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Wir müssen uns schon heute auf die Lügen von morgen vorbereiten - ein Kommentar von Alberto-Horst Neidhardt.
Desinformationen über ukrainische Geflüchtete wurden bisher nur über Nischen-Nachrichtenkanäle verbreitet. Doch sobald die vollen Auswirkungen der Wirtschaftssanktionen gegen Russland auch in Europa spürbar werden, werden Desinformationsakteure einen fruchtbareren Boden finden, um Lügen über Geflüchtete zu verbreiten und die Gesellschaft zu spalten. Die EU, die Mitgliedsstaaten und auch die Zivilgesellschaft sollten daher schon jetzt ihre Bemühungen verstärken und angemessene Strategien entwickeln, um zukünftiger Desinformation entgegenzuwirken.
Dieser Artikel von Alberto-Horst Neidhardt ist am 23. März zuerst auf Englisch auf der Website des European Policy Centre erschienen.
Nach dem Angriff Russlands auf die Ukraine und der Flucht von Millionen Menschen in die EU haben Desinformationsakteure keine Zeit verloren, Lügen über Geflüchtete in Umlauf zu bringen: Sie beschuldigten diese fälschlicherweise, gewaltsame Verbrechen gegen die lokale Bevölkerung begangen zu haben. Sie behaupteten, dass Kinder aus Krebskliniken geworfen worden wären und ukrainische Geflüchtete deren Platz eingenommen hätten. Dmitry Rogozin, der Leiter des russischen Weltraumprogramms, nutzte ein zwei Jahre altes Video eines Überfalls in Rom und behauptete, dass ukrainische Geflüchtete bald Italien „übernehmen“ und die italienische Sprache verbieten würden.
Während der Krieg in der Ukraine mit Waffen gekämpft wird, zielen in Europa Desinformationen im Internet darauf ab, Feindseligkeit gegen Ukrainer zu schüren sowie den sozialen und politischen Zusammenhalt zu untergraben. Momentan beschränkt sich die Verbreitung solcher Falschmeldungen auf extremistische Echokammern. Aber wie lange wird es dauern, bis sie auch ein größeres, nicht-radikalisiertes Publikum erreichen? Und was sind die Lehren, die wir aus vergangenen Migrationsentwicklungen mitnehmen können, die stark im Auge der Öffentlichkeit standen?
Desinformationen über Migration und ihre Anpassungsfähigkeit an „Krisen“
Die Forschung des European Policy Centre (EPC) in Partnerschaft mit der Friedrich-Ebert-Stiftung und der Foundation of European Progressive Studies zeigt, dass sich Desinformations-Narrative ständig weiterentwickeln und sich schnell an den veränderten Nachrichtenkreislauf anpassen. Besondere Situationen, wie beispielsweise sogenannte Migrationskrisen, fungieren als Katalysatoren für Desinformationen und ermöglichen es Extremisten, Ängste zu schüren und die Form und den Inhalt des Diskurses zu prägen. Dem kann allerdings entgegengewirkt werden, wenn andere politische Akteur_innen und Gruppen, die für die Rechte von Migrant_innen einstehen, diesen diskursiven Raum zuerst einnehmen.
Jüngste Ereignisse in Afghanistan und in Belarus zeigen die Fähigkeiten von Desinformationen, sich anzupassen und den politischen Diskurs zu formen. Nach der Machtübernahme der Taliban in Afghanistan wurde zum Beispiel nach wenigen Tagen behauptet, dass Hunderttausende Afghanen_innen auf dem Weg nach Europa wären. Rechte Aktivisten verbreiteten Falschmeldungen, dass nur afghanische Männer geflohen wären und dass deren Leben nicht in Gefahr wäre. Obwohl eindeutig falsch, erfüllten gestellte Fotos und sensationsheischende Artikel ihren Zweck: Ängste vor der kurz bevorstehenden „Invasion“ von Afghanen zu schüren, den Wunsch der Menschen, Geflüchtete aufzunehmen, zu zerschlagen, Klischees zu befeuern und die politische Agenda auf Sicherheitsfragen auszurichten.
