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Anna Weirich aus dem arbeitsrechtlichen Beratungsnetzwerk Faire Mobilität gibt einen Einblick in die Lage für Berufskraftfahrende aus der Ukraine und anderen Drittstaaten.
FES: Eine FES-Studie hat kürzlich gezeigt, wie bedeutend der Anteil der Migrant_innen unter den Berufskraftfahrer_innen ist, nämlich über 23 Prozent in 2020 bundesweit. Hier waren mobile Beschäftigte, die in anderen EU-Ländern unter Vertrag sind, aber auf deutschen Straßen arbeiten, noch gar nicht mitgerechnet. Als Mitarbeiterin des Netzwerks Faire Mobilität beraten Sie genau diese Beschäftigten und stehen im direkten Austausch. Wie präsent sind bzw. waren ukrainische, aber auch russische und weißrussische LKW-Fahrer_innen im Transportgeschäft in Deutschland?
Weirich: Seit 2017 haben wir mit über 7000 LKW-Fahrer_innen sprechen können. Auch wir beobachten, dass die Anzahl von Fahrenden aus der Ukraine, Belarus, aber auch Russland, Georgien, Usbekistan oder Kirgisistan zunimmt. Allerdings lässt sich das nur schwer genau beziffern.
Insgesamt wächst der Anteil von Fahrer_innen mit ausländischer Staatsbürgerschaft, insbesondere aus den osteuropäischen EU-Mitgliedstaaten, auf deutschen Straßen kontinuierlich an. Dazu zählen sowohl diejenigen mit Anstellung bei Frachtführern mit Unternehmenssitz in Deutschland, um die es auch in der FES-Studie ging, als auch diejenigen mit Anstellung bei im Ausland niedergelassenen Frachtführern. Während die Zugmaschinen oft osteuropäische Kennzeichen (von Frachtführern aus Litauen, Polen, Belarus, Bulgarien, Rumänien, usw.) haben, sind die Auflieger mit der Fracht in Deutschland zugelassen. Osteuropäische Trucks mit Fahrern osteuropäischer Staatsbürgerschaft transportieren also Fracht im Auftrag großer Logistikfirmen aus Deutschland, Frankreich oder Belgien: und dies bei schlechter Bezahlung, unbezahlten Überstunden und hohem Zeitdruck.
Nach Angaben des Bundesamts für Güterverkehr (BAG) wurden im Jahr 2020 ca. 40,3 Mrd. Mautkilometer mit LKWs in und durch das Gebiet der Bundesrepublik Deutschland durchgeführt, etwa 16,2 Mrd. Mautkilometer (40,2%) von im Ausland zugelassenen Trucks, die im Rahmen der „Dienstleistungsfreiheit“ in der gesamten Europäischen Union Güter transportieren können. Die mit Abstand meisten Mautkilometer wurden von LKW mit polnischer Zulassung gefahren (16,3%), gefolgt von LKW mit Zulassung in Tschechien (3,3%), Rumänien (3,1%), Litauen (2,8%), Niederlande (2,5%). Diese Statistiken lassen allerdings nur Aussagen über den Sitz der Unternehmen zu, nicht über die Staatsbürgerschaft der Fahrenden.
Ukrainische und belarusische Fahrer_innen haben unserer Beobachtung zu Folge in der Regel eine formale Anstellung bei polnischen oder litauischen Unternehmen, fahren aber fast ausschließlich in Westeuropa. Menschen mit einem Führerschein, der außerhalb der EU ausgestellt wurde, brauchen eine sogenannte Fahrerlaubnis. Statistiken zeigen, dass die Anzahl dieser Fahrerlaubnisse in der EU insgesamt sich zwischen 2012 und 2020 verfünffacht hat. Ende 2020 waren 228.054 Fahrerlaubnisse im Umlauf, 170.572 davon wurden allein in Polen und Lettland ausgestellt. Diese Zahlen bestätigen die Beobachtungen von Faire Mobilität sowie anderer Gewerkschaften: Die Anzahl von Fahrer_innen aus einem „Drittstaat“ mit Vertrag in einem osteuropäischen EU-Staat wird immer größer.
Natürlich gibt es in geringerer Anzahl aber auch Fahrer_innen, die für ukrainische oder russische Unternehmen in der EU unterwegs sind.
Wie wirkt sich der Krieg in der Ukraine auf diese Beschäftigten aus?
Der Krieg in der Ukraine betrifft natürlich zuallererst die ukrainischen Fahrer_innen, die sich fern von ihren Heimatorten Sorgen um die Familie und die Zukunft ihrer Heimatstädte machen. Ein Fahrer aus Mariupol erzählte uns in Rhynern, dass er keine Möglichkeit habe, zu seiner Familie zu gelangen, die eingekesselt ist. Hier trafen wir auch einen ukrainischen Fahrer, der schon seit vielen Jahren für den gleichen slowakischen Arbeitgeber fährt. Er erzählte, dass seine Familie in der Westukraine lebe, wo es aktuell nur vereinzelt Kriegshandlungen gibt. Normalerweise fährt er drei Monate im LKW und ist dann einen Monat zu Hause in der Ukraine.
