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Jochen Oltmer ist Professor für Migrationsgeschichte an der Universität Osnabrück. Wie bewertet er die aktuellen Debatten zum Thema Einwanderung?
Bild: Apl. Prof. Dr. Jochen Oltmer von Michael Gründel, NOZ
Bild: Armando Rodrigues de Sá (l.) bei seinem Empfang als millionster Gastarbeiter in Köln von picture alliance/dpa/Ossinger
FES: Kurz vor der Weihnachtspause hat die große Koalition den Referentenentwurf für ein Fachkräfteeinwanderungsgesetz im Kabinett abgestimmt. In diesem Jahr geht der Entwurf zur Beratung ins Parlament und soll zur Mitte des Jahres abgestimmt und dann beschlossen werden. Ganz abgesehen von den konkreten Inhalten, wie bewerten Sie als Migrationshistoriker die Tatsache, dass Deutschland bald ein Gesetz bekommen soll, das die Einwanderung von Arbeitskräften regelt?
Jochen Oltmer:
Gesetze und Verordnungen, die die Einwanderung von Arbeitskräften regeln, sind ja so neu nicht. In Deutschland gibt es eine lange Tradition, die 1919 beginnt – auch ein Jubiläum also. Damals wurde der sogenannte Inländervorrang eingeführt, der dem aktuellen Entwurf für ein Fachkräfteeinwanderungsgesetz zufolge für solche Migrantinnen und Migranten, die eine berufliche Qualifikation nachweisen können, nicht mehr gilt. Auch auf diese Weise sollen die Hürden für die Zuwanderung von Fachkräften gesenkt werden. Vor allem drei Punkte scheinen mir im Blick auf das Einordnen des Gesetzesvorhabens wichtig zu sein:
1. Ohne Zweifel erkennt man angesichts einer nun schon beinahe 20 Jahre lang laufenden Diskussion über Fachkräftemangel und demographischen Wandel eine Öffnung gegenüber der Zuwanderung qualifizierter Kräfte. Sie setzte mit der Green-Card-Initiative Bundeskanzler Schröders im Jahre 2000 ein – bzw. lässt sich schon länger beobachten, wenn man sich vor Augen führt, dass ja auch die Freizügigkeit innerhalb der Europäischen Gemeinschaft/Europäischen Union vor allem auf Arbeitskräfte ausgerichtet ist. Mit dem Fachkräfteeinwanderungsgesetz wird nun ein weiterer Mosaikstein in das Feld der Einwanderungsgesetzgebung gefügt.
Die vielfach diskutierte Reform der Einwanderungsgesetzgebung – also das Bemühen, die in den verschiedensten Gesetzbüchern über die Jahrzehnte niedergelegten Regelungen abzugleichen und zusammenzuführen – ist das ganz gewiss nicht. Dabei wäre ein solches Reformvorhaben durchaus nötig: Kaum noch jemand durchschaut das Regelungskonstrukt, das mehr als 80 verschiedene Aufenthaltszwecke in der Bundesrepublik vorsieht. Das ist sicherlich nicht das, was auch im politischen Berlin als "modernes" Einwanderungsgesetz diskutiert wird.
2. Ein Fachkräfteeinwanderungsgesetz bleibt dann belanglos, wenn nicht die Anerkennung beruflicher Qualifikationen rascher und problemloser als bislang möglich wird. Bekanntlich laufen Berufsausbildungen in anderen Ländern erheblich anders als in Deutschland. Der Gesetzentwurf fordert den Nachweis von Qualifikationen, und sie werden in aller Regel nicht dem entsprechen, was in Deutschland als Ausbildung gilt. Das Anerkennungsgesetz von 2012 hat sich zwar durchaus als erfolgreich erwiesen, aber an der nötigen Flexibilität in der Anerkennungspraxis fehlt es auch weiterhin.
