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Der russische Krieg gegen die Ukraine ist eine globale Zäsur. Aber die Zeitenwende darf nicht nur militärische Fragen betreffen fordert SPD-Fraktionschef Dr. Rolf Mützenich.
Als in den Morgenstunden des 24. Februar 2022 der russische Überfall auf die Ukraine begann, hat sich die europäische Sicherheitsordnung, aber auch die internationale Politik grundlegend verändert. Mit dem verbrecherischen Angriff auf die Ukraine endete der Traum eines „gemeinsamen Hauses Europa“ und das in der Charta von Paris 1990 ausgerufene „neue Zeitalter der Demokratie, des Friedens und der Einheit“. Der Krieg ist eine globale Zäsur – eine Zeitenwende. Er leitet eine neue Phase des Misstrauens und der Aufrüstung in den internationalen Beziehungen ein, deren Folgen noch Jahre, vermutlich sogar Jahrzehnte, nachwirken werden.
Die gute Nachricht nach einem Jahr des Krieges ist: „Kyiv stands and Ukraine stands. Democracy stands“ – wie es US-Präsident Biden bei seinem Überraschungsbesuch in Kiew Anfang dieser Woche treffend formulierte. Der Besuch des amerikanischen Präsidenten nur wenige Tage vor dem Jahrestag der Invasion war weit mehr als Symbolik. Er zeigt klar und deutlich: Putins imperiales Ziel, die Ukraine innerhalb weniger Tage zu überrennen, ist krachend gescheitert. Trotz enormer menschlicher und wirtschaftlicher Verluste ist es Putin nicht gelungen, das ukrainische Volk zu brechen oder den Westen zu spalten. Ganz im Gegenteil: Putins Angriffskrieg hat die Ukrainerinnen und Ukrainer als freie und souveräne europäische Nation zusammengeschweißt und zu einer Renaissance des Westens geführt. Sowohl die NATO als auch die EU haben zu einer neuen Geschlossenheit gefunden, die wohl viele – einschließlich Putin – vor einem Jahr nicht für möglich gehalten hätten.
Deutschland kommt dabei eine besondere Verantwortung zu. Nach der Zeitenwende-Rede von Bundeskanzler Olaf Scholz am 27. Februar 2022 im Deutschen Bundestag vollzog die Ampel-Koalition einen grundlegenden Kurswechsel in der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik. Zusammen mit den USA und Großbritannien zählt die Bundesrepublik heute zu den größten Unterstützern der Ukraine – wirtschaftlich, finanziell und humanitär, aber eben auch militärisch. Allein im vergangenen Jahr 2022 beliefen sich unsere Hilfen für die Ukraine auf mehr als zwölf Milliarden Euro. Bei der Unterstützung der Ukraine verfolgte die Bundesregierung unter der Führung von Kanzler Olaf Scholz stets eine klare Strategie: Im Einklang mit unseren Partnern, allen voran den USA, alles Notwendige dafür zu tun, um die Ukraine in die Lage zu versetzen, ihr Selbstverteidigungsrecht aus der Charta der Vereinten Nationen auszuüben und gleichzeitig eine Eskalation zwischen Russland und der NATO zu verhindern. Dieser strategische Ansatz hat sich als weitsichtig und richtig erwiesen. Nationale Alleingänge unterminieren lediglich die Geschlossenheit der Allianz und spielen damit letztlich dem Kreml in die Hände. Unser größter Trumpf gegen Putin ist die Einheit des Westens. Deshalb wird sich die Bundesregierung auch weiterhin nicht unter Druck setzen lassen und alles Notwendige dafür tun, um die Einheit des westlichen Bündnisses zu bewahren. Für uns ist klar: Putin darf diesen Krieg nicht gewinnen und die Ukraine darf ihn nicht verlieren.
Zur Wahrheit gehört jedoch auch: Ein Jahr nach dem russischen Überfall auf die Ukraine ist der Ausgang des Krieges nach wie vor ungewiss. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt gibt es keine Hinweise darauf, dass Putin von seinem imperialen Eroberungskrieg ablassen wird. Die Annexion von weiteren teilweise besetzten ukrainischen Gebieten und die Teilmobilmachung der russischen Streitkräfte im vergangenen Jahr deuten vielmehr darauf hin, dass sich Putin auf einen langen Krieg vorbereitet. Seit Monaten hat sich der Frontverlauf in der Ukraine kaum verändert. Es zeichnet sich zunehmend ab, dass dieser Krieg weder durch einen klaren Sieg oder einer Niederlage der einen oder anderen Seite enden wird, sondern sich zunehmend zu einem langwierigen Zermürbungs- und Abnutzungskrieg entwickelt – mit hohen Verlusten auf beiden Seiten.
