Diese Webseite verwendet Cookies
Diese Cookies sind notwendig
Daten zur Verbesserung der Webseite durch Tracking (Matomo).
Das sind Cookies die von externen Seiten und Diensten kommen z.B. von Youtube oder Vimeo.
Geben Sie hier Ihren Nutzernamen oder Ihre E-Mail-Adresse sowie Ihr Passwort ein, um sich auf der Website anzumelden.
von Achim Truger
Die weltweite Coronakrise hat auch die EU mit bislang ungekannter Wucht getroffen. Neben Frankreich sind mit Italien und Spanien ausgerechnet zwei der langjährigen Euro-Krisenstaaten besonders hart von der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Krise betroffen. Nach einigen Anlaufschwierigkeiten wurde auf EU-Ebene auch mit finanzpolitischen Unterstützungsmaßnahmen zur Bekämpfung der Folgen der Epidemie reagiert. Im April wurde ein Sicherheitsnetzpaket im Umfang von 540 Milliarden Euro mit Kreditlinien für alle Mitgliedstaaten beschlossen. Angeregt durch die gemeinsame Initiative von Emmanuel Macron und Angela Merkel sehen die aktuellen Wiederaufbaupläne der EU-Kommission einen einmaligen Fonds „Next Generation EU“ über 750 Milliarden Euro vor, der zu zwei Dritteln direkte Unterstützungszahlungen an besonders betroffene Staaten leisten soll. Zur Finanzierung sollen Kredite im Namen der EU aufgenommen werden, die aus dem EU-Haushalt unter anderem mittels eigenen EU-Steuerquellen getilgt werden sollen.
Aufwertung der Fiskalpolitik erforderlich
Auch wenn über die genaue Ausgestaltung und Finanzierung des Fonds noch gerungen wird, handelt es sich um einen großen Schritt auf dem Weg zur Reform der fiskalischen Governance der EU, die vor der Krise weitestgehend zum Erliegen gekommen war. Die Freude darüber sollte aber nicht den Blick darauf verstellen, dass auch der Stabilitäts- und Wachstumspakt (SWP), also das Regelwerk für die Finanzpolitik der Mitgliedstaaten, dringend reformbedürftig ist. Dabei bedarf die Fiskalpolitik insgesamt aus mindestens vier Gründen einer Aufwertung. Erstens kommt der Fiskalpolitik auf nationaler Ebene eine viel stärkere Rolle als Konjunkturstabilisator zu, weil im Euroraum keine nationale Geldpolitik mehr existiert: Die EZB muss sich bei ihrer Zinspolitik am EWU-Durchschnitt orientieren und kann daher nicht auf unterschiedliche Konjunkturlagen in einzelnen Ländern reagieren. Ohne fiskalpolitisches Gegensteuern auf nationaler Ebene drohen deshalb lang anhaltende Boom-Bust-Zyklen, die die Stabilität der EWU gefährden. Zweitens muss die Fiskalpolitik besonders in Krisenzeiten die Geldpolitik bei der Konjunkturstabilisierung unterstützen, weil Letztere mit der herkömmlichen Zinspolitik an Grenzen stößt. Wie jüngere empirische Untersuchungen zeigen, ist die Fiskalpolitik drittens – zumal in Krisenzeiten – makroökonomisch viel wirksamer, als von vielen zuvor angenommen wurde. Viertens muss die Fiskalpolitik durch hohe und im Zeitablauf stetige öffentliche Investitionen in klassische und ökologische Infrastruktur sowie in Bildung und Forschung langfristig ein hohes Produktivitätswachstum ermöglichen.