In Absprache mit seiner Familie hat er schweren Herzens beschlossen, länger als sonst zu fahren und nicht zur Familie zurückzufahren, da sie das Geld jetzt noch dringender als sonst benötigen. In dieser Situation schätzte er sich glücklich, über eine längerfristige Arbeitserlaubnis zu verfügen. Viele Drittstaatler_innen, die bei Unternehmen in der EU beschäftigt sind, beantragen kein Vander Elst-Visum, das es ihnen offiziell ermöglichen würde, länger als drei Monate in einem anderen EU-Mitgliedsland Dienstleistungen zu erbringen. D.h. konkret, dass ein ukrainischer LKW-Fahrer, der bei einer polnischen Firma angestellt ist, aber in Deutschland Ware transportiert, ohne Vander Elst-Visum maximal drei Monate (in einem Zeitraum von 12 Monaten) Dienstleistungen in Deutschland oder einem anderen EU-Staat als Polen erbringen dürfte. In der Praxis wird dies allerdings häufig umgangen. Für die Fahrer_innen bedeutet dies ein Risiko, gegen aufenthaltsrechtliche Bestimmungen zu verstoßen und hierfür belangt zu werden.
Auch von der Generalmobilmachung in der Ukraine sind Fahrer betroffen: Diejenigen, die sich gerade in der Ukraine aufhielten, können nun das Land nicht mehr verlassen und verlieren damit auch ihre Einkommensquelle. Wehrpflichtige und Reservist_innen werden eingezogen oder schließen sich freiwillig den ukrainischen Streitkräften an.
Viele Transportrouten sind durch den Krieg unterbrochen. Auf Grund der Wirtschaftssanktionen bekommen russische Unternehmen weniger Aufträge. Ein belarusischer Fahrer, der für ein russisches Unternehmen Holzpaletten und Autoersatzteile transportiert, erklärte uns in Oelde, er stecke fest, weil er keine Aufträge mehr bekomme. Sein Bargeld und sein Lohn, welcher ihm in Russischem Rubel bezahlt wird, verlieren täglich an Wert und die Lebenshaltungskosten in Deutschland sind für ihn kaum bezahlbar. Auch Tank- und Kreditkarten funktionieren teilweise nicht mehr.
Mit welchen arbeitsrechtlichen Problematiken waren diese mobilen Beschäftigten bisher vor allem konfrontiert?
„Seit 10 Jahren fahre ich in Deutschland. Und wer zahlt am Ende meine Pension?" Diese Frage stellte uns ein belarusischer Fahrer bei einer Infoaktion am Norwegenkai in Kiel. Er fuhr für eine polnische Firma, hauptsächlich in Deutschland. Sein Arbeitgeber zahlt ihm einen Grundlohn von 400 Euro monatlich. An jedem gefahrenen Tag gibt es außerdem Spesen. Von diesen lebe er de facto, erklärte der Fahrer. Sozialversicherungsbeiträge werden dafür aber nicht abgeführt. Die Fahrer erhalten daher bei Krankheit nur einen Bruchteil der monatlichen Vergütung, da Lohnfortzahlung nur auf Niveau des osteuropäischen Mindestlohnes gezahlt wird und sie in diesen Zeiten auch keinen Anspruch auf Spesen haben. Dies ist gängige Praxis und wird auch als „Spesenmodell“ bezeichnet. Alle Unternehmen in der Auftragskette machen sich dabei zu Nutze, dass Arbeitnehmende in diesen Ländern auf Grund der dortigen Arbeitsmarktsituation, Krisenszenarien oder Kriegszustände geringere Löhne akzeptieren (müssen).
Weil viele von ihnen zu einem Großteil ihrer Arbeitszeiten Transporte in Westeuropa für die dort ansässigen Generalunternehmer durchführen, stehen ihnen (gemäß Mindestlohngesetz und Entsenderichtlinie) die höheren Mindestlöhne der jeweiligen Einsatzländer zu. Diese erhalten sie aber in aller Regel nicht. Offensichtlich findet ein massiver Lohnbetrug statt. Aber ihren Anspruch auf den deutschen Mindestlohn durchsetzen können die Fahrer in der Realität nur, wenn sie ihn rückwirkend vor Gericht einfordern – was meist gleichbedeutend mit dem Verlust des Jobs ist.
Inwiefern macht die Frage, ob Berufskraftfahrende aus dem EU-Ausland bzw. sogar aus Drittstaaten kommen, einen Unterschied mit Blick auf ihre Arbeitsbedingungen?
Die Abhängigkeiten von Fahrer_innen aus Drittstaaten sind besonders groß, denn von ihren prekären Arbeitsverhältnissen hängt auch ihr Aufenthaltsstatus im Schengen-Raum ab. Werden sie entlassen, müssen sie den Schengen-Raum verlassen. Das macht eine Durchsetzung ihrer Rechte für diese Beschäftigungsgruppe sehr kompliziert.
