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Die Wahlbeteiligung in Europa ist seit Jahrzehnten rückläufig. Begeisterung über freie Wahlen ist selten, stattdessen bleibt oft das Gefühl, dass die Stimmabgabe ohnehin nichts bewirke. Doch was bedeutet das für die Demokratie?
Bild: Voting von michael_swan lizenziert unter CC BY-ND 2.0
Juni 1993: Die Wahllokale der lettischen Hauptstadt Riga sind brechend voll. Es sind die ersten freien Parlamentswahlen nachdem das baltische Land seine Unabhängigkeit wiedererlangt hat. 91,2 Prozent der 1,2 Millionen wahlberechtigten Bevölkerung geben ihre Stimme ab. Elf Jahre und sechs Wahlen später sind die Letten wieder zur Wahl aufgerufen. Die Wahlbeteiligung liegt allerdings nur noch bei 58,9 Prozent, sie ist innerhalb der letzten 25 Jahre also um ein knappes Drittel zurückgegangen. Ähnliche Trends sind in ganz Europa zu beobachten. Politikwissenschaftler_innen diskutieren seit langem über die Gründe der sinkenden Wahlbeteiligung. Oftmals werden dabei Politikverdrossenheit und eine generelle Unzufriedenheit mit dem politischen System angeführt. Der Heidelberger Professor Dieter Roth sieht das verstärkte Fernbleiben von den Wahlurnen hingegen als Teil eines Normalisierungsprozesses, der zeigt, dass die Bürger_innen grundsätzlich zufrieden mit ihrer Demokratie seien.
Wer nicht wählt, der hat schon?
Die stetig abnehmende Wahlbeteiligung ist jedoch ein gesamteuropäisches Phänomen mit einer Vielzahl an Facetten. Hiermit beschäftigt sich auch ein neues Papier der Friedrich-Ebert-Stiftung. Aufbauend auf Berichten von Mitarbeiter_innen der FES-Auslandsbüros nimmt Arne Cremer in „Aktuelle Entwicklungen der Wahlbeteiligung in Europa“ rückläufige Tendenzen im Wahlverhalten der Bürger_innen verschiedener Länder Europas unter die Lupe.
In den meisten europäischen Staaten ist in den vergangenen 20 Jahren ein genereller Rückgang der Wahlbeteiligung zu verzeichnen. Am höchsten ist sie nach wie vor bei nationalen Parlaments- oder Präsidentschaftswahlen – „Verlierer“ sind hingegen Europa- und Regionalwahlen. Darüber hinaus gibt es ein deutliches Nord-Süd-Gefälle innerhalb des Kontinents. In den skandinavischen Staaten (mit Ausnahme Finnlands) ist die Wahlbeteiligung höher als in vielen südeuropäischen Ländern. Wie so oft spielt auch hier die soziale Stellung eine Rolle und zerreißt die Gesellschaft noch weiter: Wer zum Beispiel über einen niedrigen Bildungsabschluss verfügt, geht seltener zur Wahl.
Sinkende Wahlbeteiligung geht auf Kosten linker Parteien
Erstaunlich ist, dass die rückläufige Wahlbeteiligung meist auf Kosten der „Linken“ geht: Sinkt sie, so litten in der Vergangenheit darunter häufig die sozialistischen Parteien, ihre Stimmenanteile sanken überproportional. Umgekehrt gilt dieser Zusammenhang jedoch nicht unbedingt: So hat die AfD in Deutschland einen Großteil dazu beigetragen, dass 2016 auf Länderebene wieder mehr Menschen zur Wahl gingen, sie hat viele Nichtwähler reaktiviert – nur wählten diese nun eben rechts.
Über alle europäischen Länder hinweg ist auffällig, dass die Wahlbeteiligung immer dann sinkt, wenn die Bürger_innen das Gefühl haben, mit ihrer Stimme sowieso nichts bewirken zu können. Und sie fühlen sich dadurch bestärkt, dass sich die Wahlprogramme der politischen Parteien immer mehr anzunähern scheinen. Laut der Studie der FES glaubten viele Bürger_innen, dass die vermeintliche Wahl gar keine mehr sei – das Schlagwort „Parteienverdrossenheit“ kommt einem in den Sinn. Die Menschen gehen hingegen dann verstärkt zur Wahl, wenn zwei politische Lager sich ein Kopf-an-Kopf-Rennen liefern, wenn die Fronten und Inhalte klarer sind. So lag die Wahlbeteiligung etwa beim Referendum über die Zukunft Schottlands bei um die 85 Prozent.
Wähler ohne Wahl?
Darüber hinaus haben die Bürger_innen das Gefühl, dass die gestiegene Einflussnahme von Lobbyisten und internationalen Akteuren zu einem Bedeutungsverlust nationaler Entscheidungsorgane führt. So kam es zum Beispiel in Griechenland im Zuge der Finanzmarktkrise zu einer sinkenden Wahlbeteiligung: Durch die Einflussnahme der Troika hatten viele Griechinnen und Griechen den Eindruck, dass die nationale Regierung an Souveränität verloren hat und deshalb die Stimme der Bürger_innen weniger zählten. Wahlenthaltung wird zugleich als Mittel gesehen, um die nationalen Regierungen als Verantwortliche der Krise abzustrafen und ist so auch eine Alternative zur Protestwahl.
Der Diskurs über Ursachen und Konsequenzen der rückläufigen Wahlbeteiligung, wie er in Deutschland zumindest im Anschluss an Wahlen existiert, findet in anderen europäischen Staaten kaum statt. Diskutiert wird dort, wenn überhaupt, nur über Reformen des Wahlsystems. Die Frage, wie es zu der stetig steigenden Zahl an Nichtwählern kommt, wird jedoch weitgehend ignoriert. Eine solche gesamteuropäische Debatte wäre aber gerade im Hinblick auf die Frage nach der Legitimation und Legitimität des demokratischen Systems in ganz Europa wünschenswert.
Ansprechpartner in der Stiftung:
Johann Ivanov
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