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„Denke ich an Europa in der Nacht, so bin ich um den Schlaf gebracht“ – gerade nach dem Brexit bangen viele um die Zukunft Europas. Doch liegen die Probleme des Kontinents letztlich viel tiefer.
Bild: Glashaus von Rosmarie Voegtli lizenziert unter CC BY 2.0
So ist sich der Europaminister von NRW, Franz-Josef Lersch-Mense, sicher, dass die EU langfristig einen institutionellen Umbau benötigt. Es mangele an Transparenz und Demokratie, wie er in einem Interview erläutert. Doch bestehe kein Grund, den Kopf in den Sand zu stecken – im Gegenteil, denn gerade die jüngere Generation engagiere sich stark für Europa.
Herr Lersch-Mense, was beschäftigt Sie, wenn Sie aktuell an Europa denken?
Um es frei nach Heinrich Heine zu sagen: Denke ich an Europa in der Nacht, so bin ich um den Schlaf gebracht. Es gibt viele Fragen rund um den Brexit und dessen Folgen, die uns auch auf Landesebene beschäftigen. In NRW leben viele Menschen, die unmittelbar von der Entscheidung betroffen sind: von den ERASMUS-Studenten über die Angehörigen der britischen Streitkräfte, die in NRW stationiert sind, bis hin zu Arbeitnehmern britischer Niederlassungen, die bei uns im Land arbeiten.
Doch Europa wird nicht erst seit dem Brexit einer harten Probe unterzogen. Welche Bedeutung hat Nordrhein-Westfalen als europäische Region in dieser Situation?
Wir liegen als Ballungsraum mit über 17 Millionen Einwohnern mitten in Europa und wir sind – wenn man denn so will – auch das Zentrum des Bebens. Natürlich sind die aktuellen Fragen, die mit der Zukunft der Wirtschafts- und Währungsunion zusammenhängen, für uns entscheidend. Als Region haben wir darüber hinaus natürlich das Interesse, dass Europa nicht nur als Binnenmarkt und als Bankenunion wahrgenommen wird. Vielmehr ist es unser Wunsch, dass sich die vielfältigen Beziehungen zwischen den europäischen Völkern auch in Zukunft gut entwickeln. Wir haben insgesamt 834 Städtepartnerschaften, 149 davon mit dem Vereinigten Königreich. Diese direkten Beziehungen machen Europa als eine Wertegemeinschaft und auch als einen einheitlichen Kulturraum, in dem Vielfalt existiert und in dem ein Bewusstsein für gemeinsame Werte und Geschichte vorherrscht, hier vor Ort praktisch erfahrbar.
Aktuell gibt es Ängste, dass die Wertegemeinschaft EU wie wir sie kennen, auf Dauer nicht bestehen kann. Können Sie das nachvollziehen?
Ja. Es gibt einerseits die Angst, dass es so frei – und dazu gehört ja auch die Freiheit des Reisens im Schengen-Raum – nicht weitergeht. Das erfüllt die Menschen mit Sorge, die eben diese Freiheit als Errungenschaft schätzen gelernt haben. Auf der anderen Seite gibt es nicht zu vernachlässigende Ängste, dass die eigene soziale Lage angesichts der zunehmenden Integration der Märkte und der Internationalisierung des Handels nicht gesichert sein könnte. Diesen Ängsten müssen wir ernsthaft und mit rationalen Argumenten entgegentreten, da sie zu antieuropäischen Ressentiments führen.
In mehreren Mitgliedstaaten sind Rechtspopulisten auf dem Vormarsch, die diese Ressentiments schüren. Was können Politiker und politische Institutionen dem entgegensetzen?
Aus meiner Sicht können wir politisch Verantwortlichen zu mehr Transparenz über Entscheidungswege beitragen, auch auf der europäischen Ebene. So wird das Vertrauen der Bürger in die Institutionen und Entscheidungen gestärkt. Damit wird den Rechtspopulisten schon viel Wind aus den Segeln genommen. Darüber hinaus sind bereits kurz nach der Brexit-Entscheidung viele unrealistische Versprechen und Erwartungen, die sich mit einer Anti-Europa-Haltung verknüpfen, in sich zusammengebrochen. So entlarven sich Rechtspopulisten selbst.
Aufklärung wirkt sicher auch Ängsten entgegen. Welche Möglichkeiten haben Sie als Europaminister?
Meine direkten Handlungsmöglichkeiten sind zwar begrenzt, doch fördern wir in NRW europapolitische Bildungsarbeit zum Beispiel an den 193 Europaschulen. Kenntnisse über Europa und darüber wie Europa funktioniert, sind natürlich auch in der Erwachsenenbildung wesentlich. Sie sind eine wichtige Voraussetzung um das Gefühl, dass in Brüssel Entscheidungen in einer Art Blackbox getroffen werden, zu verhindern. Das gemeinsame Europa hat eine erfolgreiche Geschichte hinter sich. In historischen Dimensionen betrachtet, ist auf der anderen Seite allerdings noch immer nationales und nationalstaatliches Denken dominant. Diese nationale Perspektive zu überwinden und durch ein wirklich europäisches Denken zu ersetzen, wird nur über mehrere Generationen gelingen können.
Welche Aufgabe hat in diesem Zusammenhang eine engagierte europäische Jugend?
Ich mache immer wieder die Erfahrung, dass es gerade junge Menschen sind, die europäisch denken und sich stark für Europa engagieren. Dazu tragen Auslandsaufenthalte und Städtepartnerschaften bei. Europäisches Denken ist für junge Menschen oft selbstverständlicher als für ältere Generationen. Wenn man so will, ist die Jugend der Träger der Hoffnung für die Zukunft des Europagedankens und für Europa insgesamt.
Was wünschen Sie sich persönlich für die Zukunft Europas?
Wir brauchen langfristig eine politische Initiative, die zu klaren institutionellen Verhältnissen auf der europäischen Ebene führt, mit klar erkennbaren Verantwortlichkeiten, transparenten und sichtbaren Entscheidungsmechanismen und einem demokratisch direkt gewählten Parlament, dass auch die vollen Funktionen eines Parlaments einer Demokratie wahrnehmen kann.
Franz-Josef Lersch-Mense ist seit dem 1. Oktober 2015 Minister für Bundesangelegenheiten, Europa und Medien des Landes Nordrhein-Westfalen sowie Chef der Staatskanzlei.
Die Fragen stellte Marcus Hammes, Stipendiat der Friedrich-Ebert-Stiftung und freier Journalist (Journalistenbüro Köln).
Ansprechpartner in der Friedrich-Ebert-Stiftung:
Eva Ellereit
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