SWP und Fiskalpakt weiterhin reformbedürftig
Auch wenn die Umsetzung der Kommissionspläne für den Wiederaufbaufonds komplett gelänge, würde dies eine Reform des SWP nicht obsolet machen: Der Fonds könnte bei entsprechender Ausgestaltung zwar entscheidende Wachstumsimpulse auch in den bislang wirtschaftlich schwächeren Staaten setzen. Jedoch ist er lediglich als einmalige Maßnahme angesichts der außergewöhnlich tiefen Coronakrise angelegt. Selbst wenn er auf Dauer angelegt wäre, bliebe das fiskalische Regelwerk des SWP dringend reformbedürftig, weil es von Anfang an unter schwerwiegenden Mängeln litt. Die Grenzwerte von drei Prozent des BIP für das Budgetdefizit und von 60 Prozent des BIP für die Schuldenstandsquote sind ökonomisch willkürlich und stehen zudem häufig in faktischem Widerspruch zu anderen offiziellen Zielwerten, etwa denen von „Europe 2020“ oder denen des Verfahrens gegen ökonomische Ungleichgewichte. Vor allem aber hat sich die Unzulänglichkeit des SPW während der Eurokrise unter Beweis gestellt. Er erwies sich als prozyklisch und krisenverschärfend und konnte insbesondere den dramatischen Absturz der öffentlichen Investitionen nicht verhindern.
Dass die akute Eurokrise in den Ländern der europäischen Peripherie überhaupt überwunden wurde, hängt ganz wesentlich mit einer lockereren Handhabung der fiskalischen Regeln zusammen. Nachdem unter anderem die Verschärfung der europäischen Fiskalregeln („Six-Pack“, Fiskalpakt, „Two-Pack“) dort zu einer strikten Austeritätspolitik geführt hatte, wurde durch die neue EU-Kommission unter Jean-Claude Juncker eine etwas weniger strikte Neuinterpretation und Handhabung der Regeln betrieben. Das ermöglichte zusammen mit der schon 2012 erklärten Bereitschaft der EZB, die Staatsschuldpapiere der betroffenen Staaten auf den Finanzmärkten zu stützen, eine konjunkturelle Erholung.
Es war daher richtig, dass der SWP in der Coronakrise umgehend ausgesetzt wurde. Seine unveränderte Wiedereinsetzung nach der Krise würde aller Voraussicht nach angesichts der hohen Budgetdefizite und stark gestiegenen Schuldenstände für viele Staaten einen Rückfall in die zuvor gerade halbwegs überwundene Austeritätspolitik bedeuten. Eine erneute Welle der Austeritätspolitik könnten diese Staaten weder ökonomisch noch sozial und politisch verkraften. Das Ende des Euro würde drohen und damit möglicherweise auch das Ende der EU. Von den politischen Turbulenzen ganz abgesehen würde dies jedoch gerade Deutschland und im Übrigen auch die sogenannten sparsamen Vier (Österreich, die Niederlande, Dänemark und Schweden) in eine schwere ökonomische Krise stürzen. Neben der Verabschiedung des EU-Wiederaufbaufonds sind daher Reformen des SWP gerade auch im deutschen Interesse notwendig.
Reformbaustellen: Zielwerte, Investitionsorientierung, Flexibilisierung und Demokratisierung
In welche Richtung müsste der SWP reformiert werden? Um zu verhindern, dass Mitgliedstaaten mit nach der Krise absehbar besonders hohen Schuldenständen gleich wieder in kontraproduktive Austerität gestürzt werden, müsste erstens der Zielschuldenstand im Rahmen des SWP deutlich nach oben, z. B. auf 90 Prozent des BIP, angepasst werden. Der gegenwärtige Grenzwert von 60 Prozent entsprach letztlich auch nur dem bei Verabschiedung der Maastricht-Kriterien herrschenden EU-Durchschnittswert und ist empirisch keinesfalls etwa als kritische Grenze für die Staatsverschuldung fundiert. Die Schuldentragfähigkeit sollte dadurch nicht beeinträchtigt werden. Dies gilt umso mehr angesichts des gegenwärtig und auf absehbare Zeit sehr niedrigen Zinsniveaus. Gemäß dem höheren Schuldenstand könnten auch die letztlich direkt oder indirekt damit korrespondierenden Defizitgrößen im SWP, also die Drei-Prozent-Grenze für ein übermäßiges Haushaltsdefizit und der mittelfristige Zielwert für einen strukturell ausgeglichenen Haushalt, angepasst werden.
