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Kurz- und langfristige Lösungsansätze. Ein Beitrag von Dr. Sonja Bastin.
Bild: Homeschooling von Jessica Lewis / unsplash lizenziert unter CC0
Für weitere Wochen, gar Monate, wird ein Großteil der unter Zehnjährigen keine Bildungs- und Betreuungseinrichtungen besuchen dürfen, so die Bundesregierung. Sicher ist die Eindämmung der COVID19-Pandemie weiterhin eine zentrale Aufgabe. Doch: Wo bleibt das kurzfristig auffangende Maßnahmenpaket für die seit Wochen alleingelassenen berufstätigen Eltern? Wo bleibt die Debatte über die kurz- und langfristigen Folgen der aktuellen Maßnahmen für Familien, das Kindeswohl und die Gleichstellung der Geschlechter? Institutionelle Kinderbetreuungsangebote haben in der Vergangenheit suggeriert, dass die Entscheidung für Elternschaft und Berufstätigkeit gesellschaftliche Unterstützung erfährt. Wo bleibt diese Unterstützung jetzt?
Berufstätige Eltern, die zeitgleich Sorgearbeit leisten, erreichen schon unter normalen Umständen häufig die Belastungsgrenzen. Bereits 2001 hat das Bundesverfassungsgericht entschieden, dass Eltern verfassungswidrig belastet werden, weil ihr Erziehungsbeitrag nicht berücksichtigt wird. Aktuell werden die Belastungsgrenzen jedoch flächendeckend überschritten, und das wird noch einige Monate lang anhalten – auch dann, wenn die Einrichtungen wieder öffnen. Denn der Jahresurlaub und sämtliche Reserven werden aufgebraucht sein, wenn der Alltag, bei vielen Kleinkind-Eltern beispielsweise mit einer erneuten Eingewöhnung der Kinder in die Tagesstätten verbunden, wieder losgeht. Möglicherweise macht dieses (oder das nach Expertenmeinung sicher kommende nächste) Virus weitere Kita- und Schulschließungen phasenweise notwendig.
Die zu lang ausgebliebenen Reaktionen der Bundesregierung haben das Vertrauen der Eltern massiv verletzt; nur langsam beginnt die Landes- und Bundespolitik zu reagieren. Auch ist die Kritik groß an den Maßnahmenempfehlungen der Leopoldina-Ad hoc Stellungnahme (im Übrigen ein fast ausschließlich von Männern geschriebener Bericht), den einseitigen Entscheidungen der Bundesregierung und dem ausbleibenden politischen Diskurs.
Seit Wochen warnen Wissenschaftler_innen vor einer Verschärfung von sozialer Spaltung und Geschlechterungleichheit durch die Pandemie - und den Folgen für die frühkindliche Entwicklung. Ein von 43 Wissenschaftlerinnen unterzeichneter Kommentar zur Leopoldina-Stellungnahme nennt die Belastungen und Gefahren für Familien, insbesondere Frauen und Kinder, ausführlicher; ebenso Stellungnahmen von Verbänden, Gleichstellungsstellen und Wissenschaft. Und auch in der medialen Berichterstattung werden die Belastungen der sich alleingelassen fühlenden Elternschaft nun intensiver thematisiert.
Es wird betont, dass „Kinderbetreuung kein privates Problem“ ist. Es werden kurzfristige kreative Lösungen gefordert, wie bspw. Kitas in kleinen Gruppen und bedarfsabhängig schrittweise zu öffnen oder ein (paritätisches) Krisenelterngeld einzuführen. Eine neu gegründete Elterninitiative strebt eine breite Vernetzung an, weil sie die bisherigen Strukturen als unzureichend begreift.
Das bestehende Wirtschaftssystem räumt noch immer dem produzierenden Gewerbe deutliche Priorität vor sozialen und pflegenden Tätigkeiten ein; auch in der Leopoldina-Stellungnahme wird dies deutlich. Das System, befeuert durch soziale Normen, baut darauf, dass die private Care-Arbeit, unentlohnt, die Volkswirtschaft tragende Gesellschaftsmitglieder hervorbringt. Care-Tätigkeiten werden, in den kritisierenden Worten von Prof. Uta Meier-Gräwe, „nicht als produktiv und wertschöpfend angesehen[…], sondern nach wie vor als ärgerliche Kostenfaktoren, die möglichst minimiert werden sollen“. Diese Abwertung geht insbesondere zu Lasten von Frauen, die die unter- und unbezahlte Sorgearbeit um ein vielfaches häufiger erledigen als Männer. Ihnen fehlt in der Folge u.a. die Zeit, um dafür zu sorgen, dass diese Lastenungleichverteilung in der Politik eine relevante Rolle spielt bzw. um selbst in der Politik mitzubestimmen.
