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Warum ein Kompromiss über die neue EU Asylreform noch immer aussteht, aber eine Einigung dennoch nicht unmöglich ist - darüber sprechen wir mit Birgit Sippel, Mitglied des EU Parlaments und Sprecherin der S&D Gruppe im LIBE Ausschuss.
Liebe Frau Sippel, am 8. und 9. Juni kamen die EU Innenminister:innen beim Treffen des EU Ministerrates in Luxemburg zusammen, um über Aspekte einer EU Asylreform zu beraten. In der medialen Berichterstattung hieß es danach unter anderem, dass sich die EU Innenminister:innen auf eine Reform verständigt hätten. Ist das so korrekt?
Grundsätzlich kommen mir bei der medialen Berichterstattung zur Asylreform zwei wichtige Aspekte zu kurz. Der erste betrifft die korrekte Kommunikation darüber, wo wir im EU-Gesetzgebungsverfahren wirklich stehen. So wird fälschlicherweise oft eine bloße Positionierung der Minister:innen der Mitgliedstaaten mit der Verabschiedung eines neuen Gesetzes gleichgesetzt (Für mehr Informationen zum EU Gesetzgebungsprozess, siehe Infobox unten).
Konkret stellt die Entscheidung, die die Innenminister:innen Anfang Juni getroffen haben, nur das Mandat des Ministerrates für die anschließenden voraussichtlich schweren Trilog-Verhandlungen mit dem EU-Parlament zum EU Asylpaket dar. Es handelt sich also nicht um die endgültige Fassung der Gesetze, sondern nur um einen ersten Schritt dorthin. Schlagzeilen wie „EU einigt sich auf Asyl-Reform“ kommen also deutlich zu früh.
Der zweite Aspekt bezieht sich darauf, dass sich die Minister:innen weiterhin nicht zum gesamten Asylpaket positioniert haben. Von den ursprünglich fünf Gesetzesvorschlägen im EU-Asylpaket, die die EU Kommission im September 2020 vorgeschlagen hat, gibt es also weiterhin nur zu vier Vorschlägen eine Position der Mitgliedsstaaten. Das Europäische Parlament hat sich dagegen bereits Ende März auf seine Position zu allen fünf Gesetzesvorschlägen geeinigt. (Für mehr Informationen zum EU Asylpaket, siehe Infobox unten)
Aber dem Rat fehlt auch nach dem Treffen in Luxemburg weiterhin eine letzte Einigung zum Vorschlag hinsichtlich des Umgangs mit Migrant:innen in Krisensituationen. Dass alle Vorschläge und nicht nur Einzelteile auf EU-Ebene verhandelt werden ist wichtig, damit wir am Ende kein Stückwerk, sondern eine vollumfassende Reform haben.
Gerade uns Sozialdemokrat:innen ist es wichtig, dass nicht nur Rosinen herausgepickt, sondern tatsächlich alle Elemente der Asylreform verabschiedet werden. Die letzten Jahre haben gezeigt, dass viele Mitgliedstaaten eigentlich nur die Außengrenzen abschotten möchten, im Asylbereich aber wenig Reformwillen zeigen. Diese Einseitigkeit ist mit uns nicht zu haben.
In den meisten Fällen findet der EU-Gesetzgebung in den folgenden Etappen statt...
Zuerst legt die Europäische Kommission einen Gesetzesvorschlag vor. Dieser Vorschlag wird jeweils im Ministerrat und im Europaparlament beraten.
Beide Institutionen passen den Gesetzesvorschlag dann jeweils nach ihren Wünschen an und verabschieden diese geänderten Fassungen des ursprünglichen Vorschlags jeweils mehrheitlich. Diese Texte bilden jeweils die Verhandlungsposition der beiden Institutionen. Bei den Berichten über die Einigung der EU-Innenminister:innen ging es um die Einigung des Ministerrates auf eine solche Verhandlungsposition.
Die Parlaments- und die Ratspositionen können teilweise weit auseinanderliegen und dienen als Verhandlungsgrundlage für die darauffolgenden Verhandlungen (Triloge) zwischen Europaparlament und dem Ministerrat. Ziel dieser Trilog-Verhandlungen ist, sich auf eine gemeinsame Version des Gesetzesvorschlags zu einigen.
