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EU-Digitalpolitik – Zeit für einen ganzheitlichen Ansatz

von Justin Nogarede


Schon 1997 sagte die Europäische Kommission voraus, dass „die Expansion des elektronischen Handels marktgetrieben sein“ werde. Damit lag sie nicht falsch. In der Tat wird das meiste, was wir online tun, heute von einer Handvoll großer Unternehmen kontrolliert. Das betrifft, wie wir Informationen finden, wie wir miteinander reden, und jetzt sogar, wie wir mit den Behörden kommunizieren: Im Juli teilte der niederländische Ministerpräsident eine Nachricht auf Twitter, die sich auf neue Entwicklungen in der Coronavirus-Politik bezog und die er ursprünglich nicht auf der offiziellen Webseite der niederländischen Regierung veröffentlicht hatte, sondern auf … Facebook.

Die Verschmutzung unseres Informationsökosystems

Natürlich war die Vorhersage der Kommission in den frühen Tagen des World Wide Web weniger prophetisch als vielmehr selbsterfüllend: Seit Ende der 1990er hat sie sich – entsprechend dem Vorbild der USA – für eine Selbstregulierung des Sektors entschieden. Mit der Einführung der E-Commerce-Richtlinie im Jahr 2000 wurden Onlineplattformen weitgehend von ihrer Verantwortung für die Inhalte ihrer Nutzer_innen befreit. Und seitdem hat sich die Kommission weiterhin darauf konzentriert, Hindernisse für den Onlinehandel zu beseitigen, um europäische Technologiekonzerne zu ermöglichen, die mit den US-Giganten konkurrieren können. Aber während sich die Kommission über den Mangel an erfolgreichen europäischen Technologie-Start-ups sorgte, erkannte sie nicht, dass das Internet viel mehr wurde als ein Onlinemarktplatz. Deswegen hat sie nicht genug Maßnahmen zum Schutz und zur Förderung wichtiger öffentlicher Werte wie Demokratie und Transparenz vorgeschlagen oder durchgesetzt.

Leider verabscheut die Macht, wie man sagt, das Vakuum. Und wie Lawrence Lessig bereits vor Jahren bemerkte, ist die Digitaltechnologie keineswegs von Natur aus demokratisch. Wenn die Gemeinschaften nicht demokratisch entscheiden, wie sie die Onlineumgebung gestalten wollen, so prophezeite er, dann würde dies von anderen übernommen – entsprechend deren eigener Interessen. So ist es geschehen. Jetzt ist es nicht einfach so, dass das Internet  unreguliert wäre und es deshalb so innovativ ist. Tatsächlich ist es hochgradig reguliert, aber die Regeln werden von einer Handvoll Technologiekonzernen aufgestellt und durchgesetzt. Europa muss sich nun um ein Ökosystem kümmern, in dem einige wenige hoch integrierte Firmen zusammen etwa 70 wichtige Online-Infrastrukturplattformen kontrollieren: von Zahlungsdienstleistern, sozialen Medien und App-Stores bis hin zu Anzeigenportalen, Marktplätzen, Cloud-Dienstleistern und so weiter. Diese Konzerne haben eine digitale Infrastruktur geschaffen, die so viele Daten der Bürger_innen sammelt wie möglich, um deren Verhalten vorhersagen und manipulieren zu können und dann damit Gewinn zu machen.

Obwohl ein solches Ausmaß von Onlineüberwachung und Undurchsichtigkeit in jeder anderen Umgebung inakzeptabel und illegal wäre, wurde es für jede_n, die oder der sich mit dem Internet verbindet, normal. Wollen Sie einen Fernsehsender betreiben? Dann müssen Sie eine Lizenz erwerben, regelmäßig Nachrichten im öffentlichen Interesse senden und Werbeeinschränkungen beachten, um die Verbraucher_innen, insbesondere Kinder, zu schützen. Wollen Sie hingegen eine Video-Sharing-Plattform betreiben, die jeden Tag von Hunderten Millionen Menschen besucht wird? Das konnten Sie in den vergangenen Jahrzehnten weitgehend so machen, wie Sie wollten. Die wenigen rechtlichen Einschränkungen, die es gab, wurden in der Praxis kaum durchgesetzt. Also war die daraus entstehende Verschmutzung unseres Informationsökosystems völlig vorhersehbar.

