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„Wer schweigt stimmt zu“ steht auf der Wand eines Supermarkts in Rostock. So berichtet es die gewerkschaftliche Funktionärszeitschrift „Die Quelle“ in ihrer Ausgabe vom Oktober 1992. Der Spruch bezieht sich auf das Pogrom in Rostock-Lichtenhagen, das im August jenes Jahres die Bundesrepublik erschüttert. Mehrere Tage lang greifen Neonazis und gewaltbereite Rassist:innen unter dem Beifall tausender Bürger:innen Migrant:innen an und bedrohen sie mit dem Tod. Das Rostocker Pogrom wird zum Fanal für rassistische Gewalt in den frühen 1990er-Jahren und zur Chiffre für das Versagen des Staates, Migrant:innen davor zu schützen. „Wer schweigt stimmt zu“ – dieser Slogan ist Ausdruck des Entsetzens über die brutale Gewalt, die unverhohlene Zustimmung und zugleich die Aufforderung, dem entgegenzutreten. Neben anderen gesellschaftlichen Gruppen engagieren sich auch die Gewerkschaften gegen rassistische Gewalt.
Die Bilder des Sonnenblumenhauses in Rostock-Lichtenhagen, dem Ort des Geschehens, gingen um die Welt. In dem Gebäude mit dem berühmten Blumenmosaik befand sich den 1980er-Jahren ein Wohnheim für Vertragsarbeiter:innen aus Vietnam und seit 1990 zudem die Zentrale Aufnahmestelle für Asylbewerber (ZAST) in Mecklenburg-Vorpommern. Die Kapazitäten der Rostocker ZAST waren seit Längerem überlastet: Asylbewerber:innen mussten auf der Wiese vor dem Haus kampieren, es herrschten katastrophale hygienische Zustände. Die zuständigen Politiker:innen und Behörden taten lange nichts dagegen und trugen so zur Verschärfung der Lage bei. Die Geflüchteten wurden alleingelassen und zugleich wuchs der Unmut von Anwohner:innen des Viertels.
Am 22. August sammelten sich Neonazis und gewaltbereite Rassist:innen vor der Aufnahmestelle, warfen Steine auf das Haus und riefen den rechtsextremen Slogan jener Jahre: „Deutschland den Deutschen – Ausländer raus“. In den folgenden Tagen setzte die Menge ihre Angriffe mit Steinen und Brandsätzen gegen das Haus und später auch gegen die Polizei fort. Bis zu 3.000 Menschen beobachteten die gewalttätigen Übergriffe, johlten und applaudierten. Erst am dritten Tag wurden die Asylbewerber:innen evakuiert. Obwohl sich die gewaltbereite Menge weiterhin vor dem Sonnenblumenhaus befand, zog sich die Polizei zurück.
Der rassistische Hass der Angreifenden richtete sich nun gegen die im Haus verbliebenen Vietnames:innen. Molotowcocktails schlugen in mehreren Wohnungen ein, das Haus, in dem sich noch etwa 150 Personen, darunter der Ausländerbeauftragte der Stadt Rostock und ein Kamerateam des ZDF befanden, brannte. Die Menschenmenge vor dem Haus hinderte die Feuerwehr am Löschen des Brandes. Nur aus eigener Kraft konnten die Eingeschlossenen den Flammen über das Dach entkommen und wurden schließlich evakuiert.
Die Gewalt begann keineswegs in Rostock-Lichtenhagen, sondern reihte sich ein in eine ganze Welle von rassistischen Anschlägen in den frühen 1990er-Jahren. Schon das Pogrom im sächsischen Hoyerswerda im Herbst 1991 sowie weitere rassistische Übergriffe auf Einzelpersonen markierten eine Verschärfung der Lage.
Der Rassismus trat sowohl in Ost- als auch in Westdeutschland auf. Im Osten entstand durch den politisch-gesellschaftlichen Umbruch im Zuge der deutschen Einheit eine besondere Situation, die das Erstarken des Rechtsextremismus ermöglichte: Krise und Umbruch der Institutionen, Arbeitslosigkeit und ein in der DDR unter dem Mantel der „Völkerverständigung“ gedeckelter Rassismus waren einige der Gründe.
In Westdeutschland hatte sich in den 1980er-Jahren der Rassismus gegen Türk:innen und Asylbewerber:innen verschärft, der auch durch die Debatte über die Einschränkung des Asylrechts angeheizt wurde. Rechtsextreme Parteien, Boulevardmedien und konservative Politiker:innen verbreiteten die rassistisch geprägten Stereotype von Asylbewerber:innen, die sich Sozialleistungen erschleichen würden. Die immer wieder bemühten Darstellungen von flüchtenden Menschen als Flutwellen oder Masse, die ein Boot zum Kentern bringen könne („Das Boot ist voll“), ließen hilfesuchende Menschen als Bedrohung erscheinen.
