendiatin der FES. Sie ist stellvertretende Vorsitzende der JUSOS Remscheid.
Paul Roßmüller
Paul Michael Roßmüller (Jahrgang 1999) studiert Philosophie, Politik und Ökonomik im Bachelor an der Universität Witten/Herdecke und ist Stipendiat der FES. Er ist Vorstandsmitglied von oikos Witten/Herdecke.
Wirtschaft weiter denken aus junger Perspektive
Dieser Beitrag ist Teil der Blogreihe "Wirtschaft weiter denken aus junger Perspektive", die im Anschluss an den Tag der Progressiven Wirtschaftspolitik 2022 entstanden ist. Die im Beitrag zum Ausdruck gebrachten Ansichten sind nicht notwendigerweise die der Friedrich-Ebert-Stiftung.Ansprechpartnerin in der FES: Iva Figenwald
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