Jetzt, wo die EU das vierte Jahrzehnt des World Wide Web erlebt, ist dieser Ansatz nicht mehr tragbar. Es ist höchste Zeit, dass sie eine gemeinsame Vision für das Internet entwickelt. Sie muss keineswegs exklusiv sein: Immerhin gibt es viele andere Länder, die ebenfalls ein Interesse daran haben, die Menschenrechte zu schützen und sich der Überwachung und Manipulierung der Bürger_innen zu widersetzen – ob diese Überwachung nun durch die Regierung oder den privaten Sektor erfolgt. Außerdem müssen andere Länder miteinbezogen werden, wenn die EU einen Teil der Vorteile bewahren will, die das Internet als globales Netzwerk bietet. Aber dies erfordert, dass sich die EU gegen die Visionen für Onlinekommunikation wehrt, die momentan in China und den USA vorherrschen. Deren Toleranz gegenüber einer enormen Macht- und Überwachungskonzentration sollte die EU nicht übernehmen – ob sie nun im Interesse des Staates liegt oder im Namen einer abstrakten Auffassung von Innovation erfolgt, die vom Wohlergehen der Menschen abgekoppelt ist.

Institutionelle Lähmung

Es gibt Anzeichen dafür, dass die Kommission sich mit der Idee anfreundet, die Digitalpolitik nicht auf die Schaffung eines Binnenmarktes zu beschränken. Immerhin steht der Schutz der Grundrechte, der Demokratie und eines funktionierenden öffentlichen Raums auf dem Spiel.

Aber sie tut das nur ungern. Seit dem großen Gründungskompromiss zur Agrarpolitik hat die EU hauptsächlich über den Abbau nationaler Barrieren gegen den freien Fluss von Waren, Dienstleistungen, Arbeit und Kapital funktioniert. Erreicht wird dieser Abbau bevorzugt durch relativ entpolitisierte Prozesse: lange Verhandlungen mit der Folge, dass Regeln und Richtlinien eingeführt sowie Vorschriften verabschiedet und umgesetzt werden, deren Effekte viele Jahre nach den erreichten Kompromissen eintreten. Dementsprechend hat die EU in den vergangenen Jahren in vielen Politikbereichen Maßnahmen vorgeschlagen, um die digitale Wirtschaft und Gesellschaft zu beeinflussen – zu audiovisuellen Mediendiensten, Urheberrechten, Platform-to-Business-Beziehungen, terroristischen Inhalten, E-Commerce, Telekommunikation, Cybersicherheit, Verbraucherschutz und mehr. Aber damit ist ein komplexes Sammelsurium entstanden, mit dem wohl kaum eine demokratischere und gesündere Onlineumgebung geschaffen werden kann.

Zugegebenermaßen sind mutige gemeinsame Aktionen in einer EU mit 27 Mitgliedsländern sehr schwer, aber in Krisenzeiten passiert etwas. Immerhin hat die Union erkannt, dass sie die Eurozone nicht nur mit Buchhaltungsregeln verwalten kann – das aber erst nach der Finanzkrise von 2008 und den damit verbundenen (vermeintlichen) Staatsschuldenproblemen. Im Zuge der Migrationskrise von 2015 hat die EU dann gelernt, dass sie mit Menschenleben nicht so umgehen kann wie mit den jährlichen Fischereiquoten. In 2013 hatte Edward Snowden die Existenz einer riesigen globalen Überwachungsinfrastruktur enthüllt, und dies schuf die Voraussetzung dafür, erfolgreich über die Allgemeine Datenschutzgrundverordnung zu verhandeln, die im Mai 2018 in Kraft trat. Sie bot die erste große Möglichkeit, eine demokratische Vision des Internets zu schaffen, indem sie einige verbindliche Prinzipien aufstellte, die jede_r beim Umgang mit persönlichen Daten respektieren muss.

Aber das allein wird nicht genügen. Die Datenschutzgrundverordnung gründet auf der Idee, dass individuelle Rechte zum Selbstschutz ein Gegengewicht zu den bestehenden Machtverhältnissen bilden könnten. Bereits angesichts der enormen Macht einiger der großen Technologieunternehmen ist diese Annahme zweifelhaft. Völlig unhaltbar wird sie, wenn es keine Unterstützung durch starke Regulierungsbehörden gibt, die über die Ressourcen und die Bereitschaft verfügen, die Regeln auch aggressiv durchzusetzen. Natürlich mangelte es seit Snowdens Enthüllungen nicht an Ereignissen, die die politischen Bedingungen für mehr gemeinsames Handeln zur Gestaltung des Internets schaffen könnten und sollten: von den „WannaCry“-Ransomware-Angriffen 2017, die das britische Gesundheitssystem zum Erliegen brachten, bis hin zu dem Skandal um Facebook und Cambridge Analytica im Jahr 2018, als bekannt wurde, dass die Daten von Millionen Bürger_innen illegal zum Zweck politischer Werbung verwendet wurden. Es scheint, dass die Corona-Krise die Politisierung des Internets beschleunigen wird, da sie unsere Abhängigkeit von digitaler Infrastruktur, die von den Bürger_innen und ihren institutionellen Vertreter_innen weder kontrolliert noch verstanden wird, sowohl hervorhebt als auch weiter verstärkt.