Die Asyldebatte prägte auch den Diskurs in der vereinigten Bundesrepublik. Zwar stiegen die Geflüchtetenzahlen etwa wegen des Zuzugs von deutschen „Spätaussiedlern“ aus der ehemaligen Sowjetunion oder wegen Menschen, die vor den Kriegen aus dem ehemaligen Jugoslawien flüchteten, aber erst die medial geschaffenen Bedrohungsszenarien verschärften die Stimmung maßgeblich und verschoben in der Wahrnehmung der Bevölkerung die Relevanz des Themas: In Umfragen gaben Befragte zwischen Juni 1991 und Juli 1993 die Themen „Asyl/Ausländer“ als wichtigstes „Problem“ an, noch vor damals virulenten Fragen wie „Arbeitslosigkeit“ oder die „Deutsche Einheit“.
Das Pogrom von Rostock-Lichtenhagen wirkte als Fanal. Danach nahmen die gewalttätigen Angriffe auf Migrant:innen massiv zu. Bei zwei der schlimmstenn Angriffe der deutschen Nachkriegsgeschichte ermordeten Rechtsextreme in Mölln und Solingen acht Menschen, weitere wurden zum Teil schwer verletzt. Jeweils nachts attackierten die Täter die Wohnhäuser der türkischen Familie Arslan in Mölln bzw. der Familie Genç in Solingen mit Brandsätzen. Insgesamt gab es in den Jahren 1991/92 mindestens 4.000 rechtsextreme Gewalttaten.
Gegen die rassistische Gewalt jener Zeit gründeten sich zahlreiche gesellschaftliche Bündnisse und Hunderttausende Menschen protestierten bei „Lichterketten“ und Demonstrationen gegen Rassismus. Die Demonstrationen verdeutlichten, dass die rassistischen Gewalttäter:innen keineswegs eine Mehrheit der Bevölkerung hinter sich hatten. Die breite Beteiligung war Ausdruck des Entsetzens in der Gesellschaft über die tödlichen Angriffe. Viele meinten, dass nun jede:r die Stimme gegen ausländerfeindliche Übergriffe erheben müsse:
„Wer dazu Beifall spendet oder schweigt, macht sich mitschuldig und schürt den Fremdenhaß“. (Erklärung des Bündnisses für Vernunft Berlin-Brandenburg, 1992)
Der Slogan „Wer schweigt stimmt zu“ war nicht nur auf einem Rostocker Supermarkt zu lesen, sondern auch auf vielen Demonstrations-Transparenten jener Jahre. Er erinnerte auch an die Zeit des Nationalsozialismus, als so viele mitgemacht, applaudiert oder geschwiegen hatten.
An den breiten Bündnissen gab es aber auch Kritik, da einige derjenigen, die sich dort nun gegen die rechtsextreme Gewalt engagierten, den Hass mitgeschürt hatten durch die Debatte über den vermeintlichen „Asylmissbrauch“. Diese Kritik wurde noch lauter, als sich CDU/CSU, SPD und FDP im Dezember 1992 auf den sogenannten Asylkompromiss einigten. Im Juni 1993 veränderte dann eine Zweidrittelmehrheit der Abgeordneten des Deutschen Bundestages das Grundgesetz: Das Asylrecht wurde eingeschränkt und konnte von Geflüchteten nur noch geltend gemacht werden, wenn sie nicht über einen „sicheren Drittstaat“ nach Deutschland einreisten. Einige Politiker:innen behaupteten, mit der Einschränkung des Asylrechts könne man auch die rassistischen Gewalttaten verhindern. Dem lag die Annahme zugrunde, die Gewalt richte sich nur gegen vermeintliche „Armutsflüchtlinge“ und nicht gegen hier lebende Migrant:innen. Ignatz Bubis, von 1992 bis 1999 Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, widersprach deutlich:
„Die Hoffnung, daß sie [die Gewalttäter] sich durch eine Änderung des Artikels 16 Grundgesetz beruhigen ließen, war ein Irrtum. Ich habe, seit ich im Amt bin, davor gewarnt, eine Verknüpfung oder Verquickung zwischen der Gewalt und der Asyldiskussion herzustellen. […] Für mich war es kein Zufall, daß 48 Stunden nach der Annahme des Asylkompromisses gleichzeitig Gewalttaten in Solingen, Berlin, München, Cuxhaven, Hannover und Magdeburg passiert sind, weil die Gewalttäter schon deutlich machen wollten, daß es für sie diesen Unterschied nicht gibt.“ (Ignatz Bubis, Aus der Vergangenheit nichts gelernt? Antisemitismus in Deutschland, FES, 1993)
Auch die Gewerkschaften beteiligten sich von Anfang an an den Protesten. Am 25. August 1992, drei Tage nach Beginn des Pogroms, organisierte der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) Rostock eine erste Demonstration gegen die rechtsextremen Ausschreitungen, zu der allerdings nur 300 Menschen kamen. Auch zu der nächsten Demonstration am 27. August rief der DGB zusammen mit anderen Organisationen auf: Nun erschienen immerhin 6.000.
