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von Giacomo Corneo
Wo ist der Enthusiasmus für das Großprojekt Europa geblieben, der noch vor der Euro-Krise so verbreitet war? Bei denjenigen, die sich an die Zuversicht erinnern, mit der damals an ein künftiges föderales Europa gedacht wurde, hinterlässt die heutige desillusionierte Stimmung einen bitteren Geschmack. Die überwältigende Dominanz einzelstaatlicher Ansätze zur Bekämpfung des Coronavirus hat die fehlende Handlungsfähigkeit der EU offenbart. In vielen Mitgliedsländern prägen nationalistische Töne die Berichterstattung, während ein pan-europäischer öffentlicher Diskurs entweder ganz ausbleibt oder nur im Rahmen elitärer Veranstaltungen geführt wird. Mittlerweile haben viele Europäer_innen den Brexit, das politische Abdriften in Polen und Ungarn und die schleppende Rolle der EU während des Ausbruchs der Pandemie als Zeichen eines Absterbens der europäischen Idee ausgelegt. Sie haben das Projekt eines föderalen Europas abgeschrieben und betrachten die EU nur noch als einen von Technokrat_innen reglementierten großen Binnenmarkt.
Europäische Identität wiederbeleben – Europäischen Bürgerfonds einrichten
Und dennoch: Diese Krise bietet die Chance, die europäische Identität wiederzubeleben und einen breiten europäischen öffentlichen Diskurs in Gang zu setzen. Der Impuls dafür könnte von einem europäischen Anlagefonds, einem Europäischen Bürgerfonds (EBF), ausgelöst werden, dessen Erträge für die Finanzierung einer EU-weiten sozialen Dividende verwendet werden.
Öffentliche Institutionen können Grundwerte ausdrücken, dadurch kollektive Identität stiften und entsprechende Verhaltensmuster hervorrufen. Der EBF und seine EU-weite soziale Dividende würden die Präsenz Europas im Alltag der Menschen positiv belegen und Symbol für die Bindekraft der europäischen Ideale von Freiheit, Gleichheit und Solidarität sein. Ähnlich wirkt sich der Staatsfonds Norwegens für die norwegische Bevölkerung und der Staatsfonds Alaskas für die Einwohner_innen von Alaska aus. Der EBF wäre der Staatsfonds der EU-Bürger_innen.
Die Möglichkeiten, einen solchen Fonds einzurichten, sind durch die beschlossenen und die geplanten finanziellen Maßnahmen der EU-Kommission zur Abfederung der wirtschaftlichen Folgen der Pandemie größer geworden. Ein Teil dieser Maßnahmen besteht aus Krediten und Beteiligungen an Unternehmen, die auf kurzfristige finanzielle Hilfe angewiesen sind, um die wirtschaftliche Krise zu überstehen. Bei der Rückkehr zu normalen Zuständen werden diese Unternehmen in der Regel keine besonderen Liquiditätsprobleme mehr und die notwendigen Restrukturierungen hinter sich haben. Gemäß den marktwirtschaftlichen Grundsätzen werden dann diese Kapitalhilfen zurückgefahren. Ein anderer Teil der geplanten finanziellen Maßnahmen der EU-Kommission besteht aus Krediten und Zuschüssen an Mitgliedstaaten. Außer im unwahrscheinlichen Fall eines massiven Kapitalverlusts wird die Beendigung der Kapitalhilfen der EU-Kommission einen substanziellen finanziellen Spielraum eröffnen. Hieraus ließe sich das Anfangsvermögen des neuen EBF bilden.
Ein europäischer Anlagefonds und seine soziale Dividende
Der EBF wäre eine eigenständige Institution der EU, dessen Verwaltung aus politisch unabhängigen Fachleuten besteht und durch bürgernahe Transparenz gekennzeichnet ist. Seine Aufgabe wäre es, das erhaltene Vermögen gewinnbringend anzulegen unter Beachtung ethischer Richtlinien. Der EBF wäre von der EU-Kommission und dem EU-Parlament politisch unabhängig und würde ein klares Ziel verfolgen: die risikoangepasste Rendite seines Vermögens langfristig zu maximieren, damit eine möglichst hohe soziale Dividende ausgezahlt werden kann.