3. Es stellt sich die Frage, woher die Fachkräfte von außerhalb der EU kommen sollen, die mit dem Gesetz gemeint sind. Wir sehen, dass es weltweit einen Mangel an Fachkräften gibt und aus diesem Grund die globale Konkurrenz um Fachkräfte wächst. Vor allem im Bereich der Pflege ist der weltweite Mangel eklatant – und das Abwerben von Pflegekräften aus anderen, weniger wohlhabenden Gesellschaften wird den dortigen Mangel an häufig mit Steuergeldern ausgebildeten Fachkräften noch verstärken. Will die Bundesrepublik also erfolgreich um Fachkräfte werben, muss sie in Kooperation mit potentiellen Herkunftsländern treten. Und es gilt gemeinsam mit anderen Staaten darüber nachzudenken, wie das Problem des Fachkräftemangels insgesamt angegangen werden kann und welche Standards für die Anwerbung gelten sollen. Der Wettbewerb um Fachkräfte darf am Ende nicht zulasten der ärmeren Gesellschaften weltweit gehen. Ausbildungspartnerschaften scheinen mir hier eine gute Möglichkeit zu sein.
Ende letzten Jahres haben die Vereinten Nationen den Globalen Migrationspakt und Globalen Flüchtlingspakt angenommen. Mit der Umsetzung ab 2019 will die Staatengemeinschaft die globale Migration in sichere, geordnete und reguläre Bahnen lenken und bei großen Flüchtlingsbewegungen schnell humanitär reagieren können. Wie beurteilen Sie die beiden Pakte vor dem Hintergrund der Entwicklung der internationalen Flüchtlings- und Migrationspolitik der letzten Jahrzehnte? Sind sie ein Meilenstein oder doch nur zahnloser Tiger?
In beiden Fällen handelt es sich um Willensbekundungen und Gesprächsanlässe. Das heißt: Es kommt darauf an, ob und inwieweit es gelingt, in den nächsten Jahren für einzelne Punkte zu verbindlichen Abkommen zu gelangen. In der Tat haben wir ja eine bemerkenswerte Debatte in den vergangenen Wochen erlebt: Von allen Seiten ist betont worden, dass beide Übereinkommen nicht verpflichtend seien und keineswegs in die nationale Autonomie eingreifen würden. Aber müssten nicht gerade die Bundesrepublik und andere Staaten in Europa an verpflichtenden Regelungen interessiert sein? Drei Punkte halte ich für wichtig:
1. Eine Aufgabe des Übereinkommens zur Migration besteht darin, die zum Teil schon lange bestehenden völkerrechtlich verbindlichen Regelungen im Feld zusammenzufassen. Auf welche Weise aber kann es gelingen, einen Beitrag zu leisten, dass sie eingehalten werden? Man denke etwa an die Regelungen zur Garantie fairer Arbeitsverhältnisse von Migrantinnen und Migranten, zur Vermeidung von Staatenlosigkeit, zur Entwicklung von sicheren Rückkehrmöglichkeiten oder zur Beseitigung von Diskriminierung. Klar ist, dass nur ein kleiner Teil der Staaten weltweit dieses geltende Recht einhält – und selbst in den reichen Staaten, einschließlich der Bundesrepublik, ist die Einhaltung mancher dieser Standards kritisch.
