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von László Andor
Durch die Corona-Krise hat die Europäische Union (EU), was ihre fiskalischen Kapazitäten betrifft, in 2020 ein kritisches Innovationsniveau erreicht. Das Dogma, den EU-Haushalt bei etwa einem Prozent des Bruttonationaleinkommens zu halten und jedes Jahr auszugleichen, hat sich innerhalb weniger Monate verflüchtigt. Trotz ursprünglichen Zögerns war die antizyklische Reaktion der Europäischen Zentralbank (EZB) schnell und entschieden – gerade im Vergleich mit der vorherigen Krise. Andererseits wurde durch die Rezession erneut eine Debatte über die wirtschaftspolitische Architektur der EU ausgelöst, die sich einmal mehr auf die Möglichkeit einer gemeinsamen Fiskalkapazität konzentriert. Im Mai 2020 hat die Europäische Kommission dann einen ehrgeizigen und beinahe revolutionären zweistufigen Vorschlag gemacht, der im Juli 2020, nach ein paar Anpassungen, von den Staats- und Regierungschefs/-chefinnen angenommen wurde.
Neue Ausgabeninstrumente für die wirtschaftliche Erholung nach Covid-19
Nach einer rekordverdächtigen 100-Stunden-Marathonsitzung entschied der Europäische Rat, der Rezession, die von der Covid-19-Pandemie ausgelöst worden war, effektiv wirksame Haushaltsmittel entgegenzusetzen. Die wichtigsten Werkzeuge dafür sind der neu entwickelte Anti-Krisen-Fonds (Next Generation EU – NGEU) und das siebenjährige EU-Budget (Mehrjähriger Finanzrahmen – MFR), zu dem dieser Fonds gehört. Diese neue Ausrichtung steht nicht nur in völligem Gegensatz zum makroökonomischen Rahmen der Zeit zwischen 2010 und 2012, sondern verabschiedet sich auch deutlich von den massiven Ausweichmanövern, die für die Juncker-Periode so typisch waren.
Seit der damalige Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker und sein Haushaltskommissar Günther Oettinger den neuen MFR-Entwurf im Mai 2018 vorgestellt hatten, war die politische Debatte nicht nur von den Folgen des Brexit überschattet, sondern auch vom Widerstand diverser Ländergruppen gegen – qualitative oder quantitative – Veränderungen des EU-Haushalts bestimmt. Im Februar 2020 stand der Europäische Rat kurz davor, die verwässerte Version eines anspruchslosen Entwurfes zu verabschieden. Covid-19 hat dann zwar nicht alles verändert, aber immerhin zu einem grundlegenden Wandel einiger der wichtigsten Aspekte der EU-Haushaltspolitik geführt.
Sobald klar war, dass zur Bekämpfung des Coronavirus ein Großteil der wirtschaftlichen und sozialen Aktivitäten gestoppt und damit eine Rezession bewältigt werden musste, richtete sich die öffentliche Aufmerksamkeit auf die schnell steigende Arbeitslosigkeit als einem der größten Risikofaktoren. Plötzlich traf zu, was der frühere US-Präsident Richard Nixon vor 50 Jahren gesagt hatte: „Wir sind jetzt alle Keynesianer.“ Mit Blick auf die Krisenreaktion von 2020 können wir einen signifikanten, wenn nicht sogar überwältigenden Kontrast erkennen zwischen den wirtschaftspolitischen Antworten auf die letzte Eurozonen-Krise, bei denen es hauptsächlich um Sparmaßnahmen ging, und der gegenwärtigen Bereitschaft, in der Coronavirus-Rezession antizyklische Maßnahmen zu ergreifen sowie Arbeitsplätze und Einkommen zu schützen.
Die entscheidende Frage seit Beginn des großen Lockdowns im März 2020 war, wie die wirtschaftliche Erholung finanziert werden soll. Obwohl Europa beim Thema Solidarität erneut gespalten schien, nahm die Debatte schnell eine neue Dimension an – als die Kommission eine 80-prozentige Steigerung der gesamten Haushaltskapazität der EU, die Einführung einer antizyklischen Stabilisierungsfunktion und die Möglichkeit der Finanzierung von Transferzahlungen über gemeinsam aufgenommene Schulden vorschlug.
