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Iryna Pinchuk ist 2022 wegen des Krieges aus der Ukraine geflüchtet. Sie reflektiert über persönliche Grenzen, Identität und den Weg zu ihrer neuen Realität.
Dieser Beitrag von Iryna Pinchuk ist im Rahmen der Internationalen Konferenz „Migration progressiv ausbuchstabieren“ der Friedrich-Ebert-Stiftung entstanden. Im September 2024 haben wir uns gemeinsam mit internationalen Vertreter_innen aus Politik, Zivilgesellschaft, Medien und Wissenschaft intensiv mit den drängenden Fragen und Herausforderungen menschlicher Mobilität beschäftigt und progressive Antworten darauf formuliert. Lesen Sie hier alle Beiträge dazu!
Der Tag der Konferenz: Gäste und Referent_innen sammeln sich im Foyer des Hauses, wo sie ihre unbequemen Regensachen ablegen. Auch ich muss heute etwas ablegen, nämlich ein unbequemes Gefühl. Dieses merkwürdige Gefühl, das mich manchmal fast an meine Grenze bringt. Da muss ich mittlerweile besonders wachsam sein. An dieser Grenze kann ich jetzt kontrolliert und geprüft werden.
Obwohl ich mich tatsächlich nicht an irgendeiner Grenze befinde, trage ich gefühlt eine solche in mir und mit mir herum. Die Grenze spiegelt sich sowohl in kleinen alltäglichen Dingen als auch im Großen wider. Es wird noch einige Zeit vergehen, bis mein Name bei einer Vorstellung korrekt ausgesprochen wird, ohne dass ich ihn buchstabieren muss. Bis zum Gefühl „Endlich angekommen!“, ohne dazwischen zahlreiche „Herzlich willkommen!“ zu erhalten.
Der Tag der Konferenz: Alle Teilnehmenden und Referent_innen nehmen ihre Namensschilder. Auch ich nehme das Schild, auf dem neben meinem Namen die Funktion „Organisatorin“ steht. Auf dem Schild gibt es allerdings keinen Platz für „Migrantin“. Dieser Umstand macht alles bequemer und eindeutiger.
Ich hatte bisher verschiedene Beziehungen zu Migration: von der Leugnung bis zur totalen Akzeptanz. Irgendwann erwischte mich die neue Realität an einem Punkt, an dem die alten Regeln nicht mehr galten und die neuen noch nicht in Kraft waren, an dem ich so sein wollte wie früher, aber das war nicht möglich. Es bedeutete, ganz von vorne anzufangen, die Verbindung zum eigenen Land, zur eigenen Kultur und zum Selbst neu zu definieren.
Als eine Person mit abgeschlossenem sprachwissenschaftlichem Studium versuche ich als Allererstes die Phänomene zu verstehen, indem ich die Etymologie der Wörter mehr oder weniger nachvollziehe. Es scheint hier mit dem Wort „Migration“ alles schwarz-weiß zu sein: „Wanderung“, „Abwanderung“, so der „heilige“ Duden. Das Wort klar ausbuchstabieren jedoch und progressiv noch dazu? Habe ich bei dieser Frage eine Hoffnung, den geringsten Erfolg mit neuen Definitionen zu erreichen?
Ein neues Migrationsnarrativ braucht Flexibilität, die man in rigiden Grenzen und Regeln leider nur zum Teil ausleben kann. Das Migrationsnarrativ, das zurzeit auch polarisierend wirkt und nicht unbedingt in die richtigen Hände gerät.
Der Tag der Konferenz: Alle nehmen ihre Plätze in dem großen Konferenzsaal ein. Die inspirierten Menschen aus verschiedenen Bereichen kommen zusammen, um über die unterschiedlichen Dimensionen der Migration zu diskutieren. Genau zu diesem Zeitpunkt, wo die „Migrationsdebatte“ die Schlagzeilen der Presse beherrscht. Genau zu diesem Zeitpunkt, wo der Schock über die Ereignisse in Solingen noch sehr frisch ist. Genau zu diesem Zeitpunkt, wo die ersten Abschiebungen in die Türkei begonnen haben. Man kann behaupten, es sei höchste Zeit, darüber zu sprechen. Es entsteht der Eindruck, als würde dieses Problem erst jetzt zu einem alarmierenden Diskurs, der die aktive Beteiligung von jedem und jeder braucht.
