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Die Lotterie der sicheren Herkunftsländer

Sichere Herkunftsstaaten sind ein zentrales, wie auch umstrittenes migrationspolitisches Konzept in Europa. Nun sind Änderungen in Sicht.


 

Sichere Herkunftsstaaten sind ein zentrales migrationspolitisches Konzept sowohl in Europa als auch in den aktuellen Koalitionsverhandlungen. Gleichzeitig sind sie umstritten. Nun sind Änderungen in Sicht - auch durch die Umsetzung des Europäischen Asylpakts. Was das genau bedeutet, beleuchtete eine Online-Diskussion am 18. März 2025 im Rahmen der neuen Veranstaltungsreihe „Migration verstehen“ der Friedrich-Ebert-Stiftung.

 

„Die Bundesregierung kennt natürlich die kritischen Fragen und Themen, die mit der Menschenrechtslage in Algerien, Marokko und Tunesien verbunden sind.“ Das sagte der damalige Innenminister, Thomas De Maizière, 2017 in einer Bundestagsdebatte - nur um kurz danach zu begründen, warum die drei Länder dennoch als sichere Herkunftsstaaten gelten sollten. Der Gesetzesentwurf passierte den Bundestag und scheiterte am Veto des Bundesrats – um nur zwei Jahre später wieder vom neuen Innenminister, Horst Seehofer, hervorgeholt zu werden. Mehr Staaten als sichere Herkunftsstaaten zu deklarieren und damit Abschiebungen dorthin zu erleichtern, ist asylpolitisch ein Evergreen – und auch in den aktuellen Koalitionsverhandlungen wieder relevant.

 

Sichere Herkunftsstaaten?

Schon damals gab es Vorbehalte gegen die Einstufung der Maghreb-Staaten als sichere Herkunftsstaaten: In Marokko und Tunesien werden Aktivist:innen und die LGBTI-Community verfolgt und in Algerien können sogar Vergewaltigungen Minderjähriger straffrei bleiben. Dabei besagt das Konzept eigentlich, dass alle Menschen in einem Staat vor Verfolgung sicher sein müssen, was im vergangenen Jahr erneut vom Europäischen Gerichtshof (EuGH) bestätigt wurde. 

Daneben spielt das Konzept auch in den neuen Außengrenzverfahren eine wichtige Rolle - dem Kern des 2024 verabschiedeten gemeinsamen Europäischen Asylsystem (GEAS). Diese Verfahren sollen für Menschen aus Ländern gelten,  deren Schutzquote europaweit unter 20 Prozent liegt. Die Schutzquote gibt an, wie hoch der Anteil der Asylbewerber:innen eines bestimmten Herkunftsstaates ist, dem nach Abschluss eines Verfahrens Schutz zugesprochen wird. Die Umsetzung der GEAS-Verordnungen in deutsches Recht steht noch aus; ein Referentenentwurf aus dem November allerdings schlägt vor, die neuen Regeln nicht nur auf Geflüchtete mit niedrigen Anerkennungsquoten, sondern auch auf sichere Herkunftsländer anzuwenden – im Einklang mit europäischem Recht. Das Bundesinnenministerium plant laut Entwurf zudem, die Liste solcher Staaten zu erweitern und die Einstufung von Staaten als sichere Herkunftsstaaten zukünftig auch ohne die Zustimmung des Bundesrates möglich zu machen.

 

Mangelnde Transparenz

Die Anwältin Dr. Konstantina Kromlidou arbeitete jahrelang als Entscheiderin beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) und klärte Asylantragstellende über ihre Rechte und Pflichten auf. Dabei stieß sie immer wieder auf Unverständnis und Sorgen, wenn es um die Einstufung als sicheres Herkunftsland ging.  „Gerade aufgrund der weitreichenden rechtlichen Folgen des Konzepts ist es sehr wichtig, dass ein transparentes Verfahren stattfindet“, merkt sie an. Das Problem hier: Die verfassungs- und europarechtlichen Kriterien für die Einstufung seien zwar angemessen und fair, Entscheidungen würde jedoch nicht immer eine repräsentative Anzahl von Informationsquellen verschiedener Art zugrunde gelegt. So beruhen sie oft nur auf staatlichen Quellen, ohne Berichte von Organisationen wie Amnesty International oder Human Rights Watch zu berücksichtigen. So wird es für Betroffene schwerer, individuelle Verfolgung glaubhaft darzulegen.