Gleichzeitig steigt mit jedem neuen Tag des Krieges die Eskalationsgefahr. Der Einschlag einer ukrainischen Flugabwehrrakete in Polen am 15. November 2022 und der jüngste Abschuss einer ukrainischen Drohne in Belarus haben gezeigt, wie leicht die Lage außer Kontrolle geraten könnte. Auch die Möglichkeit einer Eskalation durch eine weitere Destabilisierung Moldaus oder einer Rückeroberung der Krim sollte nicht unterschätzt werden. Darüber hinaus ist auch die Gefahr eines taktischen Nuklearschlags nicht gänzlich gebannt. Das Argument einiger Experten, Putin würde keine Atomwaffen einsetzen, weil er dies bislang noch nicht getan hat, ist jedenfalls nicht besonders überzeugend. Am Ende kann niemand wissen, wie Putin im Falle einer sich abzeichnenden Niederlage reagieren würde. Selbst ein Szenario, in dem die Ukraine triumphiert und Putins Regime zerfällt, birgt die Gefahr, dass russische Massenvernichtungswaffen in noch radikalere Hände fallen, was ein Desaster für die Ukraine, aber auch für die globale Sicherheit bedeuten würde.
Die große Herausforderung, vor welcher der Westen deshalb steht, ist es eine langfristige Strategie zur Unterstützung der Ukraine zu entwickeln und zugleich neue Aggressionen und die Eskalationsdominanz Moskaus einzuschränken. Konkret bedeutet dies, dass wir Kiew weiterhin so umfangreich und so lange wie nötig unterstützen und die europäische Integration der Ukraine vorantreiben müssen. Gleichzeitig sollte jedoch das breite Spektrum diplomatischer Möglichkeiten genutzt werden, um Fenster für mögliche Initiativen zur Deeskalation, Waffenruhen und Hilfen für eingeschlossene Zivilisten zu öffnen. Deshalb ist es auch richtig, dass Bundeskanzler Olaf Scholz und der französische Präsident Emmanuel Macron weiterhin mit Wladimir Putin telefonieren – natürlich ausschließlich in enger Absprache mit Kiew und unseren Verbündeten. Die bisherigen diplomatischen Bemühungen der Vereinten Nationen, der Türkei und der Internationalen Atomenergie-Organisation zeigen, dass Erfolge in kleinen Teilbereichen durchaus möglich sind – etwa bei Fragen des Gefangenenaustauschs, des Getreideabkommens oder zum Schutz von Atomkraftwerken. Wo immer möglich, sollte der Westen daher diplomatische Initiativen unterstützen, um diesen Krieg zu beenden.
Gleichwohl ist es offenkundig, dass derzeit noch nicht der Punkt für substantielle Friedensverhandlungen gekommen ist. Putin ist nach wie vor davon überzeugt, seine imperialistischen Ziele erreichen zu können. Dennoch ist diese Politik der kleinen Schritte notwendig, um wichtige Kommunikationskanäle offen zu halten und ein Minimum an strategischer Stabilität zu bewahren. Dies ist umso wichtiger, nachdem Putin bei seiner Rede zur Lage der Nation am 21. Februar 2023 ankündigte, Russlands Teilnahme am New-START Vertrag auszusetzen – und damit dem letzten großen Abkommen zur Rüstungskontrolle zwischen den USA und Russland den politischen Todesstoß versetzte.
Wir sollten zudem nicht den Fehler begehen und den Begriff der Diplomatie allein auf Verhandlungen mit dem Kreml reduzieren. Auch ein Jahr nach Kriegsbeginn gibt es zu wenige Länder, die Russlands Imperialismus eindeutig verurteilen. Lediglich 35 Staaten haben sich bislang den westlichen Sanktionen gegen Moskau angeschlossen. Bereits bei der Abstimmung in der Generalversammlung der Vereinten Nationen am 2. März 2022 zeigte sich, dass es eine Reihe von Staaten gibt, die den Krieg nicht als globale Zäsur, sondern als eine rein europäische Angelegenheit perzipieren. So sagte beispielsweise der indische Außenminister Subrahmanyam Jaishankar beim GLOBSEC 2022 Forum in Bratislava am 3. Juni 2022: „Europe has to grow out of the mindset that Europe’s problems are the world’s problems, but the world’s problems are not Europe’s problems“ – „Europa muss aus der Denkweise herauswachsen, dass die Probleme Europas die Probleme der Welt sind, aber die Probleme der Welt nicht die Probleme Europas sind“. Diese Äußerung spiegelt die Meinung vieler Länder des Globalen Südens wider und ist das Resultat unterschiedlicher politischer und wirtschaftlicher Interessen und Abhängigkeiten sowie historisch gewachsenen Beziehungen und antiwestlichen Reflexen. Die Wahrheit ist jedoch: Dieser Krieg betrifft uns alle. Er bedroht unsere auf gemeinsamen Regeln beruhende internationale Ordnung, wie auch die Weltwirtschaft und globale Nahrungsmittelversorgung. Bereits seit Kriegsbeginn verfolgt Bundeskanzler Olaf Scholz daher eine Strategie, die darauf beruht, neue Modelle der Zusammenarbeit mit den Ländern des Globalen Südens zu etablieren. Dazu gehört etwa die Einladung an Argentinien, Indien, Indonesien, Senegal und Südafrika zum G7-Gipfel ins bayerische Elmau wie auch seine jüngsten Afrika- und Lateinamerika-Reisen. Die Politik dieser „Scholz-Doktrin“ kann bereits erste Erfolge verbuchen: So ist es beispielsweise auf dem G20-Gipfel auf Bali im Anschluss an die Peking-Reise von Kanzler Scholz gelungen, Russland in Maßen zu isolieren und das nukleare Tabu wieder zu stärken.
