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Manuskript der Grundsatzrede des SPD-Vorsitzenden Lars Klingbeil bei der Tiergartenkonferenz der Friedrich-Ebert-Stiftung am 10. Oktober 2023 in Berlin. In der Aufzeichnung des Livestrams ab Minute 20:33.
+++ Es gilt das gesprochene Wort +++
I. EUROPA
Vor mehr als einem Jahr stand ich hier und habe eine Rede gehalten zur Zeitenwende und zum Aufbruch in eine neue außen- und sicherheitspolitische Ära. Das war wenige Monate nach Ausbruch des brutalen russischen Angriffskriegs auf die Ukraine. Ich habe davon gesprochen, dass wir als Reaktion auf die Neuordnung der Weltkarte Europa zum attraktivsten Zentrum in einer zunehmend multipolaren Welt machen müssen. Damals war meine Aussage auch, dass Deutschland dafür nach mehr Verantwortung streben müsse. Die Debatte drehte sich damals um den Begriff der Führungsmacht.
Seit der letzten Tiergartenkonferenz ist viel passiert. Europa stand die ganze Zeit geschlossenan der Seite der Ukraine. Hier und da gibt es erste Absetzbewegungen, auch wenn ich hoffe, dass diese nur dem Wahlkampf in Polen geschuldet sind. Die NATO ist stärker geworden: Finnland ist neues Mitglied, Schwedens Beitritt steht bevor und Dänemark hat sich der europäischen Zusammenarbeit im Verteidigungsbereich angeschlossen.
Manch hitzige Debatte hat die letzten Monate bestimmt. Über einzelne Waffensysteme, über den Umfang der deutschen und auch der europäischen Unterstützung. Es ist gut, dass wir engagiert diskutieren, reflektieren, hinterfragen, was wir besser tun können. Das muss in einer Zeitenwende auch so sein. Vieles muss neu ausgelotet werden. Ich wünsche mir aber manchmal, dass wir auch anerkennen, was wir gemeinsam hinbekommen haben, welch weiten Weg wir zurückgelegt haben.
Fakt ist: Die EU ist heute mit Abstand der größte Unterstützer der Ukraine. Rechnet man die militärische und finanzielle Unterstützung zusammen, steuern wir fast doppelt so viel bei, wie die USA. Nach den USA ist Deutschland der zweitgrößte bilaterale Unterstützer.Die Ukraine weiß ganz genau, dass sie sich auf Deutschland verlassen kann. Das hat Präsident
Vor einem Jahr stand ich hier und habe gesagt: Wir müssen das Momentum für ein stärkeres Europa jetzt nutzen. Für ein Europa der Sicherheit, des Wohlstands, der Demokratie und des Zusammenhalts. Jetzt, ein Jahr später, fällt mein Fazit gemischt aus. Ich weiß, wie schwierig europäische Politik ist. Wie in Brüssel über Kompromisse gerungen wird. Dass kurzfristige nationale Interessen europäische Interesse oft übertrumpfen. Als Europäerinnen und Europäer verlieren wir uns dabei zu oft im Klein-Klein und das große Ganze aus dem Blick. Aber auch national schaffen wir es oftmals nicht, mit einer klaren gemeinsamen Position in Brüssel für unsere Überzeugungen einzutreten. Das wirft uns am Ende alle zurück.
Eine Statistik des Internationalen Währungsfonds hat mich nachdenklich gemacht. Dabei geht es um die wirtschaftliche Entwicklung der EU, der USA und Chinas seit 2008. 2008 waren wir als EU27 noch der wirtschaftsstärkste Raum der Welt mit knapp über 16 Billionen US Dollar Bruttoinlandsprodukt. Wir haben heute noch fast den gleichen Wert (17,3 Billionen US Dollar).Die USA konnten ihr BIP im gleichen Zeitraum von 14,7 auf 26,8 Billionen US Dollar beinahe verdoppeln. China mehr als verdreifachen (von 4,6 Billionen US Dollar auf 18 Billionen US Dollar).
Jetzt ist mir als Sozialdemokrat klar, dass das Bruttoinlandsprodukt nicht alles ist, dass es auch um die gerechte Verteilung von Wohlstand und Investitionen in gemeinsame öffentliche Güter geht. Bei all dem stehen wir in Europa besser da als die USA und China. Aber schöpfen wir als Europäische Union unser volles Potential aus?
