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Europa, ein Fall für den Psychiater?

„Wer eine Vision hat, der soll zum Arzt gehen“, fand Helmut Schmidt. Aber vielleicht muss umso dringender zum Arzt, wer gar keine Visionen hat – macht das Scheitern ihrer großen Utopien die modernen europäischen Gesellschaften krank?

Europa, das war mal eine Vision von Frieden, offenen Grenzen, Wohlstand für alle. In den frühen Jahren der europäischen Integration durften sich ihre Pioniere noch trauen, groß zu denken. Heute werden Zukunftsdebatten, wenn sie überhaupt den Namen verdienen, schnell mit möglichen Risiken überfrachtet, ihre Chancen mit Finanzierungsvorbehalten zurechtgestutzt und (vermeintliche) Befindlichkeiten der Bevölkerung abgewartet. Martin Schulz sieht sogar eine systematische Verweigerung von Zukunftsdebatten, die er als „Anschlag auf die Demokratie“ geißelt. Die Angst vor der nächsten Wahl lässt die Politik auf Sicht fahren, übervorsichtiger Pragmatismus hat das Steuer übernommen.

Konkurrenz ersetzt Gemeinschaft

Die meisten Parteien unterscheiden sich programmatisch kaum noch voneinander, bloß keine Experimente. Der Politik wird von Unfähigkeit bis Verrat alles attestiert, nur keine Gestaltungskraft zugetraut. Gleichzeitig überzeichnen Teile der Bevölkerung die guten alten Zeiten, Vergangenheitsfixierung geht als Zukunftsvision durch. Vergangenheit sind auch die großen gesellschaftlichen Entwürfe – das Selbstverständnis der europäischen Demokratien fußt inzwischen stark auf ökonomischen Prinzipien wie Leistung und Konsum. Nur lohnt sich in gespaltenen, prekären Arbeitsmärkten Leistung nicht mehr so wie früher, ein Bedrohungsgefühl greift auch bei relativem Wohlstand um sich. Schließlich hat die Verteilung der Kosten der Finanz- und Wirtschaftskrise den sozialen Unterschied zwischen weiten Teilen der Bevölkerung und „denen da oben“ besonders krass verdeutlicht. Auch hier pfadabhängiges Durchwursteln, für die Zukunft Europas sind keine großen Würfe zu erwarten. Die Europäische Union wird weithin als neoliberaler Wirtschaftsraum wahrgenommen, von dem nur ein Teil profitiert – Konkurrenz statt Gemeinschaft.

So entsteht Frustration darüber, dass der soziale, technische und wirtschaftliche Fortschritt die Hoffnungen der Menschen nicht erfüllt hat, individuelle und kollektive Bedürfnisse miteinander zu versöhnen. Emotionen kochen hoch, die in postfaktischen Diskursen belastbare Argumente ersetzen. Wie ungesund das ist, erläuterte der Kulturwissenschaftler und Heilpraktiker für Psychotherapie Christian Kohlross auf einer Veranstaltung derBibliothek der Friedrich-Ebert-Stiftung in Berlin. In seinem Buch „kollektiv neurotisch“ diagnostiziert er öffentlicher Stimmung und politischem Handeln in westlichen Gesellschaften Narzissmus, Depression, Zwang und Hysterie. Kern der kollektiven Neurose sei, dass die gesellschaftlichen Formen der Frustrationsbewältigung Lösungen verhinderten und Leidensdruck hervorriefen.

Angela und Tina, eine gefährliche Freundschaft

Angela Merkels abwartender, visionsloser Politikstil für Deutschland und Europa und Margaret Thatchers alter Slogan „There is no alternative“ (Tina) stellen die Neurose auf Dauer. Politik braucht Utopien, sonst verkommt sie zur reinen Verwaltung. Und Menschen brauchen die Erfahrung, dass es Alternativen gibt, auf die sie Einfluss haben. Von der Politik darf also durchaus mehr erwartet werden, als nur auf Meinungsumfragen zu schielen und im Status quo herumzustochern. Von der Bevölkerung darf andererseits verlangt werden, selber in die Hände zu spucken, indem sie in einem demokratischen Gemeinwesen nicht nur auf ihre Rechte pocht, sondern auch ihre bürgerlichen Pflichten wahrnimmt. Hier plädiert Christian Kohlross für ein neues Verständnis von Bildung, das sich weniger an Faktenwissen und mehr an Selbstwissen, dem Umgang mit Konflikten und den Herausforderungen einer ungewissen Zukunft orientiert.

Ansprechpartner in der Stiftung:

Marcus Sommerstange

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