 

Komplizierte Verfahren

Auch Muzaffer Öztürkyilmaz vom Flüchtlingsrat Niedersachsen weiß, dass viele Betroffene mit der fehlenden Transparenz Schwierigkeiten haben. Wenn zum Beispiel queere Personen verfolgt werden, bekäme das selten eine staatliche Behörde mit, berichtet er. Nach seinen Erfahrungen habe das Konzept dazu geführt, dass die Einzelfallprüfung von Behörden voreingenommen gewesen sei und Schutzbedürftige nicht ernst genommen würden. „Nach dem Motto: Selbst, wenn an deinem Vortrag was dran ist, gehen wir erstmal davon aus, dass keine Verfolgung vorliegt“, erinnert er sich an Gespräche mit Verantwortlichen.

Auch das Ziel, Asylverfahren zu vereinfachen und so zu beschleunigen, würde nicht erreicht: Die Einführung sicherer Herkunftsstaaten bei niedrigen Anerkennungsquoten hätte nicht wie beabsichtigt zu kürzeren Asylverfahren geführt, sondern sogar zu Verzögerungen. „Für Asylbewerber aus Ghana braucht das Gericht inzwischen etwa 24 Monate, um eine Entscheidung zu fällen“, berichtet Öztürkyilmaz.

 

Europäischer Flickenteppich

Hinzu kommt: Die nationalen Rechtsvorstellungen bei Herkunftsländern gehen innerhalb der EU stark auseinander. In Italien gelten Algerien, Marokko und Tunesien längst als sicher. In Deutschland wurde 2023 Moldau als sicheres Herkunftsland eingestuft – während der Europäische Gerichtshof im selben Jahr entschied, dass Tschechiens Versuch, Moldau entsprechend einzustufen, gegen EU-Recht verstoße. Für die Betroffenen wirkt das zuweilen willkürlich. „Es ist wie in der Glückslotterie, denn auch die Anerkennungsquoten sind sehr unterschiedlich“, meint Muzaffer Öztürkyilmaz. Eine EU-weit einheitliche Liste sicherer Herkunftsstaaten wurde bisher wegen rechtlicher Bedenken verworfen.

Aber nicht nur auf europäischer Ebene scheint der Dialog bisher gescheitert zu sein, auch ein sehr wichtiger Akteur wurde nicht einbezogen: die Herkunftsländer selbst. Anna Terrón, ehemalige spanische Staatssekretärin für Migration und Expertin für EU-Migrationspolitik, findet dies besorgniserregend. „Wir haben so viele verschiedene Instrumente in Bezug auf sichere Länder und Grenzregelungen. Aber wir sollten uns mehr damit befassen, wie wir auch die Herkunftsländer und -regionen wirklich einbeziehen können, wann immer ein Dialog möglich und die Sicherheit und die Rechte der Betroffenen gebührend berücksichtigt werden“, stellt sie klar. „Der Fokus sollte stärker darauf liegen, ob die Schutzsuchenden in ihrem Herkunftsland oder in der EU wirklich akzeptiert werden – und bisher ist nicht klar, was sich hier mit der Umsetzung des GEAS ändern wird.“

Wie wird die künftige Bundesregierung auf diese Problematik reagieren? Das bleibt offen. Die Redner:innen auf dem Podium jedenfalls haben eine Empfehlung: Weniger Abschiebedebatten, mehr Resilienz im Umgang mit Migration.

 


Über die Autorin

Isabel Knippel ist freie Journalistin, unter anderem für den MDR. Sie recherchiert und schreibt aus Dresden zu politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Themen. Für die Friedrich-Ebert-Stiftung hat sie verschiedene Veranstaltungen als Live-Bloggerin begleitet. Sowohl durch ehrenamtliches Engagement als auch in ihrem Politik-, Publizistik- und Wirtschaftsstudium hat sie sich schon vielfach mit Asyl- und Integrationspolitik auseinandergesetzt.

Die im Artikel zum Ausdruck gebrachten Meinungen und Äußerungen der Gastautorin spiegeln nicht notwendigerweise die Haltung der Friedrich-Ebert-Stiftung wider.

Redaktion

Annette Schlicht
+49 30 26935-7486
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