Der EBF sollte überwiegend in risikobehaftete Anlagen, hauptsächlich in den globalen Aktienmarkt, investieren. Denn die meisten Privathaushalte in Europa halten zu wenige risikobehaftete Finanztitel, insbesondere Aktien, im Vergleich zu effizienten Portfolios. Gerade bei riskanten Anlagen – im Gegensatz zu den traditionellen Sparprodukten – besteht somit Bedarf eines korrektiven Eingriffs durch die öffentliche Hand. Das Portfolio des EBF sollte aber möglichst diversifiziert sein und Wertpapieren mit kontrazyklischen Erträgen den Vorzug geben. Der EBF sollte daher überwiegend in die außereuropäischen Aktienmärkte investieren. Der Anteil, der in die europäischen Märkte investiert wird, sollte explizit begrenzt werden, auf maximal 15 Prozent etwa, was auch helfen würde, den EBF vor politischem Druck und Lobbyismus zu schützen. Der EBF sollte nicht mit Führungsaufgaben auf unternehmerischer Ebene überfrachtet werden. Er sollte lediglich das kollektive Portfolio der Europäer_innen effizient verwalten. Auch hinsichtlich des Anteils am Aktienkapital der Unternehmen in Besitz des EBF bedarf es deshalb einer expliziten Obergrenze von z. B. fünf Prozent.
Für seine Verwaltungs- als auch Finanzierungskosten müsste der EBF selbst aufkommen. Letztere entsprächen einer Verzinsung des vom EBF erhaltenen Anfangskapitals zum risikolosen Zins. Nach Abzug dieser Kosten würde die erwartete Rendite des Fonds bei ca. sechs Prozent im Jahr liegen. Diese Größenordnung steht im Einklang mit der empirischen Evidenz zur sogenannten Equity-Risk-Prämie. Diese Rendite wäre zweckgebunden an die Finanzierung einer EU-weiten sozialen Dividende, die regelmäßig an jeden Menschen, der seinen Hauptwohnsitz seit einer vorgegebenen Mindestanzahl an Jahren in der EU hat, ausbezahlt wird. Minderjährige könnten die Hälfte des regulären Betrags erhalten.
Nach Modellrechnungen liegt die langfristig optimale Größenordnung eines solchen Fonds zwischen einem Drittel und der Hälfte des BIPs. Nun wird die Erstausstattung des EBF durch die Verwendung der zurückbezahlten Corona-Hilfen einen wesentlich kleineren Umfang erreichen, sodass eine Aufstockung notwendig sein wird. Die EU oder der EBF selbst könnte jährlich auf dem Weltkapitalmarkt etwa einen BIP-Prozentpunkt Schulden aufnehmen, um sich diesem Ziel graduell zu nähern. Diese Kreditaufnahme könnte durch die Ausgabe langfristiger inflationsindexierter Anleihen erfolgen, die international stark nachgefragt werden und hinsichtlich der Preisstabilität in Europa einen wünschenswerten Selbstbindungseffekt auslösen. Aufgrund stabil niedriger Zinsen liegen bestmögliche Rahmenbedingungen für diese Art der Vermögensbildung vor. Nach Zielerreichung wird die soziale Dividende jährlich 1.000 bis 1.500 Euro pro Person betragen.
Somit würde der EBF die Teilhabe aller EU-Bürger_innen an den hohen Kapitalrenditen des globalen Aktienmarkts ermöglichen – Renditen, von denen heute die überwiegende Mehrheit der Haushalte faktisch ausgeschlossen ist. Er würde zu einer gleichmäßigeren Verteilung der Einkommen in Europa beitragen: Besonders Familien mit kleinem Einkommen würden von ihm profitieren, denn bei ihnen würde die soziale Dividende einen höheren Anteil des Gesamteinkommens ausmachen. Der Fonds könnte in Zeiten überdurchschnittlicher Rendite finanzielle Reserven aufbauen, die in Zeiten niedriger Rendite abgebaut werden, um die Auszahlungen an die Bürger_innen zu verstetigen. Damit fiele die soziale Dividende wesentlich stabiler aus als die Rendite des Aktienmarkts, obwohl der EBF überwiegend in Aktien investieren würde.