Darüber hinaus liegt es auf der Hand, dass der Westen aufgrund seiner Unterstützung für die Ukraine als möglicher Vermittler im Ukraine-Krieg kaum in Betracht kommt. Es liegt daher in der Verantwortung der aufstrebenden Länder des Globalen Südens diese Rolle einzunehmen. So könnte beispielsweise die von dem brasilianischen Präsidenten Lula da Silva vorgeschlagene Vermittlungsinitiative neue Impulse für mögliche Verhandlungen generieren. Auch China könnte bei künftigen Verhandlungen mit Russland eine Schlüsselrolle einnehmen. Auf der Münchner Sicherheitskonferenz am 17. Februar 2023 hat Chinas ranghöchster Diplomat Wang Yi eine Friedensinitiative zur Lösung des Konflikts angekündigt, die am Jahrestag des Überfalls vorgestellt wurde. Noch bleibt abzuwarten, wie sich diese Initiative auswirkt. China hat beispielsweise bei dem Besuch von Olaf Scholz in Peking gezeigt, dass es durchaus auch eine konstruktive Rolle in diesem Konflikt spielen kann. Die reflexhafte Zurückweisung der Ankündigung durch einige Politiker, Medien und Beobachter, bevor überhaupt Einzelheiten bekannt wurden, ist ebenso unangebracht wie die Hoffnung auf schnelle Fortschritte. China bleibt bislang hinter seiner Verantwortung als ständiges Mitglied im UN-Sicherheitsrat und aufstrebende Weltmacht zurück. Peking hat sich bisher weder den westlichen Sanktionen angeschlossen noch den russischen Angriffskrieg eindeutig verurteilt. Sollten sich zudem die Befürchtungen des US-Außenministers Antony Blinken bewahrheiten, dass China tatsächlich erstmals Waffenlieferungen an Russland erwägt, wäre dies fatal für die globale Sicherheit und würde die Welt in eine noch weitaus tiefere politische und wirtschaftliche Krise stürzen.
Die ambivalente Rolle Chinas zeigt, dass der Krieg in der Ukraine nur eine der vielen gegenwärtigen Bruchlinien der internationalen Politik ist. Die Welt befindet sich im Umbruch. Wir befinden uns am Beginn eines multipolaren Zeitalters, welches insbesondere von einer strategischen Rivalität zwischen China und den USA und Großkrisen und Herausforderungen wie dem Klimawandel, Pandemien und technologischen Veränderungen geprägt ist. In diesen Umbrüchen liegt vermutlich sogar die noch größere Zeitenwende, in deren Rahmen auch die Großmächte USA und China und die aufstrebenden Mächte des Globalen Südens auf den Krieg in der Ukraine blicken. Vor diesem Hintergrund stellt sich für Europa vor allem die Gretchenfrage, wie die Europäische Union künftig als attraktives Zentrum in einer multipolaren Welt bestehen kann. Dazu gehören gewiss die Fragen, wie wir einen gerechten und nachhaltigen Frieden in der Ukraine schaffen können und wie wir die strategische Souveränität und Handlungsfähigkeit der EU vorantreiben können. Dazu gehören jedoch auch weitere Aspekte der Zeitenwende, wie etwa der Umbau der Arbeits- und Wirtschaftswelt, die Diversifizierung unserer Lieferbeziehungen und die Zukunft der europäischen Industriepolitik. Die Zeitenwende auf rein militärische Fragen zu beschränken, wird den komplexen Herausforderungen in der Einen Welt nicht gerecht. Die Beseitigung von Hunger, eine gemeinsame wirtschaftliche Entwicklung, die das Klima schont und gute Arbeit schafft, sowie Abrüstung und die Stärkung des Völkerrechts und Internationaler Organisationen bleiben auch in der Zukunft eine Aufgabe für eine demokratische und friedliche Politik. Auf diese Mittel zu verzichten oder sie zur Problembearbeitung in Frage zu stellen, würde der Zeitwende eine noch dramatischere Wirkung geben als ohnehin schon.
Dieser Text ist in einer leicht veränderten Version am 24.02.2023 im IPG-Journal erschienen.
Dr. Rolf Mützenich ist seit 2019 Vorsitzender der SPD-Bundestagsfraktion. Er gehört seit 2002 dem Bundestag an.
Die in diesem Beitrag geäußerten Inhalte und Meinungen sind die der/des jeweiligen Autor_in und geben nicht die Ansichten der Friedrich-Ebert-Stiftung e.V. wieder.
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