Wichtiger wäre es aber zweitens, den SWP investitionsorientiert zu reformieren: In Konsolidierungsphasen werden regelmäßig die öffentlichen Investitionen stark gekürzt, weil sie eine der wenigen kurzfristig disponiblen Ausgabenkategorien darstellen. Aus ökonomischer Sicht ist dies jedoch äußerst schädlich, da öffentliche Investitionen sowohl kurzfristig besonders hohe Multiplikatoren aufweisen als auch langfristig besonders wachstumsfördernd sind. Daher sollte ein reformierter SWP die öffentlichen Investitionen stärken und in Krisen vor Kürzungen bewahren. Hierfür sollten die Nettoinvestitionen aus den relevanten Defizitgrößen des präventiven und des korrektiven Zweigs des SWP herausgerechnet werden. Damit würde endlich die Goldene Regel der öffentlichen Investitionen verankert. Die Goldene Regel ist in der traditionellen finanzwissenschaftlichen Literatur allgemein akzeptiert. Sie schreibt die Finanzierung von öffentlichen Nettoinvestitionen durch Budgetdefizite vor, wodurch gleichzeitig der Generationengerechtigkeit wie dem Wirtschaftswachstum gedient wäre. Öffentliche Investitionen erhöhen den öffentlichen Kapitalstock und schaffen Wachstum zugunsten zukünftiger Generationen. Deswegen ist es gerechtfertigt, zukünftige Generationen auch zur Finanzierung über den Schuldendienst heranzuziehen.
Drittens sollte die konjunkturelle Flexibilität des SWP deutlich gestärkt werden. Ein wesentlicher Grund für die mangelnde Konjunkturgerechtigkeit des aktuellen SWP besteht darin, dass die – grundsätzlich sinnvollerweise – zur Konjunkturbereinigung verwendeten Verfahren nur sehr unvollkommen funktionieren. Aus diesem Grund könnte eine sehr wirkungsvolle Überarbeitung des SWP in Richtung größerer Konjunkturgerechtigkeit sogar rein technisch ohne Änderungen des EU-Rechts erfolgen: Am einfachsten wäre die grundsätzliche Verwendung mittelfristiger Durchschnittswerte für das Potenzialwachstum oder besser noch eine lediglich mittelfristige Revision der Potenzialschätzungen, z. B. alle drei oder fünf Jahre und nicht wie heute dreimal jährlich. Dadurch müsste wirksam verhindert werden, dass Staaten im Abschwung aufgrund einer rein technisch bedingten Abwärtsrevision der mittelfristigen Wachstumserwartungen in krisenverschärfende Kürzungspolitik getrieben werden. Im Aufschwung müsste umgekehrt schneller und kräftiger konsolidiert werden.
Alle hier genannten Reformschritte sollten ganz grundsätzlich von einer Umorientierung der finanzpolitischen Ziele geprägt sein. An die Stelle plumper, technokratischer Vorgaben für Schulden und Defizite sollte die nachhaltige Entwicklung des gesellschaftlichen Wohlstands als oberstes Ziel treten. Hierzu müssen die Verfahren des SWP deutlich transparenter und viel stärker demokratisiert werden. Die EU muss die begonnene Überprüfung der ökonomischen Governance als Chance für eine durchgreifende Reform des SWP nutzen.
Achim Truger ist Professor für Sozioökonomie an der Universität Duisburg-Essen, Mitglied im Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung und Senior Research Fellow am Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung in der Hans-Böckler-Stiftung, Düsseldorf.
Bei dem Beitrag handelt es sich um eine gekürzte Vorabveröffentlichung. Die im Beitrag zum Ausdruck gebrachten Ansichten sind nicht notwendigerweise die der Friedrich-Ebert-Stiftung.
von Linn Selle
von Sebastian Watzka
von Jakob Kapeller
von Cansel Kiziltepe
von Tom Krebs
von Reiner Hoffmann und Andreas Botsch
Zentrale Genderkoordinatorin
Dr. Stefanie Elies
030 26935-7317Stefanie.Elies(at)fes.de
Redaktion
Dorina Spahn
030 26935-7305dorina.spahn(at)fes.de
Besuchen Sie uns auch auf Facebook und Instagram @gendermatters_fes