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Ein Interview mit Amine Kharrat während des Global Solutions Summit 2019 in Berlin.
Bild: Amine Kharrat von Illustration by iStockphotobo68
Bild: von Melodu Kaya
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Wenn Jugendliche in ihrer Heimat keine Chancen für sich sehen, ist für sie Migration oft der einzige Weg, sozial aufzusteigen.
„Wir teilen die gleichen Ängste und Hoffnungen“, so Amine Kharrat, graduierter Finanzwissenschaftler und Aktivist, über die jungen Menschen, die sich anlässlich eines viertägigen Programms im März in Berlin versammelten. Graduierte und Young Professionals aus über 60 Ländern kamen der Einladung der Young Global Changers Summer School nach. Diese ist ein Programm der Global Solutions Initiative, mit dem den Stimmen von jungen Menschen in Global Governance Foren, wie der G20-Gruppe der 20 wichtigsten Volkswirtschaften, Gehör verschafft werden sollen.
Zusammen mit anderen Teilnehmenden befasste Amine sich mit einem der zentralen G20-Themen. Die zusammen ausgearbeiteten Vorschläge der Gruppe flossen direkt in die Agenda der T20, einer Think-Tank-Task-Force für den G20-Gipfel, ein. Mit uns sprach Amine über die globale Relevanz der Vision tunesischer Jugendlicher sowie die Triebkräfte von Migration in seinem Land.
FES: Warum ist es wichtig, Jugendliche auf globaler Ebene mit in die Debatte einzubeziehen?
Amine Kharrat: Meine Generation wurde vom Geist und den Werten der tunesischen Revolution sehr inspiriert. Ich denke, die Herausforderungen, denen wir uns stellen müssen, sind gut in ihrem zentralen Slogan zusammengefasst: „Arbeit, Freiheit, Würde“. Dies sind Grundrechte jeder Weltbürgerin und jedes Weltbürgers – und sie sind stark bedroht durch steigende Ungleichheit, die Gefahren des Klimawandels und den weltweiten Rückgang der Demokratie. Ungleichheit und neoliberale Maßnahmen lähmen den Wohlfahrtsstaat und stärken das Misstrauen der Menschen in staatliche Institutionen und in deren Fähigkeit, hochwertige öffentliche Dienstleistungen zu erbringen. Wenn dieses Vertrauen verloren geht, macht Wut die Menschen offener für populistische und extremistische Ideen, wie etwa den Rechtspopulismus oder den islamistischem Fundamentalismus.
Die Herausforderungen einer neuen Gesellschaft werden am besten von Jugendlichen verstanden. Das bedeutet nicht, dass die Rolle von erfahrenen Führungskräften nicht wichtig ist. Es bedeutet aber, dass Kommunikationskanäle zwischen den beiden Lagern offen sein sollten, um Entscheidungen bezüglich solcher Herausforderungen zu optimieren. Man denke beispielsweise an die digitale Wirtschaft oder den Umgang mit künstlicher Intelligenz.
Welchen Bezug hat das Thema, an dem du gearbeitet hast, zu deinem Leben in Tunesien?
Meine Gruppe hat sich mit den Gefahren von Welthandel um jeden Preis beschäftigt. Dieses Thema hat für Tunesien ganz besondere Relevanz, weil wir gerade ein Freihandelsabkommen (FTA) mit der EU aushandeln. Dieses sogenannte ALECA-Abkommen stößt jedoch in der tunesischen Zivilgesellschaft eher auf Angst als Begeisterung.
Es ist bemerkenswert, dass westliche Entscheidungsträger_innen die Grenzen von Deregulierung und Neoliberalismus anerkennen, aber gleichzeitig ein Freihandelsabkommen mit Tunesien aushandeln, ohne die örtliche Zivilgesellschaft mit einzubeziehen. Betont werden sollte auch, dass der Welthandel auf beiden Seiten Gewinner_innen und Verlierer_innen produziert hat, beispielsweise unter traditionellen deutschen Textilhersteller_innen wie auch lokalen Kunsthandwerker_innen in Tunesien. Die internationale Arbeitsteilung hat sich darauf konzentriert, Jobs in Länder mit niedrigem Lohnniveau auszulagern und gleichzeitig die Informationswirtschaft in entwickelten Ländern zu fördern – zu Ungunsten von örtlichen, alternden Traditionsindustrien. Der in Volkswirtschaftsseminaren häufig gelehrte Spruch „Von Handel profitieren alle“ wird mehr und mehr von den Fakten in Frage gestellt.