Der Wert der Selbstbestimmung
Der EBF könnte den verbreiteten Wunsch nach mehr Selbstbestimmung erfüllen, in dem er die Durchführung von Sabbatjahren finanziert. Zu diesem Zweck wäre es für jede_n Erwerbstätige_n in der EU möglich, ihre/seine soziale Dividende in ein „Sabbat-Konto“ beim EBF für eine feste Anzahl von Jahren zu reinvestieren, anstatt sie sich auszahlen zu lassen. Dies ergäbe eine Auszahlung am Periodenende, die für die Finanzierung eines Sabbatjahres zu verwenden ist. Beispielsweise ergibt eine soziale Dividende in Höhe von 1.250 Euro nach sieben Jahren eine Auszahlung zwischen 10.492 und 11.122 Euro in Abhängigkeit von der Methode der Kapitalisierung, wenn die Rendite sechs Prozent beträgt. Eine arbeitnehmerfreundliche Regelung der Beurlaubungen beim Auflösen eines „Sabbat-Kontos“ – vergleichbar mit dem Anspruch auf Elternzeit in Deutschland – würde die Durchführung der Sabbatjahre erleichtern.
Der EBF könnte auch wirksam vor Altersarmut schützen. Davon würden insbesondere diejenigen profitieren, deren Altersvorsorge heute unzureichend ist: Geringverdiener_innen, Personen, die unbezahlte Arbeit im Haushalt leisten oder auch Selbstständige, die von keiner berufsständischen Versicherung ausreichend versorgt werden. Ab einem Lebensalter von beispielsweise 40 Jahren könnte der EBF ein „Altersvorsorge-Konto“ anbieten. Mit dessen Eröffnung würde man auf die Auszahlung der sozialen Dividende über eine Zeit von beispielsweise 25 Jahren verzichten, stattdessen wird die Dividende auf dieses Konto eingezahlt. Am Ende der 25 Jahre wird das angesparte Kapital in eine Rente umgewandelt, die dem/der Bürger_in, zusammen mit der regulären sozialen Dividende, ausgezahlt wird. Bei den vorhin angenommenen Größen liegt diese Rente bei rund 5.000 Euro im Jahr. Denkbar wäre auch, dass jedem/jeder Bürger_in im Alter zwischen 40 und 65 Jahren automatisch ein solches „Altersvorsorge-Konto“ zugewiesen wird. Dank der Aufstockung durch die soziale Dividende und die entsprechende Zusatzrente wäre das Problem der Altersarmut weitgehend gelöst.
Ein europäischer öffentlicher Diskurs mit globalem Gewicht
Die Anlagen des EBF sollten im Einklang mit den Idealen des europäischen Projekts stehen. Es wäre Aufgabe der europäischen Öffentlichkeit, ethische Vorgaben zu formulieren, die die Auswahl an Aktien, in die der EBF investieren darf, einschränken. Die konkrete Umsetzung dieser ethischen Bedingtheit könnte sich am Beispiel des Staatsfonds Norwegens orientieren, der bereits seit Jahren erfolgreich damit experimentiert. Ein demokratisch erarbeiteter Richtlinienkatalog ist hier vorausgesetzt, der Handlungen von Unternehmen definiert, die für das Gemeinwesen nicht hinnehmbar sind. Der Katalog wurde vom norwegischen Parlament verabschiedet. Eine Kommission prüft, ob Unternehmen, in die der Fonds investiert hat, diese ethischen Richtlinien eingehalten haben. Bei Verstoß müssen die Aktien veräußert werden.
Die Ausgestaltung des EBF als ethischen Anlagefonds würde die Entstehung eines wertorientierten europäischen öffentlichen Diskurses fördern und zur Bildung einer europäischen Identität entscheidend beitragen. Denn zunächst müssten durch eine breite Debatte die Kriterien formuliert werden, die das Anlageuniversum des Fonds begrenzen. Sollten Unternehmen, die Militärdrohnen herstellen, ausgeschlossen werden? Was ist mit Unternehmen, die Kinderarbeit verwenden? Dürfen wir in Unternehmen investieren, die in Steueroasen angesiedelt sind? Die immer wiederkehrende Diskussion über Fragen dieser Art wird das Bewusstsein über die eigenen Werte schärfen und eine kollektive Identität formen. Der EBF wird uns zwingen, bei dieser Diskussion zu einem ehrlichen Ergebnis zu kommen. Denn die Setzung von Prioritäten bei den Anlagemöglichkeiten hat konkrete Folgen: Je strikter die Kriterien formuliert werden, desto kleiner die Auswahl, desto geringer die Renditechancen und desto niedriger wird im Schnitt die soziale Dividende sein. Die Formulierung der ethischen Richtlinien und ihre Operationalisierung sind als ein Entdeckungsverfahren zu betrachten, bei dem europäische Wertvorstellungen präziser werden und Gewicht erlangen – ein Prozess, der nie abgeschlossen sein wird.