Ich habe große Sorge, dass wir gerade nicht die richtigen Schwerpunkte setzen. Dass wir nicht die richtigen Schritte gehen. Dass wir nicht mutig genug sind. Dass uns Zögern und Behäbigkeit am Ende schaden und wir dadurch Wohlstand und Stabilität verlieren.Wie großartig die Idee der Europäischen Union ist, wird mir immer wieder bewusst, wenn man sich mal kurz aus den tagespolitischen Debatten und Entscheidungen rauszieht. 27 Nationalstaaten, die gemeinsame Sache machen und damit gemeinsame Stärke entwickeln. Die Macht von 450 Millionen Bürgerinnen und Bürgern. Ich will, dass wir eine neue Leidenschaft für die europäische Idee entwickeln. Dass wir gemeinsam die Kraft haben, das Verzagte hinter uns zu lassen und in 27 Nationalstaaten erkennen, warum es in unserem tiefsten nationalen Interesse sein muss, die Europäische Union voranzubringen.
In den 1980ern wuchsen in Europa schon einmal die Zweifel an der gemeinsamen Wirtschaftskraft der Europäischen Gemeinschaft. Einige Mitgliedstaaten, allen voran Großbritannien, forderten weniger Europa. Man sprach von der „Eurosklerose“, die den Kontinent im Wettbewerb mit den USA und Japan lähmte. 1985 wurde der Sozialdemokrat Jacques Delors Kommissionspräsident und legte ein Weißbuch zur Schaffung des Europäischen Binnenmarktes vor. Er wollte die wirtschaftliche Stärke des Kontinents erhöhen. Seine Antwort war also mehr Europa, nicht weniger. Delors hatte eine Vision und er hatte eine Strategie. Er verstand es, Mehrheiten zu organisieren und von Gewerkschaften bis Arbeitgeber alle mit an Bord zu holen.
Dank seiner Initiative wurde 1993 der größte Wirtschaftsraum der Welt geschaffen: Der europäische Binnenmarkt, Grundlage für unseren gemeinsamen Wohlstand. Die Wirtschafts- und Währungsunion folgte. Dieses visionäre Denken hat Europa verändert. Es hat Europa stärker gemacht und den Menschen in Europa Wohlstand gebracht.
Wir feiern dieses Jahr den 30. Geburtstag des europäischen Binnenmarkts. Die Stimmen mehren sich, die nach einem Jacques Delors Plan 2.0 rufen. Jetzt halte ich vereinfachende Forderungen nach mehr oder weniger Europa für wenig zielführend. Aber ich finde, es braucht eine ernsthafte Debatte darüber, was wir als Europa besser gemeinsam hinkriegen.
Kurz nach Kriegsbeginn im Februar 2022 hat Bundeskanzler Olaf Scholz zurecht darauf hingewiesen, dass die Zeitenwende für Deutschland und für alle Mitgliedsländer der EU heißt, nicht bloß zu fragen, was man für das eigene Land aus Europa herausholen kann, sondern zu fragen:
Was ist die beste Entscheidung für die Union?
Denn das ist längerfristig die beste Entscheidung für uns in den einzelnen Ländern. Ich wünsche mir, dass wir an diesen Geist der Zeitenwende anknüpfen und dass wir diese Erkenntnis nicht im alltäglichen Krisenmanagement verlieren.
In diesen Tagen sehen wir das sehr stark in der europäischen Flüchtlingspolitik. Das erste Mal seit Jahren gibt es die Chance auf eine solidarische Verteilung, auf humanitäre Verfahren an den europäischen Außengrenzen, die Migration ordnen und steuern. Deutschland hat sich dafür jahrelang stark gemacht. Wir können die tiefe Spaltung der Europäischen Union in der
Migrationspolitik jetzt überwinden. Das ist ein wirklicher Fortschritt. Denn ich habe die Befürchtung: Ein Europa, das nicht in den kommenden Wochen eine gemeinsame Flüchtlingspolitik auf den Weg bringen wird, droht in die Zeiten der abgeschotteten Grenzen zurückzufallen. Nicht jeder Staat wird zu 100 Prozent das bekommen, was er für richtig hält, aber eine europäische Flüchtlingspolitik, die solidarisch ist und auf unseren Werten basiert, ist der richtige Weg. In der Abwägung, ob ich komplett mein nationales Interesse durchsetze, oder 90 Prozent europäisch bekomme, würde ich mich immer für den zweiten Weg entscheiden.