Der Weg nach vorn

Nach dem ersten Jahr der Kommission unter Ursula von der Leyen besteht Anlass zu vorsichtigem Optimismus: Die EU bereitet neue Regeln vor, um die Entwicklung und Verwendung automatisierter Entscheidungsfindungssysteme (Künstliche Intelligenz) und den Betrieb von Onlineplattformen zu überwachen sowie die Verfügbarkeit und Verwendung nicht personenbezogener Daten zu verbessern. Diese Regeln könnten der Machtkonzentration in der Digitalwirtschaft tatsächlich die Stirn bieten. Aber auch das muss sich erst noch erweisen, und ein Großteil des Erfolgs wird davon abhängen, ob die Umsetzung effektiv erfolgen wird. Werden die neuen Regeln dieselben institutionellen Mängel aufweisen wie die Durchsetzungsmechanismen für die Allgemeine Datenschutzgrundverordnung? Oder entstehen Institutionen, mit denen Konzerne, die EU-weit in verschiedenen Märkten tätig sind und über fast unbegrenzte Ressourcen verfügen, effektiv zur Verantwortung gezogen werden können?

Längerfristig muss die EU an einer Vision arbeiten, welche Art von Internet sie ihren Bürger_innen bieten möchte. Soll es dezentralisierter werden, mit kleineren und stärker spezialisierten sozialen Medien, deren Inhalte besser gemeinschaftlich moderiert werden können? Dazu gibt es Beispiele wie Mastodon, von denen sie lernen kann. Soll das Internet ein Ort sein, der den öffentlichen Behörden mehr Kontrolle ermöglicht über die grundlegende digitale Infrastruktur, mit der europäische Krankenhäuser, Stromnetze und Universitäten betrieben werden? Dazu gibt es wertvolle Initiativen wie das deutsch-französische Projekt zum Aufbau einer gemeinnützigen europäischen Cloud namens Gaia-X. Kann das Netz ein Raum sein, der den Menschen viel mehr Kontrolle über ihre persönlichen Daten gibt? Sowohl die deutsche EU-Ratspräsidentschaft als auch die Kommission untersuchen gerade eine öffentliche Infrastruktur zur Onlineidentifizierung und -authentifizierung. Damit müssten die Bürger_innen bei der Nutzung einer Dienstleistung nur minimale Aspekte ihrer Identität mitteilen, anstatt jedes Mal, wenn sie sich für eine neue App registrieren, große Mengen persönlicher Daten preiszugeben.

Wenn all dies geschehen soll, wird ein neues Regulierungssystem erforderlich sein, aber auch noch viel mehr: Neben neuen Regeln muss die EU in die Art von Innovationen investieren, die sie gern verwirklicht sehen würde. Mit dem Corona-Wiederaufbaufonds, der jetzt freigegeben wird, besteht dazu eine echte Gelegenheit. Und wichtig ist auch, dass die Behörden entscheiden können, wie sie ihre Haushaltsmittel ausgeben, die immerhin einen erheblichen Effekt auf die Entwicklung der Märkte haben. Was wäre, wenn alle öffentlichen Einrichtungen, die über etwa 14 Prozent des EU-weiten BIP verfügen, Waren und Dienstleistungen nur noch von Unternehmen beziehen, die grundlegende Rechte wie dasjenige auf Privatsphäre respektieren und wenigstens minimale Transparenzstandards erfüllen? Das wäre gegenüber dem heutigen Zustand, wo die Regierung als offizielle Kommunikationskanäle soziale Medien nutzt, die durch eine krasse Missachtung der Gesetze aufgefallen sind, ein erheblicher Fortschritt.

Der Text wurde aus dem Englischen übersetzt.


Über den Autor

Justin Nogarede ist Referent im Bereich Digitales beim europäischen Think-Thank FEPS (Foundation for European Progressive Studies).


Die im Beitrag zum Ausdruck gebrachten Ansichten sind nicht notwendigerweise die der Friedrich-Ebert-Stiftung.

 

 

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