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"Wir haben jetzt die Chance für eine Zeitenwende."

Zu den Auswirkungen der ukrainischen Fluchtbewegungen auf die bisher stockenden Verhandlungen zur EU-Asylreform sprechen wir mit Birgit Sippel, innenpolitische Sprecherin der sozialdemokratischen Fraktion (S&D) des Europaparlaments.


Liebe Frau Sippel, vor eineinhalb Jahren hat die Kommission eine neue Asylreform, das sogenannte neue Migrations- und Asylpaket, vorgeschlagen. Was waren und sind die strittigen Kernpunkte des Pakets?

Im September 2020 hat die EU-Kommission den „Neuen Pakt für Migration und Asyl“ veröffentlicht, der die vorgeschlagene Asylreform von 2016 ergänzen und teilweise überarbeiten soll. Dieser „Pakt“ basiert auf der fehlgeleiteten Absicht, es allen Mitgliedstaaten recht zu machen. Dabei gibt es Mitgliedstaaten, die eine humanitäre und solidarische Asyl- und Migrationspolitik aus Prinzip ablehnen und dabei auch Rechtsbrüche in Kauf nehmen. Die Vorschläge von Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen nehmen eher Rücksicht auf unsolidarische Mitgliedstaaten, als echte Solidarität einzuführen. So bleibt zum Beispiel das dysfunktionale und ungerechte Ersteinreiseprinzip bestehen, nach dem allein der Mitgliedstaat, in den ein Asylbewerber oder eine Asylbewerberin zuerst eingereist ist, für die Bearbeitung des Antrags sowie auch für den anschließenden Aufenthalt zuständig ist. Von verpflichtender und verlässlicher Umverteilung dieser schutzsuchenden Personen auf alle EU-Mitgliedstaaten fehlt in den Vorschlägen jede Spur.

 

Sind Sie als Abgeordnete des Europaparlaments bei der Beratung und Verhandlung über die Vorschläge involviert?

Ja, persönlich beschäftige ich mich als Berichterstatterin des Europäischen Parlaments für die Screening-Verordnung mit deren problematischen Abschnitten und ungeklärten Sachlagen. Im Screening-Verfahren möchte die Kommission eine Prüfung aller Drittstaatsbürger_innen einführen. Personen die irregulär eingereist sind sollen an den EU-Außengrenzen erst einmal für bis zu zehn Tage inhaftiert werden, um sie zu registrieren und Verfahren zuzuweisen. Diese umfassende Inhaftierung benennt keine Ausnahme für Kinder oder besonders schutzbedürftige Personen. Gleichzeitig wird ein zahnloser Grundrechte-Überwachungsmechanismus vorgeschlagen, der die zahlreichen Probleme, die wir mit illegalen und gewalttätigen Zurückweisungen an vielen EU-Außengrenzen erleben, nicht stoppen kann. Auch hier bleibt also eine Menge Verbesserungsbedarf.

 

Wie ist die Position der EU-Mitgliedsstaaten bezüglich der Reformvorschläge?

Insgesamt konnten die Vertreter_innen der Mitgliedstaaten immer noch nicht die Gräben überwinden, die sich im Rat der EU seit 2016 zu Fragen der Verteilung von Geflüchteten aufgetan haben. Deswegen sehen wir wenig Bewegung bei der Asylreform. Dafür bräuchte es neben der Verhandlungsbereitschaft des Parlaments nämlich auch die des Rates, da sich beide als gemeinsame Gesetzgeber auf neue Gesetze und Vorschriften einigen müssen. Im Parlament schreitet die Arbeit voran, aber ich fürchte, dass bei manchen Mitgliedstaaten grundsätzlich die Bereitschaft zu ernsthaften Verhandlungen in allen Bereichen fehlt, stattdessen sollen nur ausgewählte Elemente der Reform umgesetzt werden.

Auch die französische Ratspräsidentschaft verfolgt seit Januar einen sogenannten schrittweisen Ansatz, in dem nur einige wenige Elemente der Asylreform abgeschlossen werden sollen, während die schwierigen Themen lieber nicht angerührt werden. Sie legt daher wenig überraschend den Fokus auf Grenzschutz und Registrierungen an der Außengrenze. Für meine sozialdemokratische Fraktion im Europäischen Parlament ist allerdings klar, dass eine nachhaltige Asylreform eine umfassende Lösung bieten muss und nicht zur scheibchenweisen Bearbeitung weniger kontroverser Maßnahmen führen darf, während die grundlegenden Probleme bestehen bleiben. Deshalb muss eine Reform unbedingt auch die Frage der gerechten Verteilung von Zuständigkeiten für Asylverfahren und der Solidarität mit Mitgliedstaaten, lokalen und regionalen Akteuren und den schutzsuchenden Menschen beinhalten.

 

Gab es denn bereits Vorschläge, auf die sich Parlament und Rat einigen konnten?

Im letzten Jahr konnten wir mit dem Rat immerhin die Einführung einer EU-Asylagentur beschließen, die das Mandat ihres Vorgängers, des Asyl-Unterstützungsbüros, ausweitet. Was mich zusätzlich gefreut hat, ist die Reform der sogenannten Blauen Karte der EU, die legale Einwanderungsmöglichkeiten für Hochqualifizierte, wie Akademiker_innen und in bestimmten Fällen auch für bestimmte Berufsausbildungen, erleichtern wird.

 

Seit dem 24.02. führt Russland Krieg gegen die Ukraine wodurch bereits Millionen Menschen vor allem in die EU geflohen sind. Vor diesem Hintergrund gibt es aktuell eine große europaweite Hilfsbereitschaft und Solidarität mit Geflüchteten. Hat diese Entwicklung auch Einfluss auf die Verhandlungen zum Migrations- und Asylpaket?