Die Menge an Desinformationen stieg ähnlich stark an, als Lukaschenkos Regime Migrant_innen und Asylsuchende an die Grenzen von Lettland, Litauen und Polen lockte. Online-Medien verbreiteten Lügen über Aufstände und gewaltsame Kämpfe in Aufnahmezentren. In Artikeln wurde Panikmache betrieben und behauptet, dass sich unter den Neuankömmlingen verkleidete Terroristen versteckten. Solche Geschichten stammen direkt aus dem Handbuch der Desinformationen über Migration, und sollten die Unterstützung der Europäer für Geflüchtete und das Vertrauen in politische Institutionen untergraben.
Einige der Lügen, die im Moment höchster Spannungen mit Belarus verbreitet wurden, stammten aus Kreml-treuen Medien und wurden auf Russisch veröffentlicht. Zahlreiche andere Fake News wurden jedoch von in Europa lebenden Aktivisten und europäischen Webseiten veröffentlicht. Auch die polnische Regierung fuhr eine Kampagne gegen Migrant_innen, um Unterstützung für ihre kompromisslose Anti-Migrations-Haltung zu gewinnen.
Die Ziele und Risiken von Desinformationen über Migration im Kontext des Ukrainekriegs
Desinformations-Narrative stellen Migration systematisch als eine Gefahr für die Gesundheit, den Wohlstand und die Identität der Menschen dar. Ihre Botschaften verändern sich jedoch als Reaktion auf jede neue Entwicklung in den Nachrichten und auf ihr Zielpublikum. Je nach den unterschiedlichen Gegebenheiten werden Migrant_innen als Invasoren und eine Gefahr für kulturelle Traditionen und Identitäten bezeichnet, als verbrecherisch und unfähig, sich an soziale und rechtliche Normen zu halten, als diejenigen, die anderen den Arbeitsplatz stehen, oder als Sicherheitsrisiko.
Desinformationsakteure nutzen dabei aufmerksamkeiterregende Ereignisse aus, indem sie das Thema Migration strategisch mit größeren gesellschaftlichen Problemen verknüpfen und Botschaften entwickeln, die die Werte und Überzeugungen der Menschen ansprechen. Dadurch versuchen sie die öffentliche Wahrnehmung zu manipulieren und soziale Spaltung voranzutreiben.
Bisher waren Lügen über ukrainische Geflüchtete und Versuche, aus den Ängsten der Europäer Profit zu schlagen, nicht erfolgreich, da sie von einer überwältigenden Welle an Solidarität überlagert wurden. Das vorherrschende Gefühl ist eine Empathie mit den Geflüchteten aus der Ukraine. Dies ist die erste Lehre des derzeitigen Informationskrieges: Wenn Gruppen, die die Rechte von Migrant_innen und Geflüchteten unterstützen, zuerst einen diskursiven Raum mit einer Botschaft einnehmen, die ein breites Publikum anspricht, werden Desinformationen, die gegen Geflüchtete (sowie andere Migrant_innen) gerichtet sind, nicht mehrheitsfähig.
Dennoch birgt die Zukunft Gefahren in sich.
Da EU-Bürger langsam beginnen, die vollen sozio-ökonomischen Auswirkungen des Ukraine-Kriegs und der Sanktionen Russlands zu spüren, werden Desinformationsakteure in Europa jede Gelegenheit nutzen, um Unzufriedenheit zu erzeugen oder zu verstärken. Die Frage ist nicht ob, sondern wann.
