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Denk ich an Ungarn …

Das Stichwort „Illiberale Demokratie“ wandert wie ein Geist durch Europa. Neben der polnischen Regierung, scheint vor allem der ungarische Ministerpräsident Orbán stetig an seiner Vision einer illiberalen Demokratie zu arbeiten.

Bild: „FUJI1009“ von Ádám Szedlák lizenziert unter CC BY 2.0

„Gedanken zu Osteuropa“ ist der Titel einer Veranstaltungsreihe der Friedrich-Ebert-Stiftung, die sie zusammen mit der Brandenburgischen Vertretung beim Bund in loser Folge ausrichtet. Aus Anlass des Kirchentags in Berlin sprach Ende Mai die 88-jährige, hellwache Philosophin Agnes Heller. Ihre Gedanken zu ihrem Heimatland Ungarn enthielten wenig Erbauliches.

Heller wurde 1929 in Budapest geboren, verlor ihren Vater und weitere Familienmitglieder im Holocaust, wurde Marxistin und aus der Kommunistischen Partei ausgeschlossen, war Assistentin des berühmten Literaturwissenschaftlers Georg Lukács, erhielt zeitweise Berufsverbot, wanderte nach Australien aus und pendelt heute zwischen New York und Budapest. Ihrem Kindheitswunsch entsprechend wurde sie so, gezwungenermaßen und trotzdem frei, zu einer „Weltreisenden“. Viel musste sie ertragen und viel hat sie gesehen. Ernüchternd fällt ihre Einschätzung der gegenwärtigen politischen Situation in Ungarn aus.

„Freigewählte Diktatur“?

Nein, in Ungarn herrsche nicht der Faschismus, das Land sei keine Tyrannei und Orbán kein Antisemit (auch wenn er sich des Antisemitismus zu bedienen wisse). Nein, eigentlich sei es fast noch schlimmer: Orbán wurde rechtmäßig und mit großer Mehrheit gewählt und konnte bis 2015 sogar mit einer Zweidrittelmehrheit regieren. Eindringlich mahnte Heller vor der falschen Vorstellung, dass eine Diktatur mit roher Gewalt durchsetzt werden müsse. Nationalistische Ideologie, das Fehlen einer echten Opposition und der mangelnde Medienpluralismus reichen für Orbáns illiberale Demokratie, oder wie Heller sagte: eine „freigewählte Diktatur“. Harsch fällt das Urteil über ihre Landsleute aus. Orbán, so sagt sie gleich zu Beginn ihres Vortrags, sei der Preis für die geschenkte Freiheit. Bitter schickt sie hinterher, dass es aber nichts umsonst gebe – am aller wenigsten wohl die Freiheit.

Etwas distanzierter und weniger desillusioniert fiel der Kommentar von Kai-Olaf Lang von der Stiftung Wissenschaft und Politik aus. Für ihn war die Wiederwahl Viktor Orbáns 2010 kein Votum für eine „kulturelle Konterrevolution“. Eher ging es damals um „Niedergang, Krise und (Selbst-) Diskreditierung“. Ungarn „hing wirtschaftlich in den Seilen“ und Orbán trat an mit einem Programm, dass sich dezidiert gegen das Transformationsparadigma wandte – und damit auch gegen Brüssel.

Europa jenseits der neoliberalen Transformation

Nicht zuletzt hier liegt ein wunder Punkt sowohl der EU als auch der Sozialdemokratie, die diese Politik, auch in Ungarn, lange getragen haben. Denn die „Transformation“ in den Staaten nicht nur Mittel- und Osteuropas beruht auf einer strikten Politik der offenen Märkte – und oft nicht viel mehr, Lang erwähnte hier einen „technokratischen Nihilismus“. Es liegt auf der Hand, dass dies neben sozialen Verwerfungen auch kulturelle Abwehrkämpfe hervorruft, wie man in ganz Europa, ja weltweit beobachten kann. Man kann Orbáns Ungarn daher durchaus als Beispiel für eine rechtspopulistische Antwort auf einen ethisch entkernten Neoliberalismus verstehen.

Agnes Heller wusste auf die Frage eines jungen Deutsch-Ungarn, was man Fidesz und Jobbik entgegensetzen könne, nicht viel zu sagen. Zu schwach sei die Demokratie. Man kann diese Skepsis der Holocaust-Überlebenden verstehen. Doch dem von ihr zitierten „Achtung Europa“ Thomas Manns möchte man auch sein „Vom kommenden Sieg der Demokratie" entgegenhalten. Auch Deutschland konnte sich nicht auf eine lange demokratische Tradition stützen, heute sind die grundgesetzlichen Institutionen jedoch stabil. Die Aufgabe besteht mehr denn je darin, eine transnationale Antwort zu finden. Die Freiheitsrechte sind überall in Gefahr – nicht nur in Ungarn. Agnes Hellers Worte – und ihr Lebensweg – seien uns Mahnung.

Ansprechpartnerin in der Stiftung:

Henrike Allendorf


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