Wird im Trilog zwischen Europaparlament und Ministerrat ein Kompromiss zwischen den verschiedenen Verhandlungspositionen erzielt, muss dieser abschließend noch mehrheitlich durch Rat und Parlament bestätigt werden um dann als EU-Gesetz (Verordnung oder Richtlinie) in Kraft zu treten.
Es handelt sich bei einseitigen Beschlüssen im Ministerrat oder im Europäischen Parlament also noch nicht um geltendes EU-Recht, sondern nur um die jeweiligen Verhandlungspositionen. Damit ein Gesetzesvorschlag dann geltendes Recht wird, braucht es darüber hinaus eine Einigung in den Trilogen und dann jeweils von den Ko-Gesetzgebern, Rat und Parlament, die mehrheitliche Unterstützung für diese Einigung.
Am 23. September 2020 veröffentlichte die EU Kommission ihren Vorschlag für einen sogenannten „Neuen Pakt für Migration und Asyl“. Dieses Paket enthält unter anderem fünf zentrale Gesetzesvorschläge, die ...
entweder bestehende Gesetze reformieren sollen oder auf die Schaffung neuer Gesetzesgrundlagen im Bereich Asyl abzielen. Bei diesen Vorschlägen handelt es sich allesamt um Verordnungen, die verbindlich sind und die, einmal verabschiedet, direkt in allen EU-Mitgliedstaaten gelten.
Bei den fünf Gesetzesvorschlägen handelt es sich um:
1. Eine Reform der Eurodac-Verordnung, durch welche die aktuelle Eurodac-Datenbank um zahlreiche neue Daten erweitert werden würde. Außerdem soll die Datenbank zahlreichen Behörden in allen Mitgliedsländern zugänglich gemacht werden. Bisher werden in der Datenbank nur die Fingerabdrücke von asylsuchenden und irregulär eingereisten Personen erfasst.
2. Die Screening-Verordnung sieht vor, dass an den EU-Außengrenzen innerhalb von fünf Tagen alle irregulär eingereisten Menschen registriert werden und eine Identitäts- und Sicherheitsprüfung und Gesundheitschecks durchlaufen. Die Verordnung könnte eine sogenannte ‚Fiktion der Nichteinreise‘ im EU-Recht verankern: Schutzsuchende Personen sollen während des Screening-Verfahrens als ‚nicht eingereist‘ gelten, obwohl sie sich de facto bereits auf europäischem Boden befinden. Daneben würde in der Screening-Verordnung ein Mechanismus zur Überwachung der Grundrechte eingeführt, der Menschenrechtsverletzungen aufdecken soll.
3. Der zentrale Aspekt der Asyl- und Migrationsmanagement-Verordnung beinhaltet Vorschläge zu einem EU-weiten Solidaritätsmechanismus. Dieser soll dafür sorgen, dass alle EU Staaten sich an der Aufnahme und Versorgung von Asylsuchenden in der EU beteiligen. Der Solidaritätsmechanismus sieht vor, dass es keine verpflichtende Verteilung von Asylsuchenden innerhalb der EU geben soll. Statt einer verpflichtenden Übernahme von Asylsuchenden von anderen EU Staaten, soll auch finanzielle oder materielle Unterstützung geleistet werden können.
4. Die Asylverfahrensverordnung versucht die Asylverfahren in der EU zu vereinheitlichen. Im Vorschlag der Kommission sollen Mitgliedstaaten für bestimmte Personengruppen aus Drittstaaten mit niederiger Anerkennungsquote ein verpflichtendes Asyl-Grenzverfahren durchführen. Das Grenzverfahren wird im Gesetzesvorschlag im Detail dargelegt, inklusive der Vorgabe, dass Personen im Grenzverfahren unter haftähnlichen Umständen festgehalten werden könnten, darunter auch Familien mit Kindern über 12 Jahren. Die Anfechtung der Entscheidung im Grenzverfahren soll außerdem keine aufschiebende Wirkung haben, sodass die Abschiebung durchgeführt werden kann, noch während die Entscheidung vor Gericht erneut geprüft wird.
