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Krisenvorsorge: Internationale Solidarität als Schlüssel?

Junge Stimmen finden im politischen Diskurs oft nicht ausreichend Gehör. Mit einer Textreihe von Stipendiat_innen der FES wollen wir unseren Teil dazu beitragen, dass sie an der strategischen Debatte teilnehmen. Im dritten Text der Reihe plädieren die Autor_innen für internationale Solidarität als Schlüssel zur Bereitstellung überlebenswichtiger Güter.

In der Kindernotaufnahme einer Leipziger Klinik im Winter 2023 bereitet sich das Personal auf die kommende Nachtschicht vor. Wie in jedem Spätdienst werden die Adressen der Notapotheken für die nächsten Stunden verteilt, um Patient_innen sofort beraten zu können. Ärzte rufen die Notfallapotheken vor Dienstbeginn an. Vermeintlich simple Medikamente wie Penicillin-Antibiotika und Ibuprofensaft für Kinder sind über lange Zeiträume nicht verfügbar und in den Apotheken nicht auf Lager. Zumindest in dieser Schicht werden teilweise nicht die medizinisch sinnvollsten, sondern die verfügbaren Medikamente verschrieben.

 

Nicht nur im medizinischen Bereich zeigt sich die Bedeutung von überlebenswichtigen Gütern. Viele Haushalte haben sich im Winter 2022-2023 gefragt, ob sie die Heizkosten noch bezahlen können. Die alleinerziehende Mutter, die sich viele Jahre um das Wohlergehen ihrer Kinder gekümmert hat, muss sich existentielle Fragen stellen. Schon der Gedanke an die nächste Tankfüllung bereitet Unwohlsein. Die drohende Gefahr einer zu hohen Nebenkostenabrechnung macht eine kalte Wohnung zur sichersten Option. Lieber eine Decke mehr, als sich die Miete nicht mehr leisten zu können. Die Geschenke zu Weihnachten fielen dann auch etwas kleiner aus als sonst. Klar ist, dass die größte Energiekrise seit 50 Jahren viele Menschen stark getroffen hat.

 

Medikamente und Energieversorgung eint, dass sie überlebenswichtig sind. Sie sind Teil der sogenannten kritischen Infrastruktur und als solche sind sie überlebenswichtige Güter. Das Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe definiert kritische Infrastrukturen als “Organisationen oder Einrichtung mit wichtiger Bedeutung für das Gemeinwesen, bei deren Ausfall [...] dramatische Folgen eintreten würden.” Auch Medikamenten- und Energieversorgung sind Teil dieser Definition. Medial wurde während der Pandemie über Medikamentenengpässe und Produktionsketten für Impfstoffe diskutiert. Nach Beginn des erweiterten russischen Angriffskriegs standen die Themen Gasspeicherstände und Preiserhöhungen für Energie im Mittelpunkt der Debatte. Überlebenswichtige Güter rücken meist nur dann in den Mittelpunkt, wenn sie fehlen.

 

Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) schätzt, dass nur ca. zwei Drittel der Weltbevölkerung Zugang zur Grundversorgung mit Arzneimitteln hat. Bereits 2004 sah die WHO die Globalisierung als Bedrohung für den Zugang zu Medikamenten – speziell in einkommensschwachen Staaten. Ein Grund für die unzureichende Versorgung sind hohe Medikamentenpreise, insbesondere bei patentgeschützten Medikamenten. Außerdem sind gerade Länder mit kleiner oder keiner heimischen Medikamentenproduktion Lieferengpässen ausgesetzt. In vielen Staaten fehlt eine staatliche Preiskontrolle. Der Medikamentenverkauf befindet sich größtenteils in privater Hand.