Wichtig dabei war, dass die EU-Reaktion auf die Entwicklungen am Arbeitsmarkt sogar noch eher erfolgte als die neue Haushaltsinitiative. Bereits im März 2020 hatte die Kommission die Gründung eines europäischen Instruments zur temporären Unterstützung bei der Minderung von Arbeitslosigkeitsrisiken in einer Krisensituation vorgeschlagen (temporary Support to mitigate Unemployment Risks in an Emergency – SURE). Obwohl diese Initiative keine gemeinsame Arbeitslosenversicherung (oder zumindest Rückversicherung) enthielt, bot sie doch ein effektives Instrument, um in den EU-Mitgliedsländern Kurzarbeitsprogramme zu unterstützen.
Aber was uns hier von einem großen Durchbruch sprechen lässt, ist der Umfang, die Mission und die Funktionsweise des Instruments Next Generation EU. Erstmals in ihrer Geschichte wird sich die EU auf den Kapitalmärkten Geld leihen, um unionsweit gemeinschaftliche Ausgaben zu finanzieren. Das Programm Next Generation EU ist in drei Abschnitte unterteilt: Es soll die Mitgliedsländer bei deren Erholung und Wiederaufbau unterstützen, die Wirtschaft und die privaten Investitionen ankurbeln sowie dabei helfen, die richtigen Lehren aus der Krise zu ziehen (was unter anderem auch ein neues Gesundheitsprogramm umfasst).
Was die Größe betrifft, ist der bedeutendste Teil des Pakets die Aufbau- und Resilienzfazilität (Recovery and Resilience Facility – RRF), die massive finanzielle Unterstützung für öffentliche Investitionen und Reformen (bis zu 310 Milliarden Euro an Zuwendungen und bis zu 250 Milliarden Euro an Krediten) bietet und sich dabei auf den grünen und digitalen Wandel konzentriert. So sollen die Volkswirtschaften der EU-Länder widerstandsfähiger gemacht und besser auf die Zukunft vorbereitet werden.
Die Politik eines fiskalischen Paradigmenwechsels
Um an diesem Punkt anzukommen, an dem die EU zu einem haushaltspolitischen Kurswechsel in der Lage ist, war eine völlige Umstellung der deutschen Herangehensweise an die europäische Frage erforderlich. Bundeskanzlerin Angela Merkel, die innenpolitisch bereits häufig die Richtung gewechselt hat (bei der Familienpolitik, der Atomenergiepolitik und der Einwanderungspolitik), hat nun erneut eine Kehrtwende vollzogen, die für das Überleben der Europäischen Union außerordentlich bedeutsam ist. Auch die Rolle der Sozialdemokrat_innen, die nach einer langen Pause wieder das Finanzministerium leiten, sollte nicht unterschätzt werden. Nach anfänglicher Vorsicht öffnete sich Bundesfinanzminister und Vizekanzler Olaf Scholz zuerst für neue Gedanken und dann für Schritte in neue Richtungen. Damit ließ er die Periode hinter sich, während der die deutsche Wirtschafts- und Finanzpolitik sich in guten Zeiten auf die Forderung nach Haushaltsdisziplin und in schlechten Zeiten auf die Forderung nach Sparsamkeit (insbesondere gegenüber anderen EU-Ländern) reduzierte.
Natürlich hätte die EU schon während der vorherigen Krise viel mehr Haushaltsrisiken gemeinsam übernehmen bzw. teilen und eine antizyklische Expansion anstreben sollen. Aber obwohl das alte Modell damals bereits zu Ende ging, waren die Bedingungen für das neue noch nicht vorhanden. Und als der neu gewählte französische Präsident Emmanuel Macron 2016 mutige Ideen zur Stärkung der EU auf den Tisch brachte, blieb Berlin stumm. Dann löste Covid-19 (besser spät als nie) die notwendigen Schritte aus und half Deutschland dabei, ein wirklich vereinigendes Land zu werden – gerade als die Regierung in Berlin auch die wechselnde Präsidentschaft des Europäischen Rates übernahm, was ihren informellen Einfluss durch formelle Führungspositionen ergänzte.
