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In Zeiten steigender sozialer Ungleichheit sollte die EU umdenken und sozialpolitische Ziele den rein wirtschaftlichen voranstellen.
Bild: EU von Derek Bridges lizenziert unter CC BY 2.0
Ist EU-Verdrossenheit eine Folge von, oder Grund für die derzeitige Stagnation, gar das zuweilen erwartete Ende europäischer Integration? Engere Kooperation in Kernbereichen europäischer Politik wie Terrorismus, der Flüchtlingsfrage, der Sicherung der Außengrenzen, finanzpolitischer Schwierigkeiten sowie neuer sicherheitspolitischer, internationaler Herausforderungen erscheint einerseits als plausible Lösung – größere Handlungsfähigkeit durch eine Stimme. Andererseits ist es gerade diese Art von engerer Zusammenarbeit, die von vielen als Grund für den Unmut gegenüber der EU gesehen wird.
Die Beteiligung an Europas einzigem wirklichen Instrument aktiver Bürgerbeteiligung, die Wahlen des Europäischen Parlaments, sinkt seit dessen Anfängen 1979 kontinuierlich von zunächst knappen 70 Prozent auf zuletzt 43,1 Prozent im Jahre 2014. Bürger_innen einiger EU-Mitgliedstaaten sehen mehr Nachteile als Vorzüge der Union. Das könnte auch daran liegen, dass die Ungleichheit innerhalb der EU immer weiter zunimmt.
Laut dem ehemaligem Präsidenten der EU-Kommission und Gründungsvater der EU-Maastrichtverträge, Jacques Delors sollte der Binnenmarkt von sozialpolitischen Komponenten begleitet werden. Angesichts weitflächiger Jugendarbeitslosigkeit und EU-gesteuerter Austeritätspolitik sind diese jedoch augenscheinlich vernachlässigt worden. Dies beleuchten auch verschiedene Expert_innen der Sozialpolitik in der jüngsten Ausgabe des Berichts „Politik für Europa und Thüringen“ des dortigen FES-Büros. Dr. Babette Winter, Staatssekretärin für Kultur und Europa in der Thüringer Staatskanzlei ist der Ansicht, dass der Brexit eine Chance sein kann, dass man sich hierzulande der Vorteile der Union bewusster wird.
In der Tat scheint an dem Gedanken etwas dran zu sein: Kurz nach dem Brexit-Votum sahen die Deutschen die europäische Union etwas positiver als eine ganze Weile zuvor. Winter sieht lokale Bürgerbeteiligung als einen Weg hin zu einem besseren EU-Verständnis und erreicht dies in Thüringen beispielsweise durch Planspiele für Jugendliche und Informationskampagnen zu Projekten, welche durch die Union gefördert werden.
Allerdings attestieren alle sozialpolitischen Expert_innen im FES-Bericht der EU ein chronisches Defizit – die sozialpolitische Dimension der EU. Der Ökonom und Europaabgeordnete Jakob von Weizsäcker fordert mehr europäische Solidarität ein, die sich seiner Ansicht nach in Form einer europäischen Arbeitslosenrückversicherung ausdrücken könnte, bei gleichzeitiger positiver Impulssetzung für nationale Arbeitsmärkte. Denn von Weizsäcker sieht den Grund für mangelnde europäische Solidarität nicht in vermeintlichen kulturellen Unterschieden, sondern vielmehr bedingt durch qualitativ verschiedene Renten-, Gesundheits- und Ausbildungssysteme in den Mitgliedstaaten.
Der emeritierte Professor für Sozialrecht und bürgerliches Recht an der rechtswissenschaftlichen Fakultät der Friedrich-Schiller-Universität Jena merkt an, dass die EU in ihren Verträgen sehr wohl Grundbedingungen für eigene sozialpolitische Kompetenzen geschaffen hat. Diese seien jedoch diffus als teils unterstützend, teils in geteilter Zuständigkeit mit EU-Mitgliedstaaten festgehalten – der Binnenmarkt hingegen unterliege klar der EU-Ebene. Somit ist auch der Vorwurf verständlicher, den Susanne Wixforth, Referatsleiterin der Abteilung internationale und europäische Gewerkschaftspolitik beim DGB, der EU macht: Sozialpolitik wurde von der EU-Kommission stets wirtschaftlichen Zielen untergeordnet. Sie plädiert daher dafür, die Prioritäten genau umzukehren, sowie erklärte Absichten für mehr Sozialpolitik durch einklagbare Arbeitnehmerrechte zu ersetzen. Es geht um nicht weniger als die Glaubwürdigkeit der Union.
Ansprechpartnerin in der Friedrich-Ebert-Stiftung:
Eva Nagler
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