Korruption ist besonders in einkommensschwachen Staaten weit verbreitet. Das führt zu Fantasiepreisen und Medikamentenmangel. Am Beispiel von Impfstoffen gegen das SARS-CoV-2-Virus zeigt sich ein weiteres Problem: Strenge Patentschutz-Regelungen hemmen die Verteilung wichtiger Arzneimittel. Werden Patente nicht freigegeben, bekommen Firmen in einkommensschwächeren Staaten keine Möglichkeit, Arzneimittel zu fairen Preisen für die Bevölkerung herstellen zu können. Gerade Deutschland bremste die Patentfreigabe des SARS-CoV-2-Impfstoff. Unter anderem dank Indien, das sich über Patentrechte schlicht hinwegsetzt, und der UN, die subventionierte Medikamente vertreibt, können viele Medikamente überhaupt in Entwicklungsländern angeboten werden. Da allerdings weltweit rund

40 Prozent der Medikamentenwirkstoffe in China, hergestellt werden, besteht ein großes Abhängigkeitsverhältnis von der Volksrepublik. Doch Medikamentenmangel ist auch ein Problem in einkommensstarken Staaten. Die in Europa auftretenden Lieferengpässe betreffen besonders Antibiotika und Krebsmedikamente und sind hierzulande eher Folge von überschießender Ökonomisierung mit zu knapper Angebotsplanung sowie Globalisierung und Optimierung der Lieferketten mit damit auftretenden Lieferengpässen.

 

Wie verwundbar Lieferketten sind, konnte nicht nur im Zuge der Pandemie hautnah miterlebt werden. Die direkt anschließende fossile Energiekrise hat die Gefahren von Engpässen ebenfalls nur allzu deutlich gemacht. Doch ist es an dieser Stelle wichtig, sich nicht nur auf die Auswirkung für Deutschland und Europa zu fokussieren. Durch kapitalistische Abhängigkeitsverhältnisse haben sich unter anderem durch ungleiche Verhandlungen zwischen global agierenden Unternehmen und lokalen Strukturen eine Vielzahl von ungerechten Verträgen ergeben. Die erwirtschafteten Gewinne werden dann nicht vor Ort für sinnvolle Investitionen genutzt. Stattdessen hat die lokale Bevölkerung mit bei der Ressourcenextraktion entstandenen Schäden zu leben. Dies zeigt sich insbesondere bei der Förderung von fossilen Energieträgern. Vor der Küste Senegals und Mauretaniens beispielsweise entsteht das Megaprojekt Grande Tortue Ahmeyim (GTA) als Kooperation zwischen Deutschland und

dem Senegal. Bis Ende 2023 wird ein Terminal für Flüssiggas gebaut, mit einer Laufzeit von 20 Jahren. Dies ist im doppelten Sinne nicht zukunftsfähig: Einerseits torpediert es die senegalesischen Pläne zur Klimaneutralität. Andererseits bestehen auch klare Gefahren für die lokale Bevölkerung: Es ist durch die Erschließung eine Schädigung des größten Kaltwasserkorallenriffs der Welt zu befürchten.

 

Wie lassen sich solche Abhängigkeiten vermeiden?

 

Gerade am Beispiel von erneuerbaren Energien lässt sich zeigen: Echte, gleichberechtigte Zusammenarbeit über Grenzen hinweg ist möglich. Das vielversprechendste Projekt entsteht zwischen Deutschland und Namibia. Das Ziel des namibischen Konzepts „Green Hydrogen and Derivatives Strategy“ [dt.: Strategie für grünen Wasserstoff und Derivate]. ist es, grünen (d.h. klimaneutralen) Wasserstoff zu produzieren. Es würde dem rohstoffreichen Namibia eine klare Perspektive für eine klimaneutrale Zukunft bieten und das Land auf einen Schlag zu einem großen Nettoexporteur von Energie machen.

