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Europa steht vor massiven Herausforderungen - es ist an der Sozialdemokratie, sich ihnen zu stellen.
Bild: Portrait of EP President Martin Schulz von Martin Schulz lizenziert unter CC BY-NC-ND 2.0
Soeben hat die SPD ihren Kanzlerkandidaten gekürt. Martin Schulz hat schon in seinen ersten Auftritten klar und deutlich gesagt, was er will: Kanzler werden! Ob dies nun utopisch ist, wie einige Kommentator_innen zu wissen glauben, oder nicht, Schulz ist genau das, was europäische Sozialdemokrat_innen jetzt brauchen: Laut, ohne taub zu sein und leidenschaftlich, ohne zu überhitzen. Qualitäten, die er brauchen wird, um die Menschen in diesen schweren Zeiten von der Sozialdemokratie zu überzeugen. In diesem Jahr stehen in Europa mehrere bedeutende Wahlen an: Die europapolitisch bedeutendsten sind die in den drei EU-Gründerstaaten Niederlande, Frankreich und Deutschland – möglicherweise wird es mit Italien auch noch in einem vierten Begründer der Union zu vorgezogenen Neuwahlen kommen.
In allen drei EU-Kernländern sieht es in den Prognosen für Sozialdemokraten und moderate Sozialisten schlecht bis verheerend aus. In Frankreich glauben derzeit wenige, dass es ein Sozialist auch nur in die zweite Runde schaffen wird. In den Niederlanden steht ein Debakel für die traditionsreiche Partij van de Arbeid bevor, die momentan noch in der Regierung und mit der zweitgrößten Fraktion in der Zweiten Kammer, dem Parlament, vertreten ist: Sie könnte bis zu Zweidrittel ihrer jetzigen Mandate verlieren und noch von der euroskeptischen Socialistische Partij überholt werden.
Und in Deutschland bewegt sich die SPD in den Umfragen bei erniedrigenden 20 Prozent. So weit so trostlos. Aber: Das „sozialdemokratische Jahrhundert“ wurde von Ralf Dahrendorf bereits 1983, nach 13 Jahren sozialliberaler Koalition für beendet erklärt. Zwar war die SPD dann tatsächlich für 16 Jahre weg vom Fenster beziehungsweise zumindest von der Regierungsbank. Doch erreichte sie mit Gerhard Schröder 1998 noch einmal über 40 Prozent der Stimmen. Seitdem geht es allerdings mehr oder weniger nur noch bergab. Und zwar fast überall in Europa.
Krise also, beziehungsweise: existenzielle Krise. Denn seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs gab es in den meisten europäischen Staaten quasi ein Duopol aus einer konservativen und einer sozialdemokratischen Partei. Zwar schrumpfen beide Pole, der sozialdemokratische erodiert allerdings bedeutend schneller – und damit auch ein Stabilitätsanker der politischen Ordnung. Die Gründe sind so zahlreich wie schwer zu greifen: der Niedergang der (organisierten) Industriearbeiterschaft, der Mittekurs der Sozialdemokratie, die Pluralisierung der Gesellschaft und der Aufstieg der Grünen, der Neoliberalismus (auch in den eigenen Reihen), die Spaltung nach den Hartz-Reformen, der neue Rechtspopulismus – es gibt etliche Faktoren, in den verschiedenen Mitgliedsländern haben sie durchaus unterschiedliche Gewichtung.
Und jetzt? Kann man sich eine Welt ohne Sozialdemokratie vorstellen? Womöglich beginnen die ersten darüber nachzudenken, und nicht nur die Gegner. Bei einer Veranstaltung der Friedrich-Ebert-Stiftung in Tübingen sprach am 19. Januar der französische Historiker und Soziologe Marc Lazar mit der frisch gewählten Vizepräsidentin Evelyne Gebhardt. "Die Sozialdemokratie ist nicht tot – sie kann aber sterben", meinte der Professor aus Paris, ein dezidierter Kenner der Geschichte und Transformation der europäischen Linken.
Fragen der sozialen Gerechtigkeit haben momentan Hochkonjunktur: es gibt eine (teils gefühlte, teils faktische) rasant wachsende soziale Ungleichheit und auf Seiten der Konservativen kaum vernehmbaren politischen Willen hieran tatsächlich etwas zu ändern und mehr auf Umverteilung zu setzen. Auch die europäische Desintegration scheint förmlich nach einer starken Sozialdemokratie zu schreien. Dennoch wenden sich die Bürger_innen eher nach links außen, oder hin zu Konservativen oder eben rechten Parteien oder Bewegungen.
Nochmal Lazar: „Die Sozialdemokratie steht vor dem Paradox, dass es eigentlich die ideale Zeit für sie ist, sie aber von den aktuellen Herausforderungen zerstört wird." Als Politikerin zum Optimismus verpflichtet, setzt Evelyne Gebhardt eher auf die Chancen: „Die Menschen haben Angst, dass die Politik nicht mehr das Sagen hat, sondern die Finanzmärkte – das ist eine Chance für die Politik!" Doch wollen die Menschen die Politik der Sozialdemokrat_innen?
Parteien sind nicht unsterblich, auch staatstragende nicht. Die britischen Liberalen wurden Anfang des 20. Jahrhunderts von Labour abgelöst. Die SPD als älteste Partei Deutschlands könnte eines Tages auch nicht mehr existieren. Doch gerade weil unsere Zeit die Sozialdemokratie herausfordert, ist ein stilles Abtreten gar nicht möglich. Zum ersten Mal tritt die SPD mit einem Kandidaten zur Bundestagswahl an, der nicht Mitglied des Bundestags ist und keiner Bundes- oder Landesregierung angehörte. Martin Schulz hat sich seine Position in „Europa“ erarbeitet. Das ist ein neuer Ansatz – und ein starkes Zeichen und eine erste Antwort auf eine der zentralen gegenwärtigen Herausforderungen.
Ansprechpartner in der Friedrich-Ebert-Stiftung:
Anja Dargatz
Weiterführende Links:
Marc Lazar: In welchem Zustand befindet sich die Parti Socialiste? FES 2015.
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