Aber ein Durchbruch in einem Bereich bedeutet nicht notwendigerweise Fortschritte auf der ganzen Linie. Ganz im Gegenteil: Manchmal muss ein Schritt nach vorn teuer bezahlt werden, und ein Beispiel dafür konnten wir hier sehen. Der Europäische Rat war drauf und dran, der MFR-Vereinbarung eine Entscheidung über einen ernsthaften und effektiven Rechtsstaatsmechanismus hinzuzufügen, aber am Ende ging der verabschiedete Text nicht über die üblichen allgemeinen Phrasen hinaus. Dies lag hauptsächlich daran, dass die Europäische Volkspartei (EVP) unfähig ist, ihre internen Unstimmigkeiten zu diesem Thema zu lösen. Aber ein weiterer Grund war, dass sich die sogenannten Sparsamen Vier (die Niederlande, Österreich, Schweden, Dänemark; später mit Finnland die Sparsamen Fünf) entschieden hatten, ihr politisches Kapital zu missbrauchen und sich nicht auf die Verbesserung der Funktionsweise des EU-Haushalts oder die Abwehr des Missbrauchs von EU-Mitteln zu konzentrieren, sondern auf symbolische Siege.
Obwohl dies auch als vernünftig und als demokratische Vertretung der Interessen der Steuerzahler_innen dargestellt werden könnte, hat die Gruppe der sparsamen Länder dem EU-Haushalt und damit dem Geist der Gemeinschaft erheblich geschadet. Statt nach dem Brexit die Gelegenheit zu nutzen, die schädliche Praxis der Rabatte zu beenden, haben sie sich dafür eingesetzt, diese sogar noch zu erhöhen. Im konventionellen Haushalt (MFR) schwächten sie die Werkzeuge, die einen klaren europäischen Mehrwert bei der Ressourcenverteilung bieten und Europa erheblich bereichern und voranbringen (z. B. Erasmus, Just Transition). Und beim neuen Haushalt für das Programm Next Generation EU (NGEU) bestanden sie darauf, den Transfer- gegenüber dem Kreditanteil zu senken, was die Hilfen für die Regionen, die unter der pandemischen Rezession am meisten leiden, etwas weniger effektiv macht.
Der progressive Weg zu einem nachhaltigen haushaltspolitischen Rahmen
Insgesamt ist das Ergebnis der Krise von 2020 nicht einfach nur ein Beispiel für den sprichwörtlichen Schritt in die richtige Richtung. Die neu geschaffenen Instrumente sind vielmehr deshalb sehr bedeutsam, weil sie – um einen Ausdruck aus der deutschen Philosophie zu verwenden – den MFR tatsächlich vom Kopf auf die Füße stellen könnten, indem sie auf der Gemeinschaftsebene eine echte Stabilisierungsrolle übernehmen. Von verschiedenen Formen der passiven Unterstützung (wie der Aussetzung der Haushalts- oder Wettbewerbsregeln in Krisenzeiten) kann die EU mithilfe der neuen Instrumente nun zur aktiven Unterstützung übergehen.
Obwohl bis zur Implementierung und effektiven Ausgestaltung des neuen Wiederaufbauinstruments noch viel geschehen muss, wurden wir im Mai 2020 und im Zuge des späteren politischen Entscheidungsfindungsprozesses Zeuge eines Sinneswandels, der sich, wenn er andauert, als Wendepunkt erweisen könnte – nicht nur für die kurzfristige wirtschaftliche Erholung, sondern auch für den längerfristigen Wiederaufbau der EU. Auch wenn die neuen Werkzeuge bei einer verzögerten Auszahlung erst später mit mehr Liquidität unterstützend wirken können, hilft das politische Engagement der EU-Mitgliedstaaten bereits jetzt, die Insolvenzrisiken und die Wahrscheinlichkeit einer Desintegration zu verringern.
Dies bedeutet nicht, dass es kurz- oder langfristig nichts anderes mehr zu tun gibt. Die Entscheidung vom Juli 2020 ist erst der Beginn eines Wandels, der zu einer echten funktionsfähigen Wirtschafts- und Währungsunion führen könnte – einer Gemeinschaft, die das gleichzeitige Entstehen einer Sozialunion nicht verhindert, sondern sogar fördert. Einige entscheidende Schritte können hier bereits genannt werden:
László Andor ist Generalsekretär der Foundation for European Progressive Studies (FEPS) in Brüssel, Senior Fellow an der Hertie School of Governance in Berlin und ehemaliger EU-Kommissar für Beschäftigung, soziale Ange-legenheiten und Integration (2010–2014).
Bei dem Beitrag handelt es sich um eine gekürzte Vorabveröffentlichung. Die im Beitrag zum Ausdruck gebrachten Ansichten sind nicht notwendigerweise die der Friedrich-Ebert-Stiftung.
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