Es wäre natürlich wünschenswert, wenn wir durch die aktuellen Erfahrungen auch dem Abschluss der Asylreform etwas näherkommen würden. Leider sehe ich eher Dynamiken, bei denen die dramatische Lage in der Ukraine alle anderen Herausforderungen im Umgang mit geflüchteten Menschen überdeckt. So spricht kaum noch jemand über die humanitäre Katastrophe, die die polnische Regierung seit Sommer 2021 an ihrer Außengrenze zu Belarus herbeiführt, weil sie die Einreise von Menschen verweigert, die den falschen Versprechungen des belarussischen Despoten Lukaschenko gefolgt sind.

Auch die zahlreichen Todesfälle von Migrant_innen in Seenot, die wir weiterhin erleben, spielen kaum noch eine Rolle in der öffentlichen Wahrnehmung. Was die Verhandlungen zum Asylpaket angeht, sehe ich im Rat ein ähnliches Bild. Die Treffen drehen sich insbesondere um ad-hoc Reaktionen auf die akute Notlage von Millionen von Menschen aus der Ukraine.

Beispielsweise wurde mit der Ratsentscheidung vom 4. März 2022 die Richtlinie für temporären Schutz (Temporary Protection Directive) aktiviert, die für verschiedene Personengruppen aus der Ukraine, sowie deren Familienmitglieder einen Schutzstatus vorsieht. Über diesen sind sie zunächst für ein Jahr (maximal drei Jahre) sozial und medizinisch abgesichert, haben Zugang zum Arbeitsmarkt und Kinder und Jugendliche erhalten Zugang zum Bildungssystem.

Auch wenn diese Entscheidung richtig und wichtig war, bleibt der Fokus des Rates auf die aktuelle Notlage der Menschen aus der Ukraine gerichtet und es wird leider nur noch wenig Zeit für die Klärung der grundsätzlichen Fragen verwendet, denen wir uns bei einer Reform des Asylsystems stellen müssen.

 

Zählt zu diesen grundsätzlichen Fragen auch, wie die EU zukünftig mit der Instrumentalisierung von Schutzsuchenden umgeht?

Auf jeden Fall. Solange sich die EU-Mitgliedstaaten nicht auf einen gemeinsamen, gerechten und menschenwürdigen Ansatz für den Umgang mit schutzsuchenden Menschen einigen können, machen sie sich angreifbar. Wir sehen, dass die Mitgliedstaaten, und hier insbesondere die Zivilgesellschaft, sehr wohl in der Lage sind, Millionen von schutzsuchenden Menschen zu unterstützen. Auch an der belarussischen Außengrenze wollten beispielsweise viele freiwillige Helfer_innen Unterstützung leisten. In Polen durften sie aber, genauso wenig wie Medien und Hilfsorganisationen, den Grenzbereich nicht betreten. Und das angesichts nur weniger tausend Menschen, die Lukaschenko mit falschen Versprechungen nach Belarus gelockt hatte, um sie rücksichtslos für politische Zwecke zu missbrauchen. Eine klare gemeinsame Haltung der Mitgliedstaaten, basierend auf unseren Werten und unserer menschenrechtlichen Verantwortungen hätte ein deutlich stärkeres Signal der EU gesendet.

 

Haben Sie den Eindruck, dass die Reaktion auf die Schutzsuchenden aus der Ukraine die Möglichkeit einer Zeitenwende in der EU-Migrations- und Asylpolitik eröffnet?

Ich wünsche mir, dass die Mitgliedstaaten jetzt durch die gute und zügige Umsetzung des temporären Schutzstatus - einschließlich der zunehmend wichtigeren Integration - merken, dass sich ein inklusiverer Ansatz zur Migration, inklusive Integration in Arbeitsmarkt und Gesellschaft, für alle Beteiligten bewährt. Damit könnten wir eine positive Veränderung des zu oft benutzten negativen Narratives über unkontrollierter Flucht und Migration herbeiführen. Denn tatsächlich erleben wir keine Migrationskrisen; vielmehr sind es Krisen der Schwäche und der gemeinsamen Handlungsfähigkeit der Mitgliedstaaten in Bereich Migration und Asyl.

Wir haben jetzt die Chance für eine Zeitenwende für innereuropäisches Vertrauen und gegenseitige Solidarität. Dennoch können wir nicht auf die Realisierung dieser, vielleicht zu optimistischen, Wünsche warten. Denn, dass nun in vielen Mitgliedstaaten ein grundsätzlicher Sinneswandel einkehrt, kann ich leider noch nicht erkennen. Auch die Kommissionspräsidentin von der Leyen wird ihrer Verpflichtung, von den Mitgliedstaaten die Umsetzung des bereits geltenden Asylrechts einzufordern und notfalls Vertragsverletzungsverfahren gegen rechtsbrüchige Mitgliedstaaten einzuleiten, wohl nicht mehr nachkommen.

Deswegen gilt es, mit den Mitgliedstaaten, die eine humane und gerechte Migrationspolitik unterstützen, neue Allianzen zu schmieden und eine gemeinsame Politik umzusetzen. Hierfür hat sich Bundesinnenministerin Nancy Faeser bereits sehr deutlich ausgesprochen. Ich hoffe, dass sich bald erste Ergebnisse präsentieren lassen, damit wir langfristig allen schutzsuchenden Menschen, die nach Europa kommen, so hilfsbereit entgegentreten, wie wir es mit Menschen aus der Ukraine derzeit tun.


Die Autorin

Birgit Sippel ist seit 2009 Mitglied des Europäischen Parlaments und dort Sprecherin der Fraktion der Progressiven Allianz der Sozialdemokraten (S&D) im Ausschuss für bürgerliche Freiheiten, Justiz und Inneres (LIBE).

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