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Zurzeit bestimmen rechtspopulistische Bewegungen in Europa die Wahlkampfagenden. Wie kann die europäische Sozialdemokratie ihnen wieder einen Schritt voraus sein, statt ihren Provokationen nachzuschauen?
Bild: Ulysses and the Sirens von Otto Greiner lizenziert unter Public Domain
Einige Beobachter_innen sehen den „Schulz-Effekt“, der der SPD im Handumdrehen viele neue Mitglieder und unerreichbar geglaubte Umfragewerte verschafft hat, schon wieder abklingen. Telegene Persönlichkeit alleine trägt nicht ins Kanzleramt, die politischen Substanz muss in den Mittelpunkt gerückt werden. Nach 16 Jahren Helmut Kohl war es der nicht weniger charismatische Gerhard Schröder, der die Sozialdemokratie mit neoliberalen Ideen versöhnen wollte und sie mit der Agenda 2010 auf Tony Blairs „Dritten Weg“ führte. Aber Gerechtigkeitsdebatten, empörte Gewerkschaften, die Abspaltung der Linken und Wahlniederlagen brachten der SPD seitdem existentielle Krisen und schließlich Angela Merkels CDU die Dividenden der Reformen.
Nach 12 Jahren Merkel und der Sozialdemokratisierung der CDU steht die SPD wieder am Scheideweg. Die Ungleichheit in Deutschland steigt, obgleich diese Entwicklung durchaus differenziert bewertet werden sollte, wie der soeben erschienene Armuts- und Reichtumsbericht von Bundesarbeits- und Sozialministerin Andrea Nahles belegt. Martin Schulz will einen Gerechtigkeitswahlkampf führen, was auch deswegen notwendig ist, weil viele Bürger_innen Deutschland als zunehmend ungerecht empfinden. Auffällig sind auch die regionalen Unterschiede, wie die Studie "Ungleiches Deutschland", die vor Kurzem bei der Friedrich-Ebert-Stiftung erschienen ist, zeigt: Trotz guter Konjunktur der vergangenen Jahre profitieren längst nicht alle Regionen vom Wachstum. Die regionale Ungleichheit verfestige sich oder nehme sogar noch zu. Einzelne Regionen - gerade im Osten, aber auch im Norden - befänden sich in einem Teufelskreis aus Verschuldung, Arbeitslosigkeit und Abwanderung.
Rechtspopulistische Bewegungen verknüpfen Verteilungsfragen mit Identitätsdebatten und Demokratiekritik und treiben so den politischen Diskurs in Europa vor sich her. Dieser Verknüpfung entgegen zu wirken, ist eine Herausforderung und zugleich eine Pflicht der europäischen Sozialdemokratie. Populismusexperten aus ganz Europa diskutierten Ende März auf Einladung der Friedrich-Ebert-Stiftung in Berlin, wie die europäische Sozialdemokratie die politische Initiative zurückgewinnen kann. Ihre gemeinsam erarbeiteten Lösungen stellten sie dann im Bundestag sozialdemokratischen Abgeordneten vor.
Insgesamt machen die Expert_innen Krisen der Verteilung, Identität und Repräsentation aus. Verteilungsfragen waren einmal sozialdemokratisches Kerngeschäft, sie sollen es wieder werden: mit Politik für „Arbeitsmarktaußenseiter“, für eine Umschichtung der Steuerlast hin zu den großen Einkommen und Vermögen, gegen internationale Steuerbetrug und gegen die Privatisierung öffentlicher Dienstleistungen. Soziale Konflikte, aber auch Identitätsbegriffe wie Patriotismus, Heimat oder Klasse sollen von Sozialdemokrat_innen nicht gescheut, sondern progressiv umgedeutet werden. So müssten in Europa Gemeinschaften und inklusive Identitäten für alle angeboten werden, die ähnliche Alltagssorgen haben. Mediale Möglichkeiten sollen dabei voll ausgeschöpft werden, um insbesondere Benachteiligten zuhören und eine Stimme geben zu können – Anhänger_innen populistischer Bewegungen dürfen nicht als Außenseiter_innen gebrandmarkt werden. Dabei müsse aber klar werden, dass populistische Bewegungen nicht „das Volk“ repräsentieren und die Sozialdemokratie sich deutlich von ihnen absetzt. So schwierig diese Balance erscheint – sie ist möglich und der Versuch ist unbedingt notwendig, um die Risse in der Gesellschaft nicht noch größer werden zu lassen. Denn US-amerikanische Verhältnisse sollten tunlichst verhindert werden.
Der gemeinsame Tenor der vorgeschlagenen Strategien zu den drei Krisen ist:
- die Glaubwürdigkeit der Populisten angreifen,
- ihre Politik, nicht ihre Anhänger_innen, bloßzustellen
- und die Folgen ihrer Politik aufzuzeigen.
Die postfaktische Umgebung von „Lügenpresse“, „Fake News“, Filterblasen meinungsbestärkenden Medienkonsums und der Wahrnehmung politischer und medialer Eliten als „Volksverräter“ macht das nicht einfacher. Zu Blairs und Schröders Zeiten hat sich die Sozialdemokratie vielerorts in Europa in die Mitte bewegt, auch, weil Bürger_innen mit niedrigen Einkommen kaum wählen gingen. Wenn die ihre Stimme in krisenreicher Zeit wiederentdecken und sich von populistischen Bewegungen umgarnen lassen, darf die Sozialdemokratie einen Fehler nicht wiederholen: Damals ist sie über die Stöckchen gesprungen, die der neoliberale Zeitgeist ihr hingehalten hat. Jetzt darf sie nicht über die Stöckchen der Populisten springen, sondern muss für ihre Werte und für Europa einstehen. Hinterherrennen ist weder moralisch noch taktisch klug: Denn das Original wird immer lieber gewählt als die Kopie.
Ansprechpartnerin in der Stiftung:
Freya Grünhagen
Ansprechpartner für die Publikation "Ungleiches Deutschland":
Dr. Philipp Fink
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