Wir sollten das Gemeinsame in Europa stärken. Ich bin überzeugt, dass wir in Europa mehr in öffentliche Güter investieren sollten: In unsere Sicherheit, in einen vertieften Binnenmarkt, in europäische Infrastruktur und eine nachhaltige und resiliente Energieversorgung. Nach 30 erfolgreichen Jahren Binnenmarkt sollten wir heute die Grundlage für die nächste Generation Binnenmarkt, für die nächste Dekade des wirtschaftlichen Wachstums und des Wohlstandes legen.
Genau hier möchte ich ansetzen und ein paar Gedanken für eine progressive Europapolitik,für ein sicheres und wirtschaftlich starkes Europa formulieren. Ganz im Sinne von Jacques Delors möchte ich dabei den Fokus auf die Themenfelder legen, wo wir gemeinsam mehr erreichen können: In der Sicherheits- und der Wirtschaftspolitik.
II. SICHERHEIT
Ich formuliere es bewusst überspitzt: In der Sicherheitspolitik gibt es in Europa keine divergierenden Interessen. Wir alle haben das Interesse an einem sicheren Europa. Ob Frankreich, Deutschland, Polen, Schweden oder Slowenien. Ein Europa, das zur Bündnis- und Landesverteidigung fähig ist. Ein Europa, das Frieden sichert.
Natürlich gibt es in der Vorstellung darüber, wie das erreicht wird, Unterschiede und ja, auch Konflikte. Aber das Ziel eint uns, denn ein Europa, in dem nur ein Teil sicher ist, ist kein sicheres Europa. Daher ist Sicherheit ein gemeinsames europäisches Gut. Ein Gut, das in der heutigen Zeit kein Land alleine, sondern nur alle zusammen erreichen können. Für mich ist klar: Es braucht die Sicherheitsunion Europa.
Der Krieg in der Ukraine hat die europäische Sicherheitsordnung erschüttert. Russlands völkerrechtswidriger Angriffskrieg ist auch ein Angriff auf unsere europäischen Werte, auf unsere Freiheit, auf unsere Demokratie.
Die Ukraine ist Teil von Europa. Davon zeugt der ihr verliehene Beitrittskandidatenstatus. Daher lässt sich die Sicherheit Europas nicht ohne die Zukunft der Ukraine denken. Wir werden die Ukraine weiter so lange wie nötig unterstützten, damit sie sich behaupten kann, damit sie diesen Krieg gewinnen kann. Über viele Jahrhunderte war Europa einer der blutigsten Kontinente der Welt. Die Gründung der Europäischen Gemeinschaft war daher eine der größten zivilisatorischen Errungenschaften des 20. Jahrhunderts. Die EU zeigt, dass Kooperation uns stärker macht als Konfrontation und Konflikte. Dass unsere Demokratie und Rechtstaatlichkeit die Freiheit unserer Bürgerinnen und Bürger schützt. Die europäische Idee steht für Frieden, Freiheit und Wohlstand.
Auch deswegen ist Europa heute eines der attraktivsten Zentren der Welt. In einer Welt im Umbruch muss Europa stärker denn je für diese Werte und eine regelbasierte internationale Ordnung eintreten. Dazu gehört, dass wir wichtige strategische Partnerschaften stärken und mit einer neuen Nord-Süd-Politik die Interessen und Perspektiven unserer Partner in Asien, Afrika und Lateinamerika viel stärker mit einbeziehen.
Deutschland ist bereit, mehr Verantwortung für die Sicherheit Europas zu übernehmen. Dazu gehört auch, die Verteidigungsfähigkeit der Europäischen Union zu stärken. Bundeskanzler Olaf Scholz hat daher Ende letzten Jahres die European Sky Shield Initiative ins Leben gerufen.18 Mitgliedsstaaten der EU haben sich angeschlossen.
