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Die Welt scheint aus den Fugen geraten, die Geopolitik ein unverhofftes Revival zu erleben. Und Europa? Antwortet mit Renationalisierung – in der Hoffnung auf überschaubarere Herausforderungen im Außen und eine stärkere Konzentration nach innen. Doch die Zeiten der Trennbarkeit von Innen- und Außenpolitik sind lange vorbei – Europa muss sich besser vernetzen statt stärker begrenzen.
Bild: Bild: Abhörstation Teufelsberg Urheber: Axel Kuhlmann Lizenz: CC BY 2.0
"Nie zuvor ist Europa so wohlhabend, so sicher und so frei gewesen. Die Gewalt der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist einer in der europäischen Geschichte beispiellosen Periode des Friedens und der Stabilität gewichen“.
So steht es in der Einleitung der Europäischen Sicherheitsstrategie. Sie entstand Ende 2003 unter der Leitung von Javier Solana in seiner Amtszeit als Hoher Vertreter der Europäischen Union für Außen- und Sicherheitspolitik.
Die Europäische Union ist, das gerät bei all den gegenwärtigen Abgesängen leicht in Vergessenheit, nach wie vor enorm wohlhabend. Sie bietet zudem ein Leben in Sicherheit, auch wenn gewaltsame Konflikte in den letzten Jahren näher an die Grenzen der EU herangerückt sind. Es kann kein Zweifel daran bestehen, dass Europa auch im Jahr 2016 ein Kontinent ist, auf dem sich Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit immer noch in beeindruckender Weise vereinen. Doch seit dem Ausbruch der Ukraine-Krise im Frühjahr 2014 sickert langsam ins Bewusstsein der EU-Bürger ein, dass diese Sicherheit ebenso wie der materielle Wohlstand (die Euro-Krise lässt grüßen) und die Gerechtigkeit gepflegt und manchmal auch mühsam erarbeitet werden müssen.
Die Einleitung der Europäischen Sicherheitsstrategie von 2003 illustriert eindrucksvoll, wie sehr sich in den letzten Jahren das Umfeld verändert hat, in dem sich die EU als außen- und sicherheitspolitischer Akteur bewegt. Bezogen auf das geographische Umfeld ist heute von einem „Krisenbogen von der Sahelzone bis zum Kaukasus“ oder gar von einem die Europäische Union umgebenden „ring of fire“ die Rede. Angesichts der Multidimensionalität, der Gleichzeitigkeit und der immer unübersichtlicheren Natur der uns in der einen oder anderen Weise betreffenden Krisen ist die Formulierung von Außenminister Frank-Walter Steinmeier von der „aus den Fugen geratenen Welt“ beinahe schon zu einem geflügelten Wort geworden. Diese Formel von der Welt, die aus den Fugen geraten sei, beschwört das Bild eines verunsicherten Westens herauf, der sich etwas ratlos, fast schon eingeschüchtert, unerwarteten Risiken, Unwägbarkeiten und Bedrohungen gegenübersieht. Die in der Strategie von 2003 beschriebenen Instrumente reichen für eine Neuverfugung dieser Welt nicht aus.
Daher beauftragten die europäischen Staats- und Regierungschefs im Juni 2015 die amtierende Hohe Beauftragte für Außen- und Sicherheitspolitik, Federica Mogherini, mit der Ausarbeitung einer neuen Europäischen Globalen Strategie für Außen- und Sicherheitspolitik. Die Strategie wird in enger Abstimmung mit den Mitgliedsstaaten, EU-Institutionen und europäischen außen- und sicherheitspolitischen Expertinnen und Experten entwickelt und soll im Juni 2016 offiziell vorgestellt werden. Im Rahmen dieses Prozesses haben Javier Solana, heute Präsident des ESADE Center for Global Economy and Geopolitics, und Mary Kaldor von der London School of Economics (LSE) gemeinsam mit dem Londoner Büro der Friedrich-Ebert-Stiftung international anerkannte Experten versammelt, um einen neuen strategischen Ansatz für den Umgang der EU mit Konflikten zu erarbeiten. Diese Human Security Study Group hat nun ihren Berlin Report „From Hybrid Peace to Human Security: Rethinking EU Strategy towards Conflict“ vorgelegt. Der Bericht, der auf Fallstudien zu Konflikten und Instrumenten fußt, wurde am 11. Februar 2016 mit deutschen Bundestagsabgeordneten und Expert_innen diskutiert und am 24. Februar offiziell an Natalie Tocci, Sonderberaterin für die Globale Strategie für Federica Mogherini, und ihr Team übergeben.