5. Die Verordnung zur Bewältigung von Krisensituationen und Situationen höherer Gewalt soll u.a. die „Richtlinie über den temporären Schutz“ (TPD) ablösen, die seit 2022 erfolgreich für Schutzsuchende aus der Ukraine aktiviert wurde. Im Vergleich zur temporären Schutzrichtlinie böte die neue Krisenverordnung zwar umfassenderen Schutz, aber nur für die Gruppe von Schutzsuchenden, die in nicht-krisenzeiten subsidiären Schutz erhalten würden. Die TPD kann auf einen größeren Personenkreis angewendet werden. Für einen umfassenderen Vergleich zwischen der TPD und dem Asylsystem siehe Seite 33 der Publikation „Mit offenen Armen: die kooperative Aufnahme von Kriegsflüchtlingen aus der Ukraine in Europa“.
Was sind die Hauptunterschiede zwischen der Verhandlungsposition des Parlaments und des Rates/der Mitgliedsstaaten?
Ich erwähnte ja bereits, dass uns schwierige Verhandlungen bevorstehen. Diese Annahme beruht auf den teilweise weit auseinanderliegenden Positionen zwischen Rat und Parlament. Diese sieht man deutlich bei den berüchtigten Asyl-Grenzverfahren, die Teil des Vorschlags zur „Asylverfahrensverordnung“ sind. Dabei sollen bestimmte Personengruppen ein Asyl-Schnellverfahren an der Außengrenze durchlaufen, in dem sie höchstwahrscheinlich durchgehend inhaftiert werden und weniger Zugang zu Rechtsunterstützung sowie verringerte Verfahrensrechte haben.
Diese Grenzverfahren sind für meine sozialdemokratische S&D-Fraktion hochproblematisch und im Parlament konnten wir uns beim Ringen um die EP-Verhandlungsposition erfolgreich gegen die Verpflichtung für EU-Staaten einsetzen, diese Verfahren durchführen zu müssen. Sollte ein Mitgliedstaat solch ein Verfahren dennoch anwenden, haben wir sichergestellt, dass unbegleitete Minderjährige und Familien mit Kindern unter 12 Jahren stets ausgenommen werden sollten. Leider haben Liberale und Konservative im Europaparlament verhindert, Kinder jeglichen Alters von den Grenzverfahren auszunehmen. Dennoch hat das Parlament die bedenklichen Kommissionsvorschläge entschärft.
Der Ministerrat will dagegen in die andere Richtung gehen und alle Mitgliedstaaten zur Anwendung der Verfahren zwingen und dabei auch keine Rücksicht auf Familien mit Kindern nehmen. Einzig unbegleitete Minderjährige sollen üblicherweise ausgenommen werden. Auch die maximale Länge der Verfahren, für die wir im Parlament 12 Wochen vorsehen, möchte der Rat auf 16 Wochen verlängern, was eine Verlängerung haftähnlicher Bedingungen bedeuten würde.
Gibt es noch weitere Aspekte, die das Parlament kritisch sieht?
Die Mitgliedstaaten wollen auch eine substantielle Ausweitung des Sichere-Drittstaaten-Konzepts. Damit sollen mehr Menschen in Länder abgeschoben werden, durch die sie womöglich nur kurzzeitig durchgereist sind. Es soll auch leichter zu einer Unzulässigkeitsentscheidung für Asylanträge kommen. Das heißt, dass viele Asylanträge unter den von den Innenminister:innen ausgeweiteten Umständen gar nicht mehr im Einzelfall geprüft werden würden, sondern von vorneherein als unzulässig abgelehnt werden. Und das unter Umständen nur, weil eine Person durch einen angeblich sicheren Drittstaat gereist ist.
Auch beim Thema faire Aufgabenteilung und Solidarität zwischen den Mitgliedsstaaten liegen wir nicht besonders nah beieinander. Während für das Parlament ein verpflichtender Solidaritätsmechanismus großteils aus der Umverteilung Schutzsuchender von Mitgliedsstaaten an den Außengrenzen über die ganze EU bestehen würde und es besondere Unterstützung bei Seenotrettungen geben muss, hat der Ministerrat andere Ideen. Hier ist es dem Rat das Wichtigste, dass kein Mitgliedstaat jemals verpflichtet wird, an einem Verteilungsmechanismus teilzunehmen. Deshalb sollen sich Mitgliedsstaaten mit 20.000€ pro Person von einer Verteilung geflüchteter Menschen freikaufen können. Wird das die Mitgliedsstaaten an den EU Außengrenzen entlasten? Ich glaube nicht.