Daneben gibt es eine Reihe massiver Probleme mit denen fast alle Fahrer_innen konfrontiert sind, insbesondere, wenn sie keinen Wohnsitz in Deutschland haben. In den Wochen ihrer Arbeitseinsätze leben Berufskraftfahrer_innen im internationalen Straßentransport ausschließlich in ihren Fahrzeugen. Kosten für die Bezahlung von Parkplätzen, Benutzung von Toiletten, Duschen oder Unterkunft auf Rastplätzen werden in aller Regel von den Arbeitgebern nicht übernommen. Da die Löhne der Fahrenden häufig extrem niedrig sind, ist das eine unverhältnismäßige Belastung, die sie nicht bereit sind durch ihre Spesen und Aufwandsentschädigungen zu decken. Campingduschen, wilde Toiletten, Fahrende, die Wasserkanister herumschleppen: das sind alltägliche Bilder auf Raststätten in Deutschland.
An ihren Heimatort kehren insbesondere Fahrer aus weiter entfernten Ländern nur alle paar Monate zurück. Ihre Melde- und Postadresse ist ebenfalls dort, manchmal auch am Unternehmenssitz des Arbeitgebers. Dies erschwert schriftliche Korrespondenz mit Behörden, Versicherungen, aber auch Beratungsstellen, Gewerkschaften und Anwält_innen.
Große Probleme gibt es auch mit der Arbeitszeit und ihrer Dokumentation sowie Urlaubsansprüchen. Die Fahrenden werden genötigt, ihren Tachographen gesetzeswidrig zu bedienen, um undokumentierte Überstunden zu leisten, die dann in der Regel auch nicht bezahlt werden. Häufig wird den Fahrer_innen auch kein Erholungsurlaub gewährt, was natürlich ebenfalls gesetzeswidrig ist.
Die Fahrer_innen stehen sehr alleine da, wenn sie für faire Arbeitsbedingungen sorgen wollen. Lkw-Fahrer_innen brauchen Verbündete und kollektive Ansätze, um die Ausbeutung im Transportsektor sichtbar zu machen und systematisch dagegen vorgehen zu können.
Wie wird die Lücke, die ukrainische Berufskraftfahrende nun hinterlassen, gefüllt? Zeichnen sich hier bereits Veränderungen in der Beschäftigtenstruktur in diesem Sektor ab?
Fachkräfte werden in dieser Branche schon länger händeringend gesucht, das stellt ja auch die FES-Studie fest, die die Berufskraftfahrt für das Jahr 2019 als „Engpassberuf“ einschätzt: Seit September 2019 ist die Berufsgruppe „Berufskraftfahrer (Güterverkehr/Lkw)“ auch in einer Positivliste aufgeführt, die sogar eine Zuwanderung von Fachkräften aus dem nicht-EU-Ausland erleichtert. Hintergrund sind Klagen der Arbeitgeberverbände, dass derzeit in Deutschland etwa 80.000 Berufskraftfahrer_innen fehlen würden. Schon im Zusammenhang mit der Versorgungskrise in Großbritannien im Oktober 2021 war dieser Mangel Dauerthema. Auch deutschsprachige Medien wurden nicht müde zu fragen: „Drohen auch in Deutschland leere Regale?“. Seit Beginn des Ukraine-Kriegs hat das Thema erneut Konjunktur: Dabei wird aber wie so oft in der Diskussion vernachlässigt, dass die Arbeitsbedingungen von LKW-Fahrern einfach zu schlecht sind, um Arbeitskräfte für diesen Beruf zu gewinnen. Offensichtlich führt der eklatante Mangel bislang nicht dazu, dass die Arbeitsbedingungen und die Löhne attraktiver gestaltet würden.
Vielen Dank für dieses Interview!
Faire Mobilität ist ein deutschlandweites Beratungsnetzwerk mit 12 Standorten. Die Berater_innen sprechen neben Deutsch und Englisch unterschiedliche mittel- und osteuropäische Sprachen und können so Arbeitnehmer_innen in diesen Sprachen bei arbeitsrechtlichen Fragen unterstützten. Im Rahmen des Branchenschwerpunkts internationaler Straßentransport werden Infoaktionen auf Rastplätzen durchgeführt, um Fahrende über ihre Rechte aufzuklären.
Anna-Christine Weirich arbeitet seit November 2020 für den Europäischen Verein für Wanderarbeiterfragen in der Beratungsstelle ‘‘Faire Mobilität‘‘ in Frankfurt am Main. Seit Juni 2021 ist sie, gemeinsam mit Michael Wahl, Branchenkoordinatorin für den Internationalen Straßentransport bei Faire Mobilität. Sie hat in Bonn, Frankfurt und Nancy (Frankreich) Politikwissenschaft, Philosophie und Romanistik studiert. Danach war sie als Freiwillige für eine interkulturelle NGO in Woronesch/Russische Föderation tätig und hat 10 Jahre als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Goethe-Universität in Frankfurt gearbeitet. Hier hat sie unter anderem zu Sprach- und Arbeitsbiographien in der Republik Moldau geforscht.
Anna-Christine Weirich berät vor allem rumänischsprachige Arbeitnehmer_innen zu arbeits- und sozialrechtlichen Fragen. Sie spricht Rumänisch, Deutsch, Englisch, Französisch, aber auch Russisch und Italienisch.
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