Die Initiative sieht vor, in kürzester Zeit eine gemeinsame europäische Luftabwehr aufzubauen. Damit das gelingt, wird überwiegend auf Systeme aus Israel und den USA zurückgegriffen, die auf dem Markt schnell verfügbar sind. Insbesondere unsere Partner in Ost- und Mitteleuropa sehen ihre Sicherheit durch Russland akut bedroht. Eine zentrale Lehre aus der Zeitenwende ist, dass wir die Sicherheitsinteressen unserer Partner ernstnehmen. Daher finde ich es richtig, dass Olaf Scholz hier die Führung übernommen hat und sich für eine schnelle Lösung einsetzt. Ich weiß, dass dieser Weg nicht überall in Europa auf Zustimmung trifft. Als ich im März auf der Münchner Sicherheitskonferenz war, hat der französische Präsident Emmanuel Macron einen eigenen Vorschlag präsentiert. Er will, dass wir in Europa eigene Systeme für die Luftabwehr entwickeln, anstatt die Systeme aus Israel und den USA einzukaufen.
Ich finde gut, dass Macron diese Debatte anstößt und ich finde gut, dass unterschiedliche Ansätze auf dem Tisch liegen. Ich finde, wir müssen beide Ansätze zusammendenken. Es geht kurzfristig darum, Sicherheit zu organisieren und auf die akute Bedrohungslage zu reagieren.Und es geht perspektivisch darum, eigene europäische Kapazitäten gemeinsam viel stärker auszubauen. Während die Verteidigungsausgaben aller EU-Mitglieder in den letzten Jahren massiv angestiegen sind, kommen wir bei der gemeinsamen europäischen Beschaffung immer noch nicht schnell genug voran. Weniger als ein Fünftel der Anschaffungen innerhalb der EU wurden 2021 gemeinsam getätigt. Es wird nicht die eine Forderung geben, die das ändert. Aber ich erwarte, dass die neue Kommission die Sicherheitsunion Europa zu einem Schwerpunkt ihrer Agenda macht. Am Ende wird es nur funktionieren, wenn einzelne Länder vorangehen und Führung übernehmen. Hier kommt es insbesondere auf das deutsch-französische Tandem an. Daher ist es gut, dass nach den Fortschritten bei FCAS auch beim anderen deutsch-französischen Rüstungsprojekt, der Entwicklung eines gemeinsamen Kampfpanzers, im Umfeld der deutsch-französischen Kabinettsklausur wichtige Hindernisse aus dem Weg geräumt wurden. Damit das keine Ausnahme bleibt, brauchen wir einen europäischen Binnenmarkt der Verteidigung mit gleichen Wettbewerbsbedingungen für die Industrie, mehr Standardisierung und Interoperabilität und weniger Ausnahmeklauseln wegen nationaler Sicherheitsinteressen.
Damit Europa in einer Welt im Umbruch stark bleibt, braucht es auch innerhalb der EU mehr Vertrauen für gemeinsame Antworten. Als Sozialdemokratie haben wir den Dialog mit unseren Schwesterparteien in Nord-, Ost- und Mitteleuropa über unsere Zusammenarbeit und die Zukunft der Europäischen Union vorangetrieben. Ich habe die Parteispitzen im März nach Warschau eingeladen, um über eine neue Form der Zusammenarbeit zu beraten, aber auch, um bei Themen wie Sicherheitsinteressen und den geplanten EU-Beitritten eine gemeinsame Perspektive zu entwickeln. Seither führen wir den Dialog intensiv fort, bauen neues Vertrauen auf. Ich freue mich, dass heute meine schwedische Kollegin Magdalena Andersson und meine slowenische Kollegin Tanja Fajon hier sind.
In all den Gesprächen waren wir uns einig, dass die Erweiterung der EU um die Ukraine, Moldau, die Staaten des westlichen Balkans und perspektivisch auch Georgien ein wichtiger Schritt für nachhaltigen Frieden in Europa ist. Dabei kommt dem Wiederaufbau einer sozialgerechten, demokratischen und freiheitlichen Ukraine eine zentrale Bedeutung bei, um zu zeigen, dass die Idee des europäischen Friedensprojekts viel stärker ist als die imperialistischen Träume eines revisionistischen Russlands.
Aus meiner Sicht könnten wir den Erweiterungsprozess flexibler gestalten und Zwischenschritte ermöglichen. Ich könnte mir beispielsweise vorstellen, dass man den Beitrittskandidaten den vollen Zugang zum EU-Binnenmarkt in Aussicht stellt, noch bevor sie volle EU-Mitglieder werden. Dazu gehört für mich auch die engere Zusammenarbeit im Klima- und Energiebereich, denn zum einen haben wir erlebt, wie Energiepolitik als Waffe eingesetzt werden kann. Zum anderen können wir gemeinsam im Kampf gegen die Klimakrise mehr erreichen.