Bundesweit engagierten sich DGB und Einzelgewerkschaften gegen Rassismus und rechte Gewalt. Sie initiierten Bündnisse gegen „Fremdenfeindlichkeit“, organisierten Veranstaltungen, Konzerte und Demonstrationen und machten antirassistische Kampagnen und Bildungsarbeit. Zudem gab es vielfältige Initiativen auf lokaler und betrieblicher Ebene. Gerade nach den Morden von Mölln gab es hier viele Gedenk- und Protestveranstaltungen. In westdeutschen Betrieben im Organisationsbereich der IG Metall, wo es viele ausländische Beschäftigte gab, protestierten migrantische und deutsche Gewerkschafter:innen gemeinsam gegen Hass und rechtsextreme Gewalt.
Schon seit Mitte der 1980er-Jahre hatte es gewerkschaftliche Initiativen gegen den zunehmenden Rassismus in Westdeutschland gegeben. Das DGB-Jugendmagazin ran rief 1985 die Kampagne „Mach‘ meinen Kumpel nicht an“ aus. Daraus entstand ein gewerkschaftlicher Verein, der sich noch heute gegen Rassismus und Rechtsextremismus einsetzt. Die IG Metall forderte 1989 mit ihrer Unterschriftenaktion „Ja zum miteinander“ eine multikulturelle Gesellschaft und das kommunale Wahlrecht für Ausländer:innen.
Historisch gesehen war das Verhältnis der bundesdeutschen Gewerkschaften zu Migrant:innen ambivalent. In den 1950er-Jahren lehnten die Gewerkschaften die Anwerbeabkommen für Gastarbeiter:innen ab und begrüßten auch den Anwerbestopp von 1973. Mit der Zeit öffneten sie sich jedoch gegenüber den migrantischen Beschäftigten. Die Gewerkschaften setzten darauf, die ausländischen Kolleg:innen zu organisieren, auch weil diese in eigenen Arbeitskämpfen einige Erfolge erzielt hatten. Die anfängliche Ablehnung der „Gastarbeiter“ wurde nun vergessen. Die Zahl der Migrant:innen in den Gewerkschaften stieg, seit den 1980er-Jahren hatten sie hier eigene Vertretungen, auch wenn sie insgesamt auf der Funktionärsebene weiter unterrepräsentiert waren. Neben den antirassistischen Initiativen setzten sich die Gewerkschaften seit den 1980er-Jahren für eine Verbesserung der Lebensbedingungen von Migrant:innen ein und auch für mehr politische Rechte wie das kommunale Wahlrecht:
„Es ist unerträglich und mit den Grundsätzen einer demokratischen Gesellschaft unvereinbar, daß Menschen viele Jahre in einer Gesellschaft ihren Lebensmittelpunkt haben, ohne politisch mitgestalten, mitentscheiden und mitbestimmen zu können.“ (DGB Landesbezirk Berlin, August 1990)
Trotz des antirassistischen Engagements waren jedoch rassistische Einstellungen auch unter Gewerkschaftsmitgliedern vorhanden. Der DGB-Kreisvorsitzende von Rostock, Reinhard Knisch, ging sogar davon aus, dass auch Gewerkschaftsmitglieder das Pogrom begrüßt hatten. Zudem beklagten die Gewerkschaften, dass in den Betrieben bei Rassismus zu oft weggeschaut werde – auch von Betriebsräten. Deshalb riefen sie dazu auf, Rassismus im Betrieb entgegenzutreten, etwa rassistischen Witzen oder Schmierereien. Bei dem Streit um die Einschränkung des Asylrechts bezogen sie klar Stellung – obwohl ein Teil ihrer Mitglieder diese befürwortete: In Aufrufen, Plakaten und bei Demonstrationen setzten sie sich für die uneingeschränkte Erhaltung des Asylrechts ein.
Noch heute engagieren sich die Gewerkschaften und viele Gewerkschafter:innen gegen Rassismus. Zugleich ist unter ihnen weiterhin Rassismus vorhanden und sogar signifikant höher als bei Nichtgewerkschaftsmitgliedern. Zudem war rassistische Diskriminierung am Arbeitsplatz 2021 mit 37 Prozent der häufigste Diskriminierungsgrund, für Geflüchtete ist Rassismus ein zentraler Hinderungsgrund für die Integration in den Arbeitsmarkt wie eine Studie zeigt. Rassismus in der Arbeitswelt ist eine Dimension von Rassismus, die Mordserie des NSU, Halle und Hanau zeigen, dass Rassismus für Migrant:innen und rassifizierte Personen nach wie vor lebensgefährlich ist.
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