 

Doch alleine kann das Land dieses Potential nicht ausschöpfen. Das Projekt soll bis zu 10 Milliarden Dollar kosten, zu viel für das südafrikanische Land. Deshalb soll gemeinsam mit internationalen Partnerländern, u.a. Deutschland, eine zukunftsfähige Wasserstoffproduktion aufgebaut werden. Bereits 2030 sollen große Mengen des begehrten erneuerbaren Rohstoffs produziert werden. Doch neben den offensichtlichen Vorteilen für beide Staaten darf nicht vergessen werden, dass meist die Reichen und Mächtigen von kapitalistischen Prozessen profitieren. Namibia ist eines der ungleichsten Länder weltweit. Das erhöht die Gefahr einer ungleichen Aufteilung der zu verteilenden Ressourcen. Es muss klar sein, dass die konkrete Umsetzung eines solchen Projekts genau beobachtet werden sollte.

 

Das Beispiel der HIV/AIDS-Epidemie zeigt auf, dass durch groß angelegte Hilfsprogramme, kostenloser Verteilung von Medikamenten und Senken der Medikamentenpreise, Aufklärung und internationale Zusammenarbeit Infektionskrankheiten erfolgreich bekämpft werden könnten. Brasilien konnte beispielsweise durch lokale und günstige Produktion von Generika nach Freigabe der Patente Fortschritte erzielen, in vielen Subsahara-Staaten ermöglichten erst Lizenzdeals ein einigermaßen erschwingliches Angebot von antiretroviraler Therapie. Dieses Umdenken fand allerdings erst in den letzten Jahren statt. Vorher konnte sich durch zu wenig Aufklärung und mangelnde Medikamentenversorgung das Virus jahrzehntelang insbesondere südlich der Sahara ausbreiten, bis heute sind HIV und AIDS eine Bedrohung für die Weltgesundheit.

Ein Schlüssel zur Sicherung der kritischen Infrastruktur ist somit eine global gerechte Verteilung von überlebenswichtigen Gütern. Aufgrund der Anforderungen einer globalisierten Welt muss auch die Versorgung der Bevölkerung global gedacht werden. Wie oben beleuchtet, bestehen internationale Abhängigkeiten in sämtlichen Bereichen. Eine eingeengte nationale Denkweise erschwert diese Sicherung. Eine nationale Autonomie zu erreichen, ist für die meisten Länder dieser Welt utopisch. Dem widerspricht aber nicht, einzelne Bereiche, wie zum Beispiel Rohstoffproduktion von Medikamenten, auf mehrere Weltregionen zu verteilen. Deshalb ist der Grundgedanke der Stärkung der heimischen Produktionsketten und der Lokalwirtschaft wichtig. Diese muss allerdings als Teil einer globalen Perspektive auf die Versorgungssicherheit und nicht aus einer nationalistischen Sicht der Abschottung betrachtet werden.

 

Internationale Zusammenarbeit darf keine staatliche - oder interstaatliche - Lenkung einzelner wichtiger Wirtschaftszweige und Industrien ausschließen. Insbesondere im Hinblick auf kritische Infrastruktur ist eine zu starke Privatisierung bzw. Entstaatlichung kontraproduktiv. Das stellt eine zusätzliche Belastung, im schlimmsten Fall eine Gefährdung der Bevölkerung dar. Überlebenswichtige Güter bereitzustellen lohnt sich in vielen Fällen privatwirtschaftlich kaum, weil sie oft nur für bestimmte Bevölkerungsgruppen oder Situationen notwendig sind. Beispiele hierfür sind die Erforschung zukünftig wichtiger Antibiotika, das Vorhalten von Reserven in der Gesundheitsversorgung, die Bereitstellung von flächendeckender Mobilität und Strom- und Wassernetze. Besonders in Hinblick auf die Klimakrise ist die Sicherung der kritischen Infrastruktur überlebenswichtig. Ohne internationale Zusammenarbeit und gerechter Verteilung überlebenswichtiger Güter lässt sich diese Mammutaufgabe nicht bewältigen. Solidarität wird zur Überlebensfrage.

Joachim Pankert und Alexander Neuber sind Stipendiat_innen der Friedrich-Ebert-Stiftung und Teilnehmende der Werkstatt Junge Soziale Demokratie.

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