Konnte die Sicherheitsstrategie von 2003 noch annehmen, dass „die aufeinander folgenden Erweiterungen (…) die Vision eines geeinten und friedlichen Kontinents Realität werden“ lassen, muss heute festgestellt werden, dass die Erweiterungs- und Assoziierungspolitik von EU und NATO hinsichtlich ihres stabilisierenden Auftrags vorerst gescheitert sind. Die Ukraine-Krise hat offen zutage treten lassen, was vorher zwar schon erkennbar war, aber vielleicht zu sehr vernachlässigt wurde: Auf europäischem Boden wird wieder um Einflusszonen gestritten. Seit 2014 tritt der latente Konflikt zwischen Russland und dem Westen erneut mit aller Deutlichkeit zutage, demonstriert die NATO neue Abwehr- und Verteidigungsbereitschaft und lässt Russland seine Muskeln spielen. Die allenthalben vernehmbare Beschwörung der Rückkehr der Geopolitik ist in gewisser Weise eine Reaktion auf die oben beschriebene Hilflosigkeit: Eine erneute Unterteilung der Welt in Einflusszonen, ja gar eine Rückkehr des Kalten Krieges tragen der sehr viel komplexeren Wirklichkeit nicht Rechnung und das ist natürlich auch jenen bewusst, die einem solchen neuen Kalten Krieg das Wort reden. Die „neuen“ Krisen sind eben, so der Befund des Berlin Reports, nicht mehr als Clausewitz‘sche Kriege zwischen zwei Staaten mit legitimen Interessen zu verstehen. Sie sind vielmehr geprägt von „räuberischen sozialen Verhältnissen, in denen Netzwerke von bewaffneten Gruppen extreme Identitäten instrumentalisieren und sich selbst mittels Gewalt bereichern“.
Der Berlin Report der Human Security Study Group propagiert daher einen Ansatz, der auf einem Konzept menschlicher Sicherheit der 2. Generation aufbaut, angepasst an die Erfordernisse und Konflikte des 21. Jahrhunderts. Die Autoren argumentieren, dass die EU eine Institution des 21. Jahrhunderts sei, welche die Unterscheidung zwischen inneren und äußeren Faktoren aufheben müsse und ihre außenpolitischen Instrumente nicht mehr losgelöst von der Innenpolitik denken dürfe. Eine Anwendung von klassischen „Outside“-Instrumenten wie zwischenstaatlicher Diplomatie alter Schule und wirtschaftlichen und militärischen Zwangsmaßnahmen auf die Krisen und Konflikte der heutigen Zeit würde, so die Autorinnen und Autoren, die Situation in vielen Fällen nur verschlimmern, bestenfalls einen instabilen Frieden schaffen.