Inwiefern sind Mobilität und Migration relevante Themen für Jugendliche in deinem Land und deiner Region?
Tunesien ist nun ein Zielland für Arbeitsmigrant_innen aus Ländern jenseits der Sahara; früher jedoch war es nur ein Transitland für diese Menschen. Unsere Gesetzgebung zu dem Thema ist ungenügend und stammt aus dem Jahre 1968. Die meisten dieser Migrant_innen sind nicht erfasst, was Tür und Tor für Ausbeutung und Misshandlung öffnet und ihnen den Zugang zu sozialen Grundrechten verwehrt.
Die Migration von undokumentierten Jugendlichen aus Tunesien über das Mittelmeer ist immer noch ein zentrales Thema, sogar nach der Revolution. Hunderte von tunesischen Jugendlichen haben bislang ihr Leben auf der Suche nach einer besseren Zukunft verloren. Zum Zeitpunkt dieses Interviews [24. März] gelten 10 Menschen noch immer als vermisst, nachdem ihr Fischerboot auf dem Weg nach Italien sank. Eine der Vermissten ist eine 28-jährige Krebspatientin auf der Suche nach ärztlicher Behandlung, die sie sich in Tunesien nicht leisten konnte.
Was sind die Migrationsursachen tunesischer Jugendlicher und welche Faktoren schränken ihre Mobilität ein?
Entgegen der landläufigen Meinung spielt Geld nicht die Hauptrolle. Viel eher ist es die – legitime – Hoffnung auf Erfolg. Junge Menschen mit einer guten akademischen Bildung suchen nach Gelegenheiten, die sich ihnen zuhause nicht bieten. Jugendliche aus ärmeren Gegenden sehen in der Migration nach Europa ihre einzige Chance auf sozialen Aufstieg, aufgrund der wirtschaftlichen Stagnation, der Schwächung unseres Bildungssystems und der Korruption in Tunesien.
Was die Einschränkung von Mobilität betrifft, so ist das Visa-System ein große Hürde. Europäische Länder verlangen sehr viele, oftmals persönliche Informationen, beispielsweise über den finanziellen und den gesundheitlichen Zustand. Die Gebühren sind hoch und es gibt keine Garantie auf Erteilung eines Visums. Das System hat zudem eine Präferenz für Fachkräfte, gegenüber einfachen Arbeiter_innen, obwohl die europäische Wirtschaft beides nötig hat.
Ungefähr 77 Prozent der Bevölkerung in Afrika ist unter 35 Jahre alt. Wenn Jugendliche in Tunesien, Nordafrika und in globalen Foren eine Stimme hätten, was würden sie in Bezug auf die Triebkräfte von Migration verlangen?
Seit Jahren schon können internationale Beziehungen in Bezug auf Migration aus Afrika mit einer einfachen Formel zusammengefasst werden: Kontrolle von Migration im Gegenzug für makroökonomische Hilfe. Dies hat die Migrationsströme gen Europa jedoch nicht aufgehalten und die durch die Hilfeleistungen resultierenden wirtschaftlichen Vorteile sind ungewiss. Zudem ist der finanzielle Beitrag von Migrant_innen sowohl zur heimischen Volkswirtschaft als auch zu der ihrer Zielländer enorm: 2017 wurden etwa 466 Milliarden US-Dollar in Heimatländer überwiesen.
Die oben beschriebene Formel sollte geändert werden und auf Investitionen, nicht auf Hilfeleistungen, basieren. Europa sollte in den Staaten, bei denen Bedarf besteht, in hochkarätige Projekte investieren, anstatt nur Aktivitäten mit geringem Mehrwert, wie Callcenter, auszulagern und nur gut ausgebildete Jugendliche in Europa aufnehmen zu wollen bzw. zu fördern. Die beiden Kontinente sollten sich auf Augenhöhe begegnen und die gegenwärtige ökonomische Ungleichheit sollte nicht instrumentalisiert werden, um Sicherheitsmaßnahmen oder andere Bedingungen durchzusetzen.
Young Global Changers wird von der Friedrich-Ebert-Stiftung unterstützt. Für mehr Informationen kontaktieren Sie das Referat Globale Politik und Entwicklung der FES Berlin. Für mehr Informationen über die Global Solutions Initiative kontaktieren Sie bitte die Presseabteilung der Initiative.
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