Das alles gelingt aber nur, wenn sowohl die EU als auch die Beitrittskandidaten beitrittsbereit sind. Dazu gehört, dass die Beitrittskandidaten ihre Reformen umsetzen. Und dazu gehört,dass wir als EU die notwendigen Reformen umsetzen. Dafür plädiert auch die deutsch-französische Expertengruppe, die vor einigen Wochen ihren Abschlussbericht vorgelegt hat. Sie kommt zum Schluss: Erweiterung ist ein geopolitischer Imperativ. Aber ohne Reformen, kann es keine Erweiterung geben. Ich freue mich auf die anschließende Diskussion mit Daniela´ Schwarzer, die Teil der Gruppe war.
III. WIRTSCHAFT
Zweifelsfrei verbessert Europa das Leben von Millionen Menschen – egal ob in Deutschland,in Spanien oder in Polen. Aber wie ich eingangs beschrieben habe, fallen wir im internationalen Wettbewerb zurück. Die wirtschaftlichen Kraftzentren verschieben sich in die USA, nach Asien.
Ich bin überzeugt, es braucht einen wirtschaftspolitischen Aufbruch in Europa. Es braucht eine neue Agenda zur Vertiefung des Binnenmarktes, um das wirtschaftliche Potential Europas in der Transformation voll auszuschöpfen. Mario Draghi hat kürzlich mit einer beeindrucken Rede analysiert, vor welchen Aufgaben Europa steht und welche Instrumente wir zur Hand haben, um diese Aufgaben anzugehen. Ich empfehle allen, diese Rede zu lesen, aber nehme nicht zu viel vorweg, wenn ich sage: Wir haben nicht die passenden Instrumente, um auf eine sich verändernde Welt zu reagieren.
Draghi argumentiert, dass wir immer mehr mit externen Krisen konfrontiert sind, die alle Länder der Europäischen Union gleichermaßen betreffen: die Pandemie, der Krieg in der Ukraine, die Energiekrise. Das führt dazu, dass wir nicht wie während der Finanzkrise einzelnen Staaten unter die Arme greifen müssen, sondern geteilte Herausforderungen zusammen lösen müssen.
Während der Pandemie haben wir darauf dank der europäischen Sozialdemokratie passende Antworten gefunden: Mit dem Wiederaufbaufonds Next Generation EU wurden umfassende Investitionen in die klimaneutrale und digitale Transformation ermöglicht und damit die Wirtschaft angekurbelt. Die temporäre Arbeitslosenversicherung SURE hat Arbeitsmärkte stabilisiert und Millionen Jobs gerettet.
Doch diese Instrumente sind zeitlich begrenzt und bis heute gibt es keine Einigkeit darüber,wie die Europäische Union in Zukunft gemeinsame Aufgaben gemeinschaftlich angehen und vor allem finanzieren will.
Es reicht heute nicht mehr, dass wir allein auf die Kräfte des Marktes setzen, um unsere Ziele zu erreichen. Eine moderne Wirtschaftspolitik funktioniert heute anders. Es braucht ein neues Zusammenspiel zwischen Staat und Markt. Es braucht staatliche Strukturen, die die Kräfte des Marktes in Richtung Dekarbonisierung und Digitalisierung lenken.
Der Inflation Reduction Act in den USA schafft milliardenschwere Anreize für Investitionen in klimaneutrale Infrastruktur und Geschäftsmodelle in den USA. Damit werden private Investitionen aus aller Welt in die USA gelockt. Als ich im Juni in Südkorea in der Zentrale von Samsung war, wurde mir berichtet, dass der Konzern zusammen mit der Regierung in den kommenden Jahren 230 Milliarden US Dollar investieren wird, um Südkorea zum größten Chiphersteller der Welt zu machen – vor China und Taiwan.
Wir müssen auf diese Entwicklungen eine europäische Antwort finden, wenn wir im globalen Wettbewerb mithalten wollen. Dabei geht es nicht darum, in teure Subventionswettläufe einzusteigen oder andere Programme zu überbieten. Das hielte ich für falsch. Aber es geht darum, dass wir die Kraft von 27 Staaten und 450 Millionen Bürgerinnen und Bürgern viel stärker bündeln.