Der Krieg und der kontinuierliche Anstieg der Inflation und der Energiepreise werden die Durchschnitts-Europäer hart treffen. Ärmere Haushalte werden Probleme haben, ihre Rechnungen zu zahlen, während höhere Lebensmittelpreise den Lebensstandard senken. Es werden Millionen Euronötig sein, um ukrainischen Geflüchteten Zugang zu Arbeit, Bildung und Wohnraum in der EU zu verschaffen. Währenddessen werden Konflikte und zunehmende weltweite Ungleichheit zu noch mehr Vertreibung in der Ukraine und anderswo führen.
Vor diesem Hintergrund werden Lügen über Geflüchtete und andere Migrant_innengruppen dafür eingesetzt werden, die öffentliche Meinung zu polarisieren und Agenden, die auf gesellschaftliche Spaltung abzielen, mehrheitsfähiger zu machen.
Zukunftsgerichtete Maßnahmen der EU, nationaler Akteure und zivilgesellschaftliche Organisationen
Der Kampf gegen Desinformationen im Allgemeinen, auch über Migrant_innen, ist eine der wichtigsten Handlungsfelder der EU. Bisherige Initiativen zielen unter anderem darauf ab, Technologieunternehmen dazu zu bewegen, Desinformationen zu bekämpfen, und die Fähigkeit der EU, schädigende Inhalte zu erkennen und aufzudecken, zu verbessern. Auch zivilgesellschaftliche Organisationen haben ihre Tätigkeiten verstärkt, vor allem im Bereich Faktenchecks. Doch diese Initiativen sind mit politischen, rechtlichen und finanziellen Einschränkungen konfrontiert.
Allerdings sollte und muss in der Zukunft mehr getan werden, um Desinformationen abwehren zu können. Allen voran geht es dabei um die Verbesserung der Echtzeitüberwachung und der Fähigkeit frühzeitig gegen virale Falschmeldungen vorzugehen.
Initiativen auf EU-Ebene konzentrieren sich zur Zeit auf Bedrohungen von außerhalb der Union kommend, vor allem von feindseligen Staaten wie Russland. Doch wie die Beispiele der Ukraine, aus Belarus und betreffend Afghanistan zeigen, stammen Desinformationen nicht nur von außerhalb, sondern auch von innerhalb Europas. Russische Quellen – die wie im Falle von Sputnik nun in der EU gesperrt sind – sind nur für einen Bruchteil der tausenden online geteilten falschen Geschichten verantwortlich. Ein großer Anteil wird von europäischen extremistischen Gruppen und Einzelpersonen verbreitet. Daher ist ein Ansatz, der nicht nur bestimmte Akteure im Auge hat („actor-agnostic approach“) und nicht abhängig von dem Ursprung der Desinformationen ist, notwendig. Dieser würde es erlauben, Desinformationen zu erkennen und zu widerlegen, was wiederum ein schnelleres und effektiveres Eingreifen als Konsequenz hätte.
Gleichzeitig ist Europas Ansatz im Kampf gegen Desinformationen nach wie vor überwiegend reaktiv. Daher verbreiten sich falsche und irreführende Narrative aufgrund ihrer emotionalen Anbindung schnell – oft schneller als faktenbasierte Informationen. Obwohl sie ein wichtiges Werkzeug sind, können Faktenchecks außerdem auch nach hinten losgehen, da sie die Desinformationen ungewollt weiterverbreiten und ihnen mehr Visibilität geben.
Daher müssen die bisher vorherrschenden Strategien, Desinformationen durch Fakten im Nachgang zu widerlegen („debunking“), mit einer Präventionsstrategie („prebunking“) ergänzt werden: Desinformationen sollten durch strategisches Handeln aufgehalten werden, bevor sie zu kursieren beginnen.
Ein Test für die Widerstandsfähigkeit der EU bezüglich Desinformationen über Migration
Was bedeutet dies im Fall der Ukraine und wie kann es dazu dienen, zukünftige Desinformationen zu bekämpfen?