Ein solcher Ansatz erfordert nach Ansicht vieler europäischer Expert_innen, das wurde bei den Präsentationen deutlich, einen massiven Zuwachs an Ressourcen. Nicht zwingend in Form neuer Programme, aber in Form vieler Kräfte „on the ground“, die mit kreativeren Ansätzen arbeiten. Hier lässt sich allerdings kritisch fragen, ob die sofortige Forderung von mehr Ressourcen nicht primär ein zwar verständlicher, aber auch fast ritueller Reflex ist. Es wäre schon viel getan und erreicht, wenn die vorhandenen Ressourcen besser genutzt würden. So ganz schlecht steht die EU ja nicht da: Allein der Europäische Auswärtige Dienst verfügt über ein jährliches Budget von rund 600 Millionen Euro und ist mit 140 Delegationen und Büros weltweit präsent. Hinzu kommen die Programme der Europäischen Kommission, die Vertretungen der EU-Mitgliedstaaten und zahlreiche nationale Programme im Rahmen der bilateralen Zusammenarbeit. Es gibt eine hohe Dichte an europäischen zivilgesellschaftlichen Akteuren, die über langjährige Erfahrungen in schwierigen Kontexten verfügen und oft hervorragende Netzwerke und Landeskenntnisse aufgebaut haben.
Es ist richtig: Die Umsetzung eines Konzepts menschlicher Sicherheit der 2. Generation erfordert ein sehr fundiertes Verständnis von Land und Region, von lokalen und nationalen Netzwerken, von den maßgeblichen Akteuren und dem Grad ihrer Verankerung in ihren Gesellschaften, von Seilschaften, Abhängigkeiten und Zwängen. Es erfordert sehr gute Kenntnisse der wirtschaftlichen, sozialen und politischen Entwicklungen und Trends und ihrer wesentlichen Treiber. Ohne diese Kenntnisse können potenzielle Risiken nicht rechtzeitig identifiziert werden. Der entscheidende Punkt ist: Die Voraussetzungen, Ressourcen und Quellen für eine solche fundierte Frühwarnung sind im Grunde bereits vorhanden. Sie sind nur auf wenig effektive Weise verteilt auf 28 Mitgliedsstaaten und eine Vielzahl zwischenstaatlicher Strukturen sowie bi- und multilateraler Programme. Sie werden, gerade wenn es um Informationen und Zugänge geht, immer noch viel zu oft eifersüchtig gehütet statt bereitwillig geteilt. Hier ist viel Spielraum für Verbesserung, der weniger materielle Ressourcen braucht als vielmehr einen ausgeprägten politischen Willen. Die größte Herausforderung für die Umsetzung des Ansatzes ist der unverkennbar immer stärker zutage tretende Trend der Renationalisierung: „The general mood is that the EU is not in a state- and mind-set to tackle its security issues“, sagte ein EU-Experte bei der Brüsseler Vorstellung des Berichts – und diese Analyse ist für den Anspruch der EU als relevanter außen- und sicherheitspolitischer Akteur derzeit wohl zutreffend. Allein: Eine Alternative dazu gibt es eigentlich nicht. Innere und äußere Faktoren greifen immer stärker ineinander, eine klassische Trennung zwischen Innen- und Außenpolitik gibt es so nicht mehr. Außenpolitisches Scheitern wird über kurz oder lang innenpolitisch schmerzlich spürbar, die aktuelle Flüchtlingskrise führt dies der EU deutlich vor Augen. Die geographisch weit entfernten Kriege sind längst zu einem wirkmächtigen Inside-Faktor für die Sicherheit und den Wohlstand Europas geworden.
Links zum Thema:
Die gesamte Studie in englischer Sprache: From Hybrid Peace to Human Security: Rethinking EU Strategy towards Conflict.
Europas Sicherheit scheint in Gefahr: Wege aus der Krise. 14.04.2016, Politik für Europa - 2017plus
Warum auch die Ostpolitik der EU mehr Einigkeit vertragen könnte, lesen Sie hier:
Einigkeit macht stark? Die Ostpolitik der EU. 07.04.2017, Politik für Europa - 2017plus
Auch die Bürger_innen der EU sind mehrheitlich für eine verstärkte Zusammenarbeit im Bereich der Außen- und Sicherheitspolitik: EU-Umfrage: Was wollen die Bürgerinnen und Bürger? 08.02.2016, Politik für Europa - 2017plus
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