Lassen Sie mich ein paar Handlungsfelder skizzieren, die aus meiner Sicht zentral sind:
Erstens: Wir müssen die klimaneutrale Transformation in Europa vorantreiben und die Innovationen der Klimawende hier entwickeln. Ein zentraler Baustein dafür ist die europäische Energieunion. Der Krieg in der Ukraine zeigt, wie wichtig eine unabhängige und sichere Energieversorgung für unseren Wohlstand und unsere Sicherheit ist – überall in Europa. Das gemeinsame Ziel, bis 2050 zum ersten klimaneutralen Kontinent der Welt zu werden, sollte Ansporn für eine koordinierte europäische Energiepolitik sein. Das wird nur funktionieren, wenn sauberer Strom überall in Europa durch die Netze fließt.
Die europäische Idee ist mit der Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl 1952 geboren. Heute brauchen wir einen Aufbruch für eine Union der Erneuerbaren Energien und des sauberen Wasserstoffs. Ich sehe darin enormes Potential, für gute Arbeit und gute Löhne, für unseren Wohlstand der Zukunft. Dafür braucht es eine viel stärkere Verzahnung europäischer Energiemärkte und Netzinfrastruktur. Dadurch wird unsere Energie nicht nur sauberer, sicherer und günstiger, es ergeben sich auch neue Geschäftsmodelle für die europäische Wirtschaft.
Zweitens: Wir brauchen eine europäische Industriepolitik. Um Europas Wettbewerbsfähigkeit zu sichern und unsere Resilienz zu stärken, sollten wir in Europa gezielt in Branchen mit hohem Innovationspotential und hoher strategischer Bedeutung investieren, von denen breite Wachstumswirkungen in den Rest der Wirtschaft ausgehen können. Dazu gehören beispielsweise grüne Zukunftstechnologien wie Wasserstoff, Elektromobilität oder Windkrafttechnologien.
Oder kritische Komponenten wie moderne Halbleiter und Batterien. Als Sozialdemokratie haben wir uns dafür eingesetzt, dass die europäischen Regeln für das Beihilferecht gelockert werden. Das war wichtig, damit wir Geld in die Hand nehmen können, um Unternehmen der Halbleiter- und Batterieindustrie nach Deutschland locken zu können. Perspektivisch müssen wir aber eine Industriepolitik entwickeln, die im Binnenmarkt funktioniert.
Damit es nicht zu einer Fragmentierung des Binnenmarktes kommt, müssen wir sicherstellen,dass alle Mitgliedsstaaten Zukunftsinvestitionen tätigen können. Dafür braucht es mehr Spielräume bei der Reform des Stabilitäts- und Wachstumspakts, denn die alten Regeln passen nicht mehr zur neuen Realität. Ich könnte mir auch vorstellen, dass es hierbei zusätzliche Ausnahmen für nationale Investitionen in gemeinsame europäische Programme gibt. Damit könnten weitere Anreize geschaffen werden, europäisch zu handeln.
Drittens: Zu einer gemeinsamen Industriepolitik gehört auch das Ziel, gut bezahlte Jobs überall
in Europa zu schaffen. Ich will, dass Europa die Innovationsschmiede für die globale Transformation wird. Wir haben die große Verantwortung, dass der Wandel nicht dazu führt, dass Europa und unsere Gesellschaften in neue Gewinner und Verlierer unterteilt wird. Mit der europäischen Mindestlohnrichtlinie und der Vorgabe, Tarifbindung auf mindestens 80 Prozent auszuweiten, setzt Europa hier dank sozialdemokratischem Engagement wichtige Maßstäbe. Damit die Sicherheit des Arbeitsplatzes auch in schwierigeren Zeiten da ist, setzen wir uns zudem für eine Weiterführung der Arbeitslosenversicherung SURE ein.
Bei all diesen Vorhaben geht es natürlich auch ums Geld. Sobald man in Deutschland anfängt,über mehr Geld für Europa zu diskutieren, dauert es keine fünf Minuten, bis die Konservativen und Libertären um die Ecke kommen, und beklagen, die Sozis wollten deutsches Steuergeld an Europa verschenken.