Die ethische Bedingtheit der Anlagen hat aber nicht nur eine expressive Funktion: Sie wird auch bedeutsame Auswirkungen auf das Verhalten der Konzerne weltweit haben. Da größere Aktienveräußerungen zu einer Senkung ihres Preises führen, entwickelt sich durch die ethischen Vorgaben des EBF ein Druck auf die Konzerne, die vom europäischen Gemeinwesen hervorgehobenen Grundwerte zu respektieren.
Mit dem EBF hätte Europa eine Institution, die auf Augenhöhe mit den größten institutionellen Anlegern und insbesondere den größten Vermögensverwaltern der Welt verhandeln könnte. Beispielsweise verwaltet die US-Firma BlackRock gut 7 Billionen US-Dollar – ein optimaler EBF käme auf ca. die Hälfte. Vermögensverwalter wie BlackRock können reale Entwicklungen wesentlich beeinflussen, weil sie bedeutsame Beteiligungen an allen großen Unternehmen halten, die in einer Branche im Wettbewerb zueinanderstehen sollten – das Problem des „common ownership“. Insbesondere über informelle Gespräche zwischen einem solchen Investor und den Manager_innen seiner Portfoliounternehmen in einer bestimmten Branche kann die Intensität des Wettbewerbs reduziert und eine gemeinsame Strategie der Branchenführer gegenüber Dritten – z. B. dem Staat bei Regulierungsfragen – koordiniert werden. Missbraucht der Vermögensverwalter seinen Einfluss auf diese Weise, kann er einen erheblichen volkswirtschaftlichen Schaden verursachen. Ist aber der EBF an den gleichen Unternehmen beteiligt, hätten diese einen den europäischen Grundwerten verpflichteten Investor, der diesem Missbrauch vorbeugen könnte.
Wenn das Kapital des EBF tatsächlich bei einem Drittel bis zur Hälfte des BIP der EU liegen würde, wäre er bei Weitem der größte Staatsfonds weltweit. In einer multipolaren Welt mit Großmächten, deren Interessen teilweise von den europäischen Interessen wesentlich abweichen, könnte eine solche geballte finanzielle Kraft ein wichtiges Instrument für den internationalen Interessenausgleich sein.
Solidarität mit Stabilitätskultur europaweit verbinden
Da die Beiträge der Mitgliedstaaten zum Budget der EU proportional zum nationalen BIP sind, während die soziale Dividende europaweit einheitlich wäre, wäre die Bildung des EBF auch ein Akt der Solidarität von Ländern wie Deutschland gegenüber den weniger reichen Mitgliedsländern der EU. Diese Art der Solidarität wird dadurch ermöglicht, dass der EBF sich auf dem Weltkapitalmarkt so günstig verschulden kann, dass die von ihm erzielte Nettorendite ausreicht, um eine substanzielle soziale Dividende zu finanzieren. Um diesen günstigen Zugang zum Weltkapitalmarkt aufrechtzuerhalten, wird die EU ihre internationale Reputation eines solventen Kreditnehmers pflegen müssen. Langfristig bedarf es dazu einer Stabilitätskultur, die tiefe Wurzeln schlägt. Somit geht bei diesem Politikansatz Solidarität Hand in Hand mit der Vermittlung einer Stabilitätskultur in der gesamten EU. Die vom EBF finanzierte soziale Dividende würde die Einwohner_innen Europas stets daran erinnern, dass sie und ihre Nachfahr_innen von der Verwertung dieser Stabilitätskultur profitieren. Hierdurch würde diese Institution auch einen permanenten kollektiven Anreiz schaffen, für europaweite solide öffentliche Finanzen zu sorgen.
Giacomo Corneo ist Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliche Finanzen an der Freien Universität Berlin.
Die im Beitrag zum Ausdruck gebrachten Ansichten sind nicht notwendigerweise die der Friedrich-Ebert-Stiftung.
Bei dem Beitrag handelt es sich um eine gekürzte Vorabveröffentlichung. Die Langfassung des Textes ist als WISO direkt erschienen.
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