2. Wenn denn schon die bestehenden Regelungen häufig genug nicht eingehalten werden, wie soll es dann gelingen, neue Standards zu setzen? Beide Übereinkommen sind bekanntlich darauf ausgerichtet, die Kooperation der Staaten zu fördern. Mir scheinen im Moment die Voraussetzungen für mehr Multilateralismus nicht gegeben zu sein. Und wenn denn heute Zusammenarbeit erfolgt, dann bleibt die Ausrichtung einseitig: Die EU-Staaten beispielsweise kooperieren seit einigen Jahren intensiv im Feld der im Übereinkommen benannten »Bekämpfung der Schleusung«, um Bewegungen in Richtung Europa aufzuhalten und zu minimieren. Zugleich allerdings lassen sich in der EU aber keinerlei Fortschritte ausmachen im Hinblick auf die Frage der im Übereinkommen über die Flüchtlinge an zentraler Stelle genannten Teilung der Verantwortung bei der Aufnahme von Schutzsuchenden. Die Zukunft der internationalen Kooperation also wäre demnach: Staaten arbeiten zusammen, wenn sie einen eigenen Vorteil darin erkennen, als Gefährdung verstandene Zusammenhänge (hier: Schleusung) zu vermeiden. Geht es aber um einen als nationale Belastung geltenden Zusammenhang (hier: Aufnahme von Schutzsuchenden), ist es mit der Kooperation nicht weit her. Politische Rosinenpickerei also, wie es heute so schön heißt.
Nur noch ein Wort zum Übereinkommen zu Flüchtlingen: Für sehr positiv halte ich, dass hier ein Bemühen erkennbar ist, die globale Flüchtlingsfrage neu und umfassend zu denken. Ein vielfältiges Aktionsprogramm unter Berücksichtigung zahlreicher Akteure ist entwickelt worden, das eine gute Grundlage für die Diskussionen der kommenden Jahre darstellt. Vertan worden ist allerdings die Chance, Vorschläge für die Stärkung des Flüchtlingshochkommissars der Vereinten Nationen (UNHCR) zu machen: Bekanntlich verfügt das Amt nicht über reguläre Mittel, um Schutzsuchende weltweit zu unterstützen und möglichst frühzeitig Hilfe dort zu leisten, wo neue Fluchtbewegungen auftreten. Es ist vielmehr seit jeher auf Spenden und freiwillige Beiträge angewiesen, die in den vergangenen Jahren immer zu niedrig lagen. Das heißt also: Ein Instrument um aktiv, vielleicht sogar in der einen oder anderen Hinsicht proaktiv Unterstützung für Schutzsuchende zu leisten, steht im Prinzip zur Verfügung, wird aber an einer effektiven Arbeit gehindert. Und warum? Weil die Mitgliedsstaaten der UN nicht bereit sind, einen regulären Haushalt für das Amt zur Verfügung zu stellen.
Aus der Geschichte lässt sich bei genauer Analyse viel lernen. Gibt es aus Ihrer Sicht Beispiele der jüngeren Zeit, die zeigen, dass die Politik beim Thema Einwanderung dazu gelernt hat?
Die Reform des Staatsangehörigkeitsgesetzes im Jahr 2000 hat gewiss die Möglichkeiten der Teilhabe von Eingewanderten in der Bundesrepublik Deutschland verbessert. Es hat außerdem mit dazu beigetragen, dass heute vielfach anerkannt wird, dass die Bundesrepublik ein Einwanderungsland ist. Zweifellos ist das Thema Einwanderung weiterhin hochumstritten, es wühlt emotional auf, ist deshalb mit einem hohen politischen Mobilisierungspotential verbunden und lässt sich ausgezeichnet für andere politische Zwecke instrumentalisieren. Dennoch aber wird heute über das Thema mehrheitlich anders gesprochen und wird es politisch anders bearbeitet als noch in den 1980er und 1990er Jahren.
Allerdings: Weiterhin gilt, und damit komme ich noch einmal auf die beiden ersten Fragen zu sprechen, Migration vor allem als ein nationales Politikfeld. Dabei wissen wir längst, dass sich ein guter Teil der das Thema Migration betreffenden Fragen nur über die Zusammenarbeit von Staaten angehen lässt. Ein Beispiel hierfür ist die schon erwähnte Anwerbung von Fachkräften, die uns in den kommenden Jahren ganz gewiss intensiv beschäftigen wird. Ohne einen Ausgleich der jeweiligen Interessen von Herkunfts- und Zielländern können wir aber hier keine neuen Perspektiven erwarten.
Wir danken Ihnen für das Gespräch!
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