Ein progressives Narrativ der Migration muss eine Person in den Vordergrund stellen, nicht die Zahl der Migrant_innen, nicht die Summe der ausgezahlten Leistungen oder (fügt hier eine negativ konnotierte Assoziation zu Geflüchteten ein, die euch als Erstes in den Sinn kommt) …. Sobald nicht die Person im Vordergrund steht, sondern die rationale Betrachtung von Leistungen oder rassistische Vorurteile, geht der Blick für die Menschen verloren, die nicht zuletzt häufig um ihr Leben kämpfen müssen.
Heutzutage steht nicht zur Debatte, wer ein_e gute_r oder schlechte_r Migrant_in ist. Diese klare Aufteilung ist nicht wünschenswert. Es existiert jedoch ein wünschenswertes Bild davon, wer eher zu unserer Gesellschaft passt: eine Person, die fleißig Deutsch lernt, um dann das bestmögliche Kompliment zu hören: „Dein Deutsch ist aber gut!“ Eine Person, die zur Erwerbsarbeit verpflichtet ist, jedoch überwiegend der unteren sozialen Schicht angehört und nur begrenzte oder keine Aufstiegschancen hat. Eine Person, die am liebsten die „Leitkultur“ versteht und einen gesellschaftlichen Beitrag leistet und im Idealfall, wie sich manche Politiker_innen wünschen, gesunde Zähne hat und den Deutschen nicht die Arzttermine wegnimmt … Die Ansprüche sind anscheinend höher, als sich zum Beispiel eine aus einem Kriegsgebiet geflüchtete Person vorstellen kann. Gelingt Integrationspolitik nur dann, wenn die Realität diese Erwartungen genau erfüllt? Sie gelingt nur dann, wenn wir akzeptieren, dass unsere Gesellschaft schon divers ist und diese Vielfalt kein Endziel ist.
Rationale Debatten über Menschen bergen ein erhebliches Potenzial des Scheiterns. So wie Max Frisch schon sehr treffend unterstrichen hat: Wir haben Arbeitskräfte gerufen, es kamen Menschen. Ein undifferenzierter Migrationsbegriff sorgt dafür, dass unsere Bemühungen in dem Bereich Bemühungen bleiben.
Ein progressives Narrativ der Migration basiert auf der Bereitschaft zur Akzeptanz, dass eine Einwanderungsgesellschaft mit allen ihren Merkmalen kein Know-how des 21. Jahrhunderts ist, keine Verschwörungstheorie oder Schnee von gestern, so wie Integration auch. Und außerdem nie ein abgeschlossener Prozess, was viele von uns sich sehr wahrscheinlich wünschen würden. Das können wir nicht schnell auf unserer langen To-do-Liste abhaken. Das braucht Zeit, Mühe und Offenheit im Dialog. Insbesondere im Dialog mit den Betroffenen.
Der Tag der Konferenz: Es wurde nicht explizit gesagt, wer die Grenze überqueren darf und wer nicht. Es wurde aber mehrfach gesagt, wir seien an der Grenze, an der Grenze unserer Kapazitäten. Und da werden wir alle geprüft.
Iryna Pinchuk ist derzeit Praktikantin im Referat „Demokratie, Gesellschaft und Integration“ der Friedrich-Ebert-Stiftung. Seit ihrer Flucht aus der Ukraine im Jahr 2022 studiert sie Transkulturelle Studien an der Universität Bremen und ist Stipendiatin der Friedrich-Ebert-Stiftung. Darüber hinaus ist sie Sprecherin der HSG Bremen und interessiert sich für Fragen der Integrationspolitik.
Die im Artikel zum Ausdruck gebrachten Meinungen und Äußerungen der Gastautor_innen spiegeln nicht notwendigerweise die Haltung der Friedrich-Ebert-Stiftung wider.
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