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Magdalena Kirchner, Leiterin des FES-Büros Afghanistan, gibt im Interview ein Update zur aktuellen Situation.
Nach der Veröffentlichung des Interviews mit Ihnen am 13. August 2021 hat sich die Situation in Afghanistan dramatisch zugespitzt. Damals stand Kabul kurz vor dem Fall. Mittlerweile haben die Taliban das Land fast vollständig eingenommen. Wie haben Sie die letzten vier Wochen erlebt?
Sie haben es angedeutet, innerhalb von vier Wochen hat sich unsere Arbeit komplett verändert. Gleichzeitig war es ein arbeitsamer und anstrengender Monat. Wir mussten nach der Flucht des Präsidenten Ashraf Ghani am 15.08. und dem Kollaps der Banken und der öffentlichen Verwaltung unser Büro in Kabul erst einmal schließen und haben unsere Versuche, die Mitarbeiter_innen bei der Ausreise zu unterstützen, intensiviert. Gleichzeitig hat der Fall Kabuls natürlich auch enorme politische Konsequenzen gehabt, die auch zu vielen Anfragen von Medien und Partner_innen aus der Politik in Berlin und Brüssel geführt haben.
Die Taliban wollen ihr altes Image ablegen und deutlich fortschrittlicher wirken. Gemessen an ihren Taten in den letzten vier Wochen, in welchen Punkten lässt sich das tatsächlich beobachten?
Die Taliban stehen noch ganz am Anfang ihrer Machtkonsolidierung, doch es ist schon jetzt absehbar, dass lokale Gegebenheiten auch die Ausprägung ihrer Herrschaft in unterschiedlichen Landesteilen beeinflussen werden. Die ersten Wochen bis zum Ende der Evakuierungen haben sie sich in Kabul sehr vorsichtig gegeben und orientieren müssen. Die Taliban sind sich der weltweiten Aufmerksamkeit sehr bewusst. In den letzten Tagen hat sich das Blatt jedoch gewendet. In der neuen Regierung, die alles andere als inklusiv ist, sitzen viele Taliban der alten Garde – darunter ein Bildungsminister, der unlängst verlautbaren ließ, dass Universitätsabschlüsse nutzlos seien. Obwohl sie wissen, dass gerade von den westlichen Staaten aber auch von weiten Teilen der afghanischen Gesellschaft eine Öffnung erwartet wird, herrscht wohl auch die Sorge, durch zu starke Kompromisse Konflikte in den eigenen Reihen herbeizuführen. Im Umgang mit Protesten, insbesondere der afghanischen Frauen, die in den letzten Tagen auf die Straße gegangen sind, um auf ihre Situation aufmerksam zu machen, zeigen sich die Taliban dünnhäutig und zunehmend brutal. Die Gewalt gegen Protestierende und afghanische Journalist_innen nimmt zu. Eine von ehemaligen Regierungsmitgliedern angeführte Revolte im Pandschir Tal haben die Taliban nach eigenen Angaben gewaltsam niedergeschlagen.
Die Ortskräfte der Friedrich-Ebert-Stiftung sowie ihre engen Angehörigen konnten das Land verlassen. Wie ist es gelungen sie aus dem Land zu bringen?
Wir hatten wie andere Organisationen gehofft, sie mit einem der Evakuierungsflüge der Bundesregierung aus Kabul herausbringen zu können. Doch schon nach wenigen Tagen wurde uns klar, dass die Situation am Flughafen eine echte Lebensgefahr für unser Team darstellt. Einige hatten auch kleinere Kinder bei sich. Wir brauchten also Alternativen. Da die politischen Stiftungen im Gegensatz zu anderen Durchführungsorganisationen in Afghanistan zu den kleinen Playern gehören, haben wir uns mit der Konrad-Adenauer-Stiftung zusammengetan und gemeinsam Optionen abgewogen. Die Suche nach einem sicheren Fluchtweg hat sich allerdings hingezogen und ich bin dankbar, dass unsere Ortskräfte in dieser enorm stressigen Situation die Nerven bewahrt und uns vertraut haben. Letztlich ist es uns mit Glück und der Unterstützung helfender Hände in Berlin, Kabul und Islamabad gelungen, unsere Ortskräfte Ende August auf dem Landweg aus Afghanistan zu bringen. Ein echter Glücksfall ist auch unser FES-Büro in Pakistan, das die afghanischen Kolleg_innen und ihre Familien in einer wirklich schwierigen Situation in Empfang genommen, bei allen Besorgungen unterstützt und begleitet und bis zur Ausreise nach Deutschland mit großer Gastfreundschaft betreut hat.
Viele andere Afghan_innen wollen ebenfalls nicht in einem Afghanistan unter Talibanherrschaft bleiben. Welche Möglichkeiten haben sie aktuell das Land zu verlassen?
Wir bekommen natürlich von Partner_innen, aber auch privaten Kontakten und aus dem Umfeld unserer Mitarbeiter_innen mit, dass viele Afghan_innen das Land so schnell wie möglich verlassen wollen. Bisher gibt es noch nicht allzu viele Anzeichen dafür, dass die Taliban Menschen aktiv an der Ausreise hindern, dennoch sind die Hürden enorm hoch. Viele Botschaften sind geschlossen, andere vergeben keine Visa an Afghan_innen, die keine Aufnahmezusage aus einem Drittstaat wie Deutschland haben. Auch an den Grenzen gibt es kein Durchkommen. So kam es beispielsweise an der pakistanischen Grenze auch schon zu gewaltsamen Zusammenstößen zwischen Afghan_innen und Grenzern mit mehreren Toten. Die Verzweiflung der Menschen wird zum lukrativen Geschäft für Schlepper, aber auch für die Taliban, die gerade Afghan_innen für die sich der Westen verantwortlich sieht, als Verhandlungsmasse einsetzen können.
