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Ein Interview mit Claas Schneiderheinze über neue Forschungsergebnisse zum Zusammenhang zwischen Entwicklung und Migration.
Bild: Claas Schneiderheinze
Bild: Lushoto, Tanzania von Rod Waddington lizenziert unter CC BY-SA 2.0
Claas Schneiderheinze forscht am Institut für Weltwirtschaft (IfW) im Forschungsbereich ‚Armutsminderung und Entwicklung‘ und ist Teil des Mercator Dialog on Asylum and Migration (MEDAM).
FES: Laut der „Migration-Hump“-These nimmt die Auswanderungsrate aus einem Land erst einmal zu, wenn dort Wirtschaftswachstum und steigende Pro-Kopf-Einkommen bis zu einem bestimmten Punkt steigen. Erst in Ländern mit gehobenen mittleren Einkommen sinkt demnach die Auswanderungsrate. Das klingt erst einmal logisch. Sie halten diese These für teilweise falsch. Warum?
Claas Schneiderheinze: In vielen weniger entwickelten Regionen weltweit können Menschen die finanziellen Kosten internationaler Migration nicht stemmen. Gerade irreguläre Migration von Afrika nach Europa ist kostspielig. Oft zahlen Migrant_innen 2.000 $ bis 5.000 $ und damit ein Mehrfaches ihrer Jahreseinkommen. Steigende Einkommen können folglich die Umsetzung von Migrationsplänen erleichtern. Dass wirtschaftliche Entwicklung in armen Ländern die Auswanderungsrate erhöht, klingt deshalb in der Tat logisch. Genauso logisch ist jedoch der umgekehrte Effekt: Wirtschaftliche Entwicklung verbessert die Lebensumstände der Menschen vor Ort und den Glauben an eine bessere Zukunft. Damit reduziert sie die Absicht das eigene Land zu verlassen, die Auswanderung sinkt.
Das heißt der Einfluss von Entwicklung auf Migration hebt sich auf?
Tatsächlich kann Entwicklung Migration theoretisch sowohl erhöhen als auch reduzieren. Welcher Effekt überwiegt kann nur mit hochwertigen empirischen Studien geklärt werden. Im Gegensatz zur vorherrschenden Meinung zeigen wir in unserer neuen MEDAM Studie, dass der negative Effekt dominiert, Entwicklung also Migration durchschnittlich reduziert. Vertreter_innen der „Migration-Hump“-These verweisen bisher auf die Tatsache, dass wir die höchsten Auswanderungsraten der vergangenen Jahrzehnte in Ländern mit einem jährlichen pro-Kopf Einkommen von 6.000-12.000 $ beobachten, während die meisten ärmeren Länder deutlich weniger Auswanderung erleben. Sie interpretieren die unterschiedlichen Auswanderungsraten als direkte Konsequenz der unterschiedlichen Einkommen. Entsprechend erwarten sie, dass arme Länder wie Uganda und Tansania sobald sie das heutige Einkommensniveau von Bulgarien oder Jamaika erreichen vergleichbar hohe Auswanderungsraten haben. Dabei wird jedoch nicht berücksichtigt, dass diese Länder sich grundlegend unterscheiden. Und das gilt nicht nur für diese Länderpaare. Die ärmsten Länder unterscheiden sich systematisch vom Rest der Welt.
Welche systematischen Unterschiede gibt es zwischen ärmeren und reicheren Ländern?
Die 70 ärmsten Länder sind im Vergleich zum Rest der Welt durchschnittlich deutlich weiter von den attraktivsten Zielländern entfernt, haben viel seltener kolonial-historische Verbindungen zu diesen und haben viermal größere Bevölkerungen sowie eine größere Landfläche. Diese Faktoren tragen entscheidend zu den niedrigen Auswanderungsraten im unteren Einkommensbereich bei. Die Migrationsforschung zeigt eindeutig, dass diese Faktoren zu den bedeutendsten Determinanten internationaler Migration zählen. Darüber hinaus zeigen wir, dass der buckelförmige Zusammenhang zwischen Entwicklung und Migration im Länderquerschnitt durch wenige, kleine Länder mit ungewöhnlich hohen Migrationsraten getrieben ist. Länder wie Bahamas, Kap Verde und St. Lucia mit weniger als eine Million Einwohner_innen und ihrer Nähe zu den USA sind jedoch ein Sonderfall und können nicht mit heutigen Entwicklungsländern verglichen werden.
Werden Faktoren wie geografische Nähe, koloniale Verbindungen von der „Migration-Hump“ These etwa nicht berücksichtigt?