Wird es bis zur nächsten Wahl zu einer Einigung über eine EU Asylreform kommen?
Damit die Einigung und der Beschluss der europäischen Asylrechtsreform rechtzeitig vor den Europawahlen im Juni 2024 erreicht werden kann, brauchen wir einen Abschluss der Verhandlungen bis Ende März 2024. Das ist ein ambitionierter Zeitplan, aber nicht unmöglich. Es kommt maßgeblich auf den politischen Willen und die Kompromissbereitschaft an. Insbesondere, weil der Ministerrat ja, wie gesagt, noch immer nicht zu allen Elementen der Asylreform verhandlungsfähig ist. Um zu einem ausgeglichenen Ergebnis zu kommen, brauchen wir aber gleichmäßigen Fortschritt in allen Bereichen.
Würde eine solche Einigung wirklich zu einer Verbesserung der Situation von Mitgliedsstaaten und schutzsuchende Menschen beitragen?
Wenn wir uns die derzeitige Situation an den Außengrenzen ansehen, die vielerorts geprägt ist von Grundrechtsverletzungen und von mangelnder Umsetzung der geltenden Asylregeln, könnte ich mir durchaus eine Verbesserung des tatsächlichen Status Quo vorstellen. Dafür brauchen wir aber Lösungen, die die Nöte der Menschen, sowohl der ankommenden, aber auch der lokalen Bevölkerung, tatsächlich ansprechen.
Der Kompromiss wurde ja auch aus deutschen Regierungskreisen als historischer Erfolg für solidarische Migrationspolitik und den Schutz von Menschenrechten gelobt. Teilen Sie diese Auffassung?
Wenn die Mitgliedstaaten es nach sieben Jahren schaffen, sich endlich auf eine Verhandlungsposition zu einigen, dann ist das tatsächlich - bei aller inhaltlichen Kritik - ein bemerkenswerter Durchbruch. Das wäre vor einigen Jahren noch nicht möglich gewesen. Dass die gefundenen Kompromisse unter den Mitgliedsstaaten teilweise sehr bitter sind und auch weit von den Positionen des Parlaments abweichen, ist leider auch der Fall.
Nur wem ist geholfen, wenn wir keine Reform hinkriegen und das derzeitige System unverändert weiterexistiert mit all seinen Verstößen gegen die Rechtstaatlichkeit und der Straflosigkeit, die damit einhergeht? Wir im Europaparlament müssen und werden die Situation jetzt so akzeptieren wie sie ist und versuchen in harten Verhandlungen mit dem Ministerrat Verbesserungen durchzusetzen. Dann können wir am Ende auf das Ergebnis schauen und abwägen, ob sich die Mitgliedstaaten ausreichend in Richtung Humanität und Solidarität mit allen Beteiligten bewegt haben, um unsere Unterstützung für einen gemeinsamen Kompromiss zur EU-Asylreform zu erhalten.
Vielen Dank für dieses Interview!
Birgit Sippel ist seit 2009 Abgeordnete des Europäischen Parlaments. Seit 2014 ist sie Sprecherin der sozialdemokratischen S&D-Fraktion im Ausschuss für Bürgerliche Freiheiten, Justiz und Inneres (LIBE) und ist stellvertretendes Mitglied im Ausschuss für Beschäftigung und Soziale Angelegenheiten (EMPL). Daneben war sie stellvertretende Vorsitzende des Sonderausschusses für Künstliche Intelligenz im digitalen Zeitalter (AIDA) und stellvertretendes Mitglied im Untersuchungsausschuss zum Einsatz von Pegasus und ähnlicher Überwachungs- und Spähsoftware (PEGA). Sie war Verhandlungsführerin des Europäischen Parlaments für die Verordnung zum Zugriff auf elektronische Beweismittel (e-evidence) und führt weiterhin die Verhandlungen für die Verordnungen über Privatsphäre und elektronische Kommunikation (e-Privacy) und für das Screening-Verfahren von Drittstaatsangehörigen an den Außengrenzen, das die Kommission im Rahmen des Neuen Migrations- und Asylpakts vorgestellt hat.
Die im Artikel zum Ausdruck gebrachten Meinungen und Äußerungen der Gastautor_innen spiegeln nicht notwendigerweise die Haltung der Friedrich-Ebert-Stiftung wider.
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