Dabei gibt es zahlreiche Studien, die belegen, dass Investitionen in europäische öffentliche Güter wie Sicherheit, Infrastruktur und die Energieversorgung massive Synergieeffekte bewirken und Wachstum ankurbeln würden. Das arbeitgebernahe Institut der deutschen Wirtschaft, nicht gerade eine sozialdemokratische Vorfeldorganisation, hat zusammengetragen, welchen Mehrwert europäische Antworten auf die skizzierten Handlungsfelder auch ökonomisch hätten: Der Ausbau der Energieunion könnte jährlich 440 Milliarden Euro zusätzlich bringen. Der Ausbau grenzüberschreitender Infrastruktur und die Angleichung von Unternehmenssteuern bis zu 644 Milliarden Euro. Die Umsetzung der Kapitalmarktunion sowie die Weiterführung von SURE und Next Generation EU bis zu 320 Milliarden jährlich.
Kurzum: Europa zahlt sich aus. Eine Konzentration auf die zentralen gemeinsamen europäischen Aufgaben kann Wachstum ankurbeln und Innovationen freisetzen.
Der Großteil der Transformation wird durch private Investitionen erfolgen. Der europäische Kapitalmarkt ist aber nach wie vor viel zu fragmentiert. Anstatt in Europa zu investieren und sich mit zahlreichen nationalen Regeln auseinanderzusetzen, ziehen immer mehr private Investitionen in die USA oder nach Asien. Um es attraktiver und einfacher zu machen, müssen wir daher endlich die Kapitalmarktunion vollenden.
Aber es braucht auch europäisches Geld, um Anreize zu setzen und Investitionen gezielt in die klimaneutrale und digitale Transformation zu lenken. Next Generation EU war dafür ein großer Erfolg. Aber das Instrument läuft 2027 aus. Als Sozialdemokratie setzen wir uns dafür ein, dass daraus ein dauerhafter Integrationsfortschritt wird. Zur Finanzierung der Transformation bin ich auch bereit die Diskussion über europäische Einnahmen und gemeinsame Schulden zu führen. Kein Land profitiert von der EU so sehr wie Deutschland. Jeder vierte deutsche Arbeitsplatz hängt vom Export ab, mehr als die Hälfe unser Exporte gehen in die EU. Wir exportieren mehr in die Niederlande oder nach Frankreich, als nach China. Dass es unseren Partnern in Europa gut geht, dass wir einen starken Binnenmarkt haben, ist ein deutsches Eigeninteresse. Ohne ein starkes Europa, sind wir als Deutschland kein starkes Land.
IV. ABSCHLUSS
Die Europawahl im kommenden Jahr ist eine Richtungswahl. Die Wahl setzt den Rahmen für die Agenda der nächsten Europäischen Kommission. Ich wünsche mir, dass die Kommission ein Mandat bekommt, für eine neue Generation Binnenmarkt einzutreten und die gemeinsamen Herausforderungen unserer Zeit konsequent angeht.
Aber die Wahl ist auch aus einem anderen Grund eine Richtungswahl. Wenn die AfD über einen Austritt Deutschlands aus der Europäischen Union diskutiert, vom Europa der Vaterländer fabuliert, dann legen sie damit die Axt an Jobs, an gute Löhne, an die Industrie. An Sicherheit und Wohlstand. Der Rechtsruck ist eine ernsthafte Gefahr für unsere Demokratie und den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Die AfD und ihre Freunde haben keine Antworten auf die Herausforderungen, die vor uns liegen. Als Sozialdemokratie werden wir den Kampf gegen Rechts anführen – mit aller Härte in der politischen Auseinandersetzung.
Die Europawahl entscheidet darüber, ob die Kräfte, die Europa stärken und vorabringen wollen, gewinnen. Oder ob diejenigen, die Europa abwickeln und zurückdrehen wollen, an Macht gewinnen.
Ich kann Ihnen sagen: Die Stärkung Europas ist für mich eine der wichtigsten Aufgaben meiner politischen Generation. Als Sozialdemokratie haben wir mit Europa noch einiges vor!
Lars Klingbeil ist seit Dezember 2021 Ko-Parteivorsitzender der SPD. Zuvor war er von 2017 bis 2021 Generalsekretär seiner Partei. In dieser Zeit organisierte Klingbeil die Koalitionsverhandlungen und stieß sämtliche Erneuerungsprozesse an. Er ist seit 2009 Abgeordneter im Deutschen Bundestag und stellv. Mitglied im Verteidigungsausschuss. Lars Klingbeil war von 2014 bis 2018 Vorsitzender aller niedersächsischen und bremischen Abgeordneten in der SPD-Bundestagsfraktion. Zuvor prägte ihn eine lange und intensive Zeit in der Kommunalpolitik.
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