In der Literatur zum „Migration-Hump“ wird das typischerweise ignoriert und angenommen, dass wirtschaftliche Entwicklung in armen Ländern automatisch dazu führt die Auswanderungsraten der Mitteleinkommensländer zu erreichen. Das ist angesichts der fundamentalen Unterschiede zwischen diesen Ländern eine sehr gewagte Annahme. Tatsächlich zeigen wir in unserer Studie, dass eher das Gegenteil der Fall ist. Im Gegensatz zu früheren Studien leiten wir unsere Ergebnisse nicht von einem Vergleich zwischen Ländern ab sondern untersuchen ganz konkret die Auswirkung von wirtschaftlicher Entwicklung auf Auswanderung innerhalb der Länder über die Zeit. Unsere Ergebnisse leiden deshalb nicht unter den genannten Problemen und Ungenauigkeiten. Durch den Fokus auf Entwicklung innerhalb von Ländern verzerren geographische, historische und kulturelle Faktoren die Analyse nicht (solange sie sich über die Zeit nicht ändern). Das Ergebnis ist ein robuster negativer Zusammenhang zwischen Wirtschaftswachstum und Auswanderung – unabhängig vom Einkommenslevel. Wenn arme Länder reicher werden, bleibt also ein größerer Anteil der Menschen in ihrem Heimatland.
Wie wichtig sind neben Wirtschaftswachstum andere Faktoren wie Bevölkerungsentwicklung, (gewalttätige) Konflikte, Ungleichheit oder Korruption für die Migrationsentscheidung von Menschen?
Sehr wichtig. Die Migrationsentscheidung basiert typischerweise auf vielen Faktoren gleichzeitig. Neben der wirtschaftlichen Dimension sind Sicherheit, politische Teilhabe, Diskriminierung und die Qualität öffentlicher Dienstleistungen besonders wichtig. Viele Faktoren hängen dabei jedoch eng mit der wirtschaftlichen Entwicklung zusammen. Ohne Wirtschaftswachstum und steigende Staatseinnahmen ist die Verbesserung des Gesundheits- und Bildungssystems schwierig. Unter Korruption leidet die Wirtschaft. Wirtschaftliche Stagnation erhöht die Wahrscheinlichkeit von Konflikten (und diese können die Wirtschaft eines Landes um Jahrzehnte zurückwerfen).
Die Politik erwartet von der Entwicklungszusammenarbeit wirtschaftliche Perspektiven für (potentielle) Migrant_innen zu schaffen, damit diese nicht mehr nach Europa migrieren wollen. Sind die Erwartungen an die Entwicklungszusammenarbeit zu hoch? Wo liegen die Grenzen der EZ?
Eine Reihe von Studien haben in den letzten Jahren gezeigt, dass Entwicklungshilfe durchaus zu geringerer Migration beitragen kann. Gerade wenn Gesundheitsleistungen und Schulen verbessert werden, erhöht sich die Bereitschaft im eigenen Land zu bleiben. Unsere Studienergebnisse legen Nahe, dass gleiches auch für die Steigerung der Einkommen gilt. Hier fehlt jedoch bisher ein wissenschaftlicher Nachweis, dass Entwicklungshilfe das richtige Instrument ist um wirtschaftliche Entwicklung langfristig zu verbessern.
Dennoch ist Entwicklungszusammenarbeit kein Ersatz für direkte Migrationspolitik und ein zu starker Fokus auf die Reduzierung von Migration gefährdet die Effektivität der Entwicklungszusammenarbeit im herkömmlichen Sinne. Einwanderung kann von Seiten der Zielländer sehr direkt durch klassische migrationspolitische Maßnahmen beeinflusst werden. Im Vergleich dazu sind die Auswirkungen von Entwicklungshilfe auf die Auswanderung zu gering um mit den aktuellen Budgets Entwicklungszusammenarbeit einen großen Unterschied herbeizuführen. Grundsätzlich ist es aber richtig, dass bessere wirtschaftliche Perspektiven im Heimatland und bessere öffentliche Dienstleistungen den Migrationsdruck reduzieren können.
Die Argumentation der „Migration-Hump“-These ist als wissenschaftliche Erkenntnis in die politische Praxis eingeflossen. Auch weil sie so einleuchtend erscheint. Wie sollten Politiker_innen in Zukunft mit solchen Thesen umgehen?
Ich kann nicht beurteilen in welcher Form die „Migration-Hump“-These bereits die Entwicklungszusammenarbeit beeinflusst hat. Grundsätzlich gilt es vorsichtig mit generellen Aussagen umzugehen. Gerade wenn sie sich hauptsächlich auf deskriptive Studien stützen. Diese Art von Makrostudien kann dem Einzelfall nicht gerecht werden. Auch unsere Ergebnisse halten nicht notwendigerweise für jedes Land uns jeden Zeitraum.
Ein Beitrag von Felix Braunsdorf, Referent für Migration und Entwicklung der Friedrich-Ebert-Stiftung.
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