Nur nach diesem konservativen Wirtschaftsverständnis geht die aktuelle Strategie der Bundesregierung auf. Kurzfristig. Sie verschiebt die Leistung, die sonst von Personal in Betreuungs- und Bildungseinrichtungen erbracht wird (betreuen, erziehen, bilden, putzen, kochen, einkaufen) kompensationslos ins Private, Unsichtbare.
Expert_innen weisen seit Jahrzehnten auf den systemimmanenten Rechenfehler hin und erhalten immer breitere Unterstützung in der Gesellschaft. Langfristige Lösungen müssen her, um ein resilientes, ein Care-basiertes Wirtschaftssystem aufzubauen. Eine Bepreisung von Care-Arbeit würde es ermöglichen, sie im Bruttoinlandsprodukt zu berücksichtigen und ihre Kosten auf alle Profitierenden, also auch auf Unternehmen und Staat, umzuverteilen. Flexible Erwerbs-Sorgemodelle, wie das Optionszeitenmodell, könnten die derzeit verdichteten zu „atmenden Lebensläufen“ umbauen. Nach französischem Vorbild könnte danach jede_r für bis zu neun Jahre (bei Teilzeiterwerbstätigkeit länger) für private Care-Arbeiten (rentenrelevant) entlohnt werden, auch dies wieder finanziell getragen durch alle gesellschaftlichen Bereiche.
Forscher_innen betonen, dass derartige Modelle Teil eines Gesamtreformpaketes sein müssen. Demnach muss eine gerechte Individualbesteuerung eingeführt, Gehaltsunterschiede zwischen den Geschlechtern aufgehoben und die teils bereits gesetzlich verankerten Verpflichtungen zu geschlechtergerechter Pädagogik und Sensibilisierung in allen Bereichen des öffentlichen und privaten Lebens umgesetzt werden. Ein derart reformiertes System würde ein Recht auf Versorgen und Versorgtwerden bieten. Dessen Kosten wären von der Allgemeinheit getragen und gleich zwischen den Geschlechtern verteilt.
Den seit langem bestehenden Forderungen nach einer Aufwertung von Pflegeberufen wird endlich mehr Aufmerksamkeit zu teil. Und es bleibt zu hoffen, dass eine starke gewerkschaftliche Vertretung dafür sorgt, dass diese nicht in den kommenden Monaten wieder versandet. Die unbezahlte Sorgearbeit kann nicht gleichermaßen auf gewerkschaftlichen Rückhalt hoffen. Aber wir alle – und an erster Stelle die Wirtschaft – sind maßgeblich von der beruflichen, aber sogar mehr noch von der privaten Sorgearbeit abhängig. Ohne Care gibt es keine Wirtschaft. Und jetzt tritt zu Tage, dass genau deshalb das bestehende System nicht krisenfest ist.
In einem beispiellosen Zusammenschluss innerhalb der Initiative „Equal Care Day“ haben erfahrene Fachexpert_innen aus Wissenschaft, Politik, Wirtschaft und Praxis einen Forderungskatalog erarbeitet, der die genannten Maßnahmen vereint. Noch im Mai wird er der Bundespolitik vorgestellt. Jede einzelne unterstützende Stimme ist hier gefragt.
Wären diese Maßnahmen schon vor der Pandemie in die Wege geleitet worden, wären in den vergangenen Wochen andere Debatten geführt worden. Es wäre eine schnellere Umsetzung kurzfristiger Maßnahmen erfolgt. Das Sorgesystem stünde jetzt nicht vor dem Kollaps. Der gesellschaftliche Zusammenhalt wäre weniger unter Druck. Wir hätten ein sehr viel krisenfesteres System als das bestehende. Diese Pandemie ist ein Warnschuss. Er zeigt: Care-Arbeit muss in unser aller Interesse lieber heute als morgen als Wirtschafts- und Resilienzfaktor erkannt und umgesetzt werden.
Autorin:
Dr. Sonja Bastin ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Abteilung Lebenslauf, Lebenslaufpolitiken und soziale Integration am Forschungszentrum Ungleichheit und Sozialpolitik der Universität Bremen. Ihre Dissertation schrieb sie am Max-Planck-Institut für demografische Forschung in Rostock zum Thema "Partnerschaftsverläufe alleinerziehender Mütter". Sie hat in Bremen und Melbourne studiert und ist Mutter von drei Kindern (3, 6, 9).
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