Wie wird sich die Flucht dieser Afghan_innen auf die verbleibende Gesellschaft auswirken? Wer geht und wer bleibt?
Afghanistan in diesen Tagen zu verlassen, gelingt vor allem über Kontakte, Netzwerke und finanzielle Ressourcen, über die vor allem Mitglieder der Oberschicht verfügen. Gleichzeitig haben auch viele Vertreter_innen der Zivilgesellschaft, Medienmacher_innen, Regierungsmitarbeiter_innen und Mitarbeiter_innen von Botschaften und internationalen Organisationen das Land verlassen. Ob und inwieweit die Taliban diese Lücke schließen werden können, um beispielsweise das Gesundheits- und Bildungswesen oder die öffentliche Verwaltung aufrechtzuerhalten, ist derzeit noch unklar, insbesondere was weibliche Fachkräfte angeht. Sollte es zu einer raschen Konsolidierung der Regierung kommen, ist denkbar, dass einige Menschen aus der Diaspora auch wieder zurückkehren werden. Gleichzeitig sind viele Familien in Afghanistan davon abhängig, dass die Taliban Heimatüberweisungen der Geflohenen aus dem Ausland zulassen.
Flucht und Migration sind keine neuen Phänomene für Afghanistan. Laut UNHCR umfasst die afghanische Diaspora rund 5 Millionen Menschen. Die meisten leben in Pakistan und in Iran. Viele mittlerweile auch in der Türkei. In Deutschland lebten laut Ausländerzentralregister 2020 rund 270.000 Menschen afghanischer Staatsbürgerschaft. Viele von ihnen versuchen gerade, ihre Familienangehörigen aus dem Land zu bekommen. Was raten sie diesen Menschen? An welche Stellen können sie sich wenden, um Informationen zu bekommen.
Afghan_innen, die einen deutschen Aufenthaltstitel haben und afghanische Ortskräfte deutscher Institutionen, die als besonders gefährdet gelten, sollten sich direkt an das Auswärtige Amt bzw. die deutsche Botschaft wenden. Die Botschaft in Kabul ist zwar geschlossen, aber Visaverfahren in den Nachbarstaaten sollen vereinfacht werden, um dann die Ausreise nach Deutschland zu ermöglichen. Auch die Familienzusammenführung kann eine Möglichkeit sein, afghanische Staatsbürger_innen nach Deutschland kommen zu lassen. So ein Antrag kann aber nur von einer bereits in Deutschland befindlichen Person mit anerkanntem Asyl- bzw. Fluchtstatus gestellt werden. Auch ist die Familienzusammenführung nur für die Kernfamilie, also Ehepartner_in und eigene minderjährige Kinder, möglich.
Inwiefern die Taliban afghanische Staatsbürger_innen, die in Afghanistan sind, ausreisen lassen, ist weiterhin unklar. Zwar ist es in den letzten Tagen gelungen, einen ersten Evakuierungsflug mit Genehmigung der neuen Taliban-Regierung zu organisieren, für nicht-Afghan_innen und Inhaber_innen von Green-Cards. Ob sich das in den kommenden Wochen auch auf afghanische Staatsangehörige ausweiten lassen wird, hängt auch von den künftigen Beziehungen zwischen Taliban und der internationalen Gemeinschaft ab.
Für diejenigen, die rechtliche Beratung benötigen, ob und wie sie ihre Angehörigen nach Deutschland bringen können, bieten Menschenrechtsorganisationen wie ProAsyl, die Flüchtlingsräte in den einzelnen Bundesländern und Kommunen oder auch die Refugee Law Clinics in Deutschland Unterstützung an.
Die FES war seit 2002 in Afghanistan und hat hier mit der entstehenden Zivilgesellschaft im Sinne einer demokratischen und sozial gerechten Entwicklung des Landes zusammengearbeitet. Wie kann diese Arbeit in einem Land unter Herrschaft der Taliban fortgesetzt werden?
Aktuell richten wir uns erstmal auf eine längere Phase der Projektfernsteuerung ein, wie die FES es ja beispielsweise auch für Libyen oder den Irak praktiziert. Ob und wie wir weiter in Afghanistan arbeiten können, hängt einerseits von der Zukunft der deutschen Entwicklungszusammenarbeit ab. Welche Rechtssicherheit hätte unsere Arbeit dort, wie können Projektmittel ins Land kommen, wie umgesetzt werden? Andererseits müssen wir davon ausgehen, dass die neue afghanische Regierung zivilgesellschaftlichen Aktivitäten weitaus kritischer und misstrauischer gegenüberstehen wird und mit deutlich mehr staatlicher Repression oder sogar Gewalt zu rechnen ist. Diesen eher pessimistischen Aussichten steht natürlich die Überzeugung gegenüber, dass gerade die Frage der sozialen Gerechtigkeit und Teilhabe in einem wirtschaftlich schwachen Staat wie Afghanistan von enormer Bedeutung ist und auch eine Talibanregierung ein Interesse an der sozialen Befriedung des Landes und einem Ausgleich der Interessen haben sollte, wenn sie die Transformation von der Aufstandsbewegung zur Regierung erfolgreich bestehen will.
Wir danken Ihnen für das Gespräch!
Dr. Magdalena Kirchner
leitet das Büro der Friedrich-Ebert-Stiftung in Afghanistan.
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