Zunächst muss Europa seine Medien- und Informationskompetenz stärken. Politische Entscheidungsträger neigen dazu, sich auf „technische“ oder bevormundende Ansätze zu verlassen, indem sie Social-Media-Unternehmen dazu drängen, Bots zu löschen, gegen die manipulative Nutzung ihrer Plattformen vorzugehen und so weiter und so fort. Das reicht allerdings nicht. Solange Migration ein politisch sensibles Thema ist, wird es auch weiterhin ein attraktives Thema für manipulative Inhalte bleiben.
Programme zur Stärkung der Medien- und Informationskompetenz können dazu beitragen, diese Probleme anzugehen, indem sie die Handlungskompetenz von Bürger_innen stärken und sie dazu befähigen, Desinformationen und Manipulationstechniken eigenständig zu erkennen. Wenn Bürger_innen Desinformationen besser entlarven, ihnen widerstehen und sie abweisen können, schützen sie nicht nur sich selbst vor Desinformationen schützen. Sie schützen dadurch auch andere, da sie zu sogenannten „Gatekeepern“ werden und die weitere Verbreitung von Lügen verhindern.
Des Weiteren müssen die EU, nationale Institutionen und die Zivilgesellschaft sich strategisch auf zukünftige Desinformationsnarrative über Fluchtbewegungen aus der Ukraine und anderswo einstellen. Vorausschauende Analysen sollten identifizieren, welche Arten und Inhalte von Desinformationen voraussichtlich auftauchen werden sowohl im Kontext der der zunehmenden wirtschaftlichen Not wie auch der geopolitischen Unsicherheit. Dabei sollte ermittelt werden, welche Erzählungen und Narrative weit verbreitete Probleme ausnutzen könnten und welche bestimmten Bevölkerungsgruppen angesprochen würden.
Indem mögliche Falschmeldungen über Migrant_innen und Geflüchtete antizipiert werden, wird es möglich sein, sich proaktiv gegen zukünftige Lügen zu wappnen. Die ukrainische Regierung tut genau dies, wenn sie beispielsweise die Öffentlichkeit präventiv vor bestimmten Desinformationskampagnen russischer Akteure warnt. Journalisten und Faktenprüfer können auch unterstützt werden, indem man ihnen Zugang zu Werkzeugen und Informationen bietet, mit denen sie gegen Falschmeldungen vorgehen können.
Um die derzeitige Unterstützung für Geflüchtete zu bewahren, müssen jedoch auch Botschaften und Kommunikationsstrategien entwickelt werden, die diese Haltung auch angesichts zukünftiger feindseliger Narrativen aufrechterhalten können. Um dies zu erreichen, müssen progressive zivilgesellschaftliche Organisationen und gleichgesinnte politische Akteure faktenbasierte Botschaften vermitteln, die weiterhin die Werte und Überzeugungen der Menschen ansprechen. Vor dem Hintergrund zunehmender wirtschaftlicher Unsicherheit sollten sie auch die Sorgen der Menschen anerkennen, ohne sie jedoch zu verstärken. Wenn man ihre Ängste nicht anerkennt, macht man es Desinformationsakteure leicht, die Debatte an sich zu reißen.
Die Unterstützung, die das European Policy Centre für seine laufende Arbeit oder speziell für seine Veröffentlichungen erhält, stellt keine Befürwortung des Inhalts dar, der ausschließlich die Meinung der Autoren wiedergibt. Unterstützer und Partner können nicht für die Verwendung der darin enthaltenen Informationen verantwortlich gemacht werden.
Alberto-Horst Neidhardt ist Policy Analyst im Programm Europäische Migration und Vielfalt am European Policy Centre (EPC) in Brüssel. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören Asyl-, Migrations- und Integrationsfragen, mit besonderem Interesse an Migrationspolitik und EU-Recht. Er hält einen Doktortitel und einen Master of Laws in vergleichendem, europäischem und internationalem Recht des EUI sowie einen Master in internationalen und